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Im Nimmerland

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8. Mai Muttertag. Susi und ich haben bis eben im Block House gegessen. Gespannt schaute ich ihr dabei zu, wie sie mein Geschenk auspackte, weil ich bereits wusste, wie sie darauf reagieren würde. Als sie „Mama, erzähl mir von dir: Das Erinnerungsbuch zum Ausfüllen“ von Alexandra Lennarz aufschlug und sich eine blondierte Strähne aus dem Gesicht wischte, schwollen ihre herzförmigen Lippen an. Sofort kullerten die ersten Tränen aus den schräg geschwungenen Katzenaugen. Gerührt fing ich ebenfalls zu weinen an, während sie mich zärtlich in ihre Arme schloss und seufzte: „Das ist eine wundervolle Idee, mein Püppilein. Ich danke dir vielmals.“ „Hab mir gedacht, dass du die Seiten mit Fotos beklebst. Da stehen diverse Fragen zu deinem Leben drin – einige, über die wir so noch nie gesprochen ham. Mich würd’s sehr freuen, wenn wir uns die Bilder und Antworten eines Tages gemeinsam ansehen. Das ist doch hübsch für dich und mich, nicht wahr?“ Natürlich gab es für mein Geschenk einen tieferen Grund, den ich zwar nicht zugeben wollte, weil ich zu Tode betrübt bin, sobald ich mir eine Vorstellung davon mache, den Mama aber sicherlich trotzdem erkannte: Die Tatsache, dass ich etwas ganz Persönliches von ihr haben möchte, das ich jederzeit zur Hand nehmen kann, wenn sie irgendwann Ade sagt. Es ist nur ein Gedanke. Ein Gedanke von vielen. Aber er lässt mich nicht los. 10. Mai Da ist sie wieder, diese seltsame Leere. Ich sitze draußen in Ottensens Reisebar – vor mir ein eisgekühlter Aperol Spritz, auf meiner Haut die brennende Sonne. Eigentlich könnte es mir nicht besser gehen zum Feierabend – manch einer hechelt danach. Und dennoch liegt der Schatten meines Selbst auf mir. Mit jedem vergehenden Tag legt er sich schwerer und schwerer auf mich, überdeckt meinen Körper ganz. Nur die Augen finden ihren Weg hinaus – bemerken beiläufig eine vorüberziehende, lebendige Masse, die unbeschwert und so viel fröhlicher zu sein scheint, als ich es bin. Dumpf verspüre ich die Emotionen Groll, Traurigkeit und Sehnsucht – wie kleine Kinder zupfen sie an meinem Ärmel, kneifen mir in den Bauch. Aber ich, die lieblose Mutter meiner hilflosen Kinder, strafe sie mit Ignoranz. Nehme lediglich das unangenehme Zwicken in der Magengrube wahr und bestelle einen weiteren Drink, um das psychische und bald auch das physische Leid abzutöten. Wenigstens für heute. Ich trinke weder aus Genuss noch aus Freude. Längst weiß ich, dass der Alkohol es nicht schafft, mich zu erheitern oder gar zu erleichtern. Zu sehr zermartert mich die Frage, was ich an dem langen, mir bevorstehenden Abend anstellen soll. Eben holte ich einen Roman aus meiner Tasche, keine zwei Minuten später steckte ich ihn wieder ein. Nein, ich habe keinen Bedarf, mich zu verabreden. Ich bringe ohnehin kaum ein Wort heraus. Und wenn, dann kann ich mir selbst dabei zusehen, wie fremd ich mir beim Sprechen bin, wie oberflächlich interessiert ich zuhöre, während ich mich eigentlich ganz woanders aufhalte – weit weg, irgendwo im Nimmerland der Tristesse ... Ich vermisse die Vergangenheit, in der überhaupt nichts besser war. Trotzdem glaube ich daran, will daran glauben, weil mich die Vorstellung einer erträglicheren Zukunft noch weniger überzeugt. Ich möchte etwas verändern, aber wie? Die ständigen Gedanken haben mich eingekesselt, bilden einen engen Kreis um mich herum. Zahlreiche Versuche auszubrechen blieben erfolglos. Erst bettelte, schrie, trat und schlug ich. Inzwischen sitze ich zusammengekauert in der Mitte – ergeben, still, den Kampf müde, so unendlich müde. Ich ertrage mein Dasein, ja, das Herz schlägt noch, ich atme. Es beruhigt mich, dass man durch die dunklen Sonnenbrillengläser nicht erkennen kann, wie ausdruckslos und tot ich ins Nichts blicke – durch die Menschen hindurch. Ich komme mir unbedeutend vor zwischen all den anderen. Ist’s nicht auch so? Das zeichnet unsere Gesellschaft aus ... Anonymität, fehlende Intimität. Das ist es, was uns einsam werden lässt. Wer dazu ohne schauspielerisches Talent geboren wurde, der wird einen Saal ohne Publikum antreffen. Ich würde gern eine Farce inszenieren können. Hab jahrelang an ihr gearbeitet. Obwohl es mir gelingt, sie aus dem Effeff runterzurattern, wirkt sie in ihrer Darstellung nicht authentisch. Das wundert mich nicht, schließlich kaufe ich mir die Rolle selbst nicht ab. Es sind die Tragödien, in denen ich ich bin. Weil sie mich auszeichnen, nein, mich beschlagnahmen. Ich wollte Regisseurin oder Autorin werden, meine Geschichten umschreiben. Geschichten aber, die meiner Phantasie entsprangen, waren nie ehrlich. Sondern ebenso aufgesetzt und künstlich wie die lächerlichen Witzfiguren, die ich spielte. Vielleicht wäre ich für einen Zirkus geeignet. Als ’ne Art Attraktion; ich erinnere mich an diese Harlekine. Alles, was die Leute sehen, ist das, was sie sehen wollen: die rot gemalte, freundliche Fratze. Vor der schwarzen, träufelnden Träne erblinden sie. Ich möchte die Zeit zurückdrehen können – mit dem Wissen von heute. Ich würde einiges anders machen. 