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Adieu, mein Freund und Bruder

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20. Dezember Ein Jahr und fünf Monate brauchte ich, um Lukas nach seinem Tod zu besuchen. Heute schien für mich der richtige Zeitpunkt des Abschieds gekommen zu sein. Pascal begleitete mich. Wir fuhren eine Stunde lang, bis wir den Ort fanden, an dem er begraben liegt. Als ich verwirrt inmitten des großen Waldes stehen blieb, ärgerte ich mich über Christina, die sich für diesen Friedwald entschieden hatte. Verzweifelt suchte ich jeden nummerierten Baumstamm nach Lukas’ Namen ab. Je näher ich ans Ziel kam, desto aufgeregter wurde ich. Plötzlich stand ich vor ihm. Es war ganz ruhig in mir und um mich herum. Das schmerzliche Begreifen erreichte nun nicht mehr nur meinen Verstand, sondern traf mich tief in der Brust. Sentimental betrachtete ich die zarte, kleine Metallplatte, an deren Ecke ein Herz aus Stein heftete. Keine Blumen, keine Kerzen, keine Bilder ... Trostlos und verlassen wirkte dieser Platz. Paschi trat hinter mich, das Laub raschelte unter seinen Schuhsohlen. Er nahm mich in die Arme und wir schwiegen für einen Moment. Dann nahm ich unsere Fotos und einen Brief aus meiner Tasche. Leise las ich Lukas vor, was ich ihm widmete: Geliebtes Bruderherz, seitdem du mich und das Leben verlassen hast, ist nichts mehr, wie es war. Dein Tod hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen, mein Herz in zwei tranchiert. Bitte verzeihe mir, dass ich dich nicht schon eher an deinem Grab besucht habe. Ich wollte und konnte einfach nicht glauben, dass du fortgegangen bist. Ich hatte nicht vor, mich von dir zu verabschieden, denn ich mochte nicht realisieren, dass es kein Wiedersehen mehr gibt. Meine Gedanken waren bereits dabei, dir in den Tod zu folgen. Nun aber muss ich meine übrige Stärke aus dem mickrigen Eimer des Überlebensmuts schöpfen und meine Vernunft zu fassen kriegen. Du hast mir gewunken. Mich aufgefordert, dir nachzukommen. Und du gabst mir genug Gründe, das zu tun. Für mich ist die Zeit jedoch noch nicht reif. Trotz aller Schwierigkeiten muss ich weiter. Ohne dich. Deine Probleme werden wohl kaum aufhören, mich zu beschäftigen. Nach wie vor wirst du mir fehlen und meine Gedanken besetzen. Ich stehe dennoch hier ... Und trete einen Schritt zurück in das Leben. In mein Leben, das ich so gerne mit dir geteilt hätte. Ich bemühe mich, keine weiteren Fragen zu stellen. Und bitte unterlasse es, diese in mir aufzuwerfen. Du hast eine Entscheidung getroffen, die deine war, aber nicht meine ist. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Glaube mir, eines Tages werde ich bei dir sein. Wenn es so weit ist, gib mir ein Zeichen. Ich werde dich suchen und finden. Bis dahin schenk mir die Zeit, die ich brauche. Und bestärke mich in meinem Willen, nicht aufzugeben. Für immer deine kleine Schwester und beste Freundin. Winselnd vergrub ich mein tränenverschmiertes Gesicht an Pascals Brust. Obwohl er Lukas nicht hat kennenlernen können, musste er mitweinen. Vor Aufbruch klemmte ich die Fotos mühsam hinter das Herz und sah ein letztes Mal in das lachende Gesicht meines Bruders. Es bekümmerte mich, dass er oftmals sarkastisch, abweisend und nähescheu war. Ich hätte ihn gerne mal so richtig innig umarmt. Er hingegen hatte es stets bevorzugt, mir kumpelhaft auf die Schultern zu klopfen. Eigentlich weiß ich recht wenig über ihn und seine Gefühlswelt. Nun ist es zu spät dafür, mehr in Erfahrung zu bringen.

REISE OHNE ZIEL

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