Читать книгу REISE OHNE ZIEL - Nina Heick - Страница 15
Ausnahmezustand
Оглавление4. Januar 2016 Mein Ergebnis beim Bleigießen Vorsicht Hinterhalt! Bleiben Sie standhaft, und halten Sie nicht an ausweglosen Dingen fest wird jetzt mein Motto für dieses Jahr. Silvester verlief zu meiner Erleichterung reibungslos. Paschi und ich tranken mit Steffen vor, jagten ein paar Böller ins All und sahen uns das bunte Feuerwerk an. Nach Mitternacht zogen wir zu zweit weiter ins Waagenbau und verschmolzen im Rausch elektronischer Klänge. Durch das Speed, das wir reichlich gezogen hatten, waren wir aufgedreht. Zwischendurch wurden wir von kleinen Tiefs eingeholt, in denen wir spürten, dass unsere Energie nachließ und die Glieder erschlafften. Ich wollte und konnte aber nicht aufhören zu tanzen und bemühte mich, Paschi mit meiner Ausdauer anzustecken. Das war nicht einfach, daher lästig. Außerdem behielt er mich so penetrant im Blick, dass ich mich gezwungen fühlte, ihm ständig demonstrieren zu müssen, ja nicht mit anderen zu flirten und ausschließlich Augen für ihn zu haben. Immerhin feierten wir bis 7 Uhr durch und spazierten zum Ausnüchtern bei Morgengrauen ’ne halbe Stunde heim. Wir befanden uns in diesem widerlichen Zustand, in dem man zu munter zum Einschlafen und zu kaputt für Unternehmungen ist. Apathisch glotzten wir an die Decke. Der Kopp wummernd, das Herz rasend, die Beine wippend. Wir schauten einen Film nach dem anderen, stopften appetitlos die Pappmäuler, kuschelten und entschlossen wehmütig, den Rest des Scheißzeugs in den Abfluss zu schütten – uns einig darüber, dass Amphetamine auf Partys nicht zur Gewohnheit werden sollten, nur um unserer Beziehung den gewünschten Kick zu verpassen, der ihr fehlt. Das hätten wir schon längst tun sollen. Mit meinem Knacks ist das grad zu heikel. Der Konsum ist nämlich eine wunderbare Methode, mich und meine Gedanken auszuradieren, was wiederum das psychische Abhängigkeitspotenzial erhöht. Hinzu kommen zwei positive Nebeneffekte: Gewichtsverlust und meist ausbleibende Übelkeit bei größeren Mengen Alkohol. Die vertrage ich sonst wegen meiner Magenschleimhautentzündung nicht. Den Tag darauf waren wir noch immer benommen und völlig übermüdet. Wir gingen Kaffee trinken und ins Kino. Anschließend landeten wir wieder vor der Flimmerkiste. Plötzlich erhielt ich eine unerfreuliche Nachricht von Charly – in Bezug auf ein Thema, von dem ich dachte, es würde sie nicht weiter beschäftigen. Dem war bedauerlicherweise nicht so. Denn Charly, die ich kürzlich in Begleitung meiner und ihrer Freunde im Peter Pane in der Langen Reihe getroffen hatte, was wegen irgendeines dummen Missverständnisses wieder in kreischendem Desaster geendet war, schrieb: „Deine Worte, du stoßest an deine Grenzen mit mir, ich sei dir und deinen Leuten zu krass, haben mich extrem verletzt. Damit hast du meinen wunden Punkt getroffen und mir das Gefühl vermittelt, nicht zu und hinter mir zu stehen. Das zieht mich runter. Es ist nicht mein Ding, mich mit dir allein zu treffen. Ob wir uns an Silvester sehen, hast du mich auch nicht gefragt. Ich häng an dir, aber komm nicht mehr klar.“ Meine Antwort: „Ich habe dich nicht nach Silvester gefragt, weil ich bereits wusste, dass du nicht mit ins Waagenbau kommen würdest ...