15. Mai Gestern waren Pascal und ich bei den Deichtorhallen im „Haus der Photographie“, um uns eine Ausstellung von Ken Schles, Jeffrey Silverthorne und Miron Zownir anzuschauen. Die Bilder erschrecken und provozieren, da sie sich auf radikale, laszive und tabuisierte Weise mit Themen wie Liebe, Identität, Gewalt und Tod beschäftigen. Am stärksten fand ich die Porträts von Transsexuellen – Silverthornes Fähigkeit, hinter die Fassaden und in das Seelenleben der Charaktere zu blicken, ist einzigartig und herausragend. Paschi teilte meine Faszination leider nicht. Als ich glückselig von der Inspiration der Werke schwärmte, machte er die nüchterne Bemerkung: „Das war das erste und letzte Mal, dass ich mir so was angesehen habe. Ist doch total sinnlos, irgendwelche Gesichter zu fotografieren.“ Seine Aussage brüskierte mich. Immer häufiger fällt mir auf, dass wir eigentlich überhaupt nicht zueinanderpassen. Langsam bekomme ich eine Ahnung davon, dass sein Horizont weit, weit unter dem meinen liegt und bezweifle, dass er jemals auch nur ein Buch zu Ende gelesen hat. Wir können uns weder über Kunst noch Literatur austauschen. Und wenn ich ihm euphorisch von meinen Erfahrungen aus’m Praktikum berichte, begegnet er mir mit Unverständnis: „Ich kann dir jetzt schon sagen, dass du spätestens in drei Jahren keine Lust mehr darauf hast, von crazy people umgeben zu sein! Warum interessierst du dich für die Schicksale dieser Frauen? Die sind krank, denen kann eh keiner helfen!“ Wir haben uns stetig weniger zu sagen. Wir schlafen zwar wieder miteinander, aber meistens fehlt’s mir an Verlangen. Ich besuche ihn kaum mehr in seiner Wohnung, weil es nach vergammeltem Müll und abgestandenem Rauch riecht, und weil ich mich in seiner Bude unwohl fühle – seine Einrichtung ist mir zu simpel, zu karg, zu undekorativ. Ebenso gut könnte ich auf das Übernachten an den Wochenenden verzichten. Pascal hustet andauernd und rotzt seinen Schleim ins Waschbecken – das widert mich an. Das Geld übrigens, das ihm bereits vor Wochen von Steffen versprochen wurde, hat er nicht erhalten. Jedes Mal, wenn die beiden vorhaben, zur Bank zu fahren, wird Paschi versetzt und mit neuen Ausreden vertröstet. Mit der Ausbildung in Wiesbaden hat’s sich inzwischen ebenfalls erledigt, und Steffen wird nicht an Lungenkrebs sterben – die Tumore sind behandel-, wahrscheinlich sogar heilbar. Ich hab gewusst, dass an dem Geschnacke was faul ist, aber davon wollte mein naiver Prolet ja nix hören. Daher geschieht’s ihm ganz recht, wenn er nun Stress mit seiner Exfrau und den Insolvenzgläubigern hat. Was verspricht er denen auch Kohle, über die er gar nicht verfügt?! Er spürt, dass ich mich von ihm abnabele, unternimmt allerdings auch nüscht dagegen, obwohl ich oft genug kommuniziere, er vertue jede der Chancen, die er von mir kriege. Anstatt Einsicht zu zeigen, kritisiert er, die fünfminütige Busfahrt zu mir sei eine halbe Weltreise und ihn kotze an, dass wir nicht zusammenwohnen würden. Er verfehlt die eigentlichen Probleme, die sich fortlaufend wiederholen, und macht mich zum Prügelknaben. Heute besuchten wir auf der Reeperbahn ’nen Sexshop – angeregt durch mich, die ich auf das Ausprobieren von Toys neugierig war. Pascal plierte lechzend auf einen der in mir Würgereiz auslösenden Analclips, der ’n dickes Weibergesäß zeigte, aus dessen glattrasiertem Anus milchiges Sperma troff. „Meine Exfreundinnen bettelten darum, von hinten genommen zu werden“, protzte er enthusiastisch und bemäkelte abfällig: „Schade, dass du mir das niemals wirst bieten können!“ Es langt! Ich bin fest entschlossen, die Beziehung schnellstmöglich zu beenden. Aber zuerst muss ich mir ein Netzwerk aufbauen – mit meinen Freundinnen Debora und Charly stehe ich immerhin wieder in engem Kontakt. Es freut mich, dass Debora mir trotz des seltenen Sehens (höchstens an unseren Geburtstagen) erhalten bleibt. Wir schreiben oft – sie schickt Bilder ihres Enkelkindes, geht in der Rolle als Oma auf und ist nach wie vor happy mit ihrem halb so alten Freund.

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