“ Ich habe sie aber auch deshalb nicht gefragt, weil ich sie schützen wollte. Sie hat eine lange Suchtvergangenheit hinter sich und kann’s nicht ab, wenn jemand aus ihrem Bekanntenkreis konsumiert. „... Mir war’s stets lieber, dich allein zu treffen, um dich genießen und dir zuhören zu können ...“ Darüber hinaus nervte mich, dass sie ständig neue, kaputte Gestalten aus irgendwelchen Facebook-Krisengruppen mitbrachte, mit denen ich nichts zu tun haben mag. „... Ich hab mich immer bemüht, dir eine gute Freundin zu sein, indem ich dir bei deinem Kummer regelmäßig Ratschläge gab. Ich denke, dass jeder seine Grenzen hat, die er wahren sollte, wie auch ich deine respektiere. Du hast mich nicht selten ebenfalls mit deiner offenen und direkten Art verletzt. Dennoch ist’s wichtig, ehrlich zu sein. Ich war ehrlich zu dir, du bist aber nicht ehrlich mit dir selbst. Für mein Empfinden bist du zu problematisch, als dass ich stark genug sein kann, all deine Lasten aufzufangen. Ich habe oft den Eindruck, dass ich dir keine Hilfe bin, weil du meine Hilfe nicht annimmst. Ich bin sicher, dass du selbst weißt, dass die Wege, die ich dir für dein Wohl aufzeige, ein Schritt in die richtige Richtung sind. Nur du kannst für dich herausfinden, welchen Weg du einschlagen möchtest. Noch fühlst du dich nicht bereit, dich damit auseinanderzusetzen. Du willst die Wahrheit nicht sehen, weil sie ein Stück weit wehtut, dir lästig und zu anstrengend ist. Du hast Recht, du bist mir und meinen Leuten zu extrem. Die Konstellation passt nicht, weil sie unterschiedlicher gar nicht sein kann. Dagegen ist es falsch zu behaupten, dass ich nicht zu dir stehe. Ich habe dich jedem meiner Bekannten und Partner vorgestellt. Deine Nachricht macht mich traurig. Aber vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir uns nicht mehr guttun und eine Pause einlegen sollten.“ Mit extrem meine ich weniger Charlys Erscheinungsbild, das zugegebenermaßen auch recht heavy ist für eine Enddreißigerin – Gothicgarderobe, Tattoos am ganzen Körper, Irokesenschnitt, aufgemalte Augenbrauen und künstliche Wimpern –, sondern ihre rabiate, nicht selten vulgäre Ausdrucksweise. Und ihre psychischen Krankheiten (chronisches Erschöpfungssyndrom, Depression und Borderline), die meinen zwar ähneln, die sie jedoch so stark einschränken, dass sie sich zu fast nichts mehr fähig fühlt. Charly fasste meine Worte als Kritik, mit ihr stimme was nicht, auf. „Du kannst mir nicht einerseits deine Probleme aufbürden, andererseits erwarten, dass ich diese unkommentiert lasse. Du fragst mich nach meiner Meinung, aber meine Meinung gefällt dir nicht“, wies ich sie in ihre Schranken. Es hatte keinen Sinn, weiter darauf einzugehen. Vermutlich war sie aus dem Grund emotional geladen, da sie schon Weihnachten alone verbringen musste. Sie hatte gerade einen Typen kennengelernt, vor dem ich sie warnte, nicht zu voreilig zu sein; nicht gleich ihre ganze Geschichte auszupacken und ihm zu erzählen, sie leide unter Näheängsten, Panikattacken und Zwängen (dem Drang, Spiritus zu saufen, beispielsweise). Oder ihm gar beim zweiten Date zu gestehen, sich in ihn verliebt zu haben, obwohl sie eher „verkehrtherum“ als bi sei. Sie handelte genau entgegengesetzt, woraufhin er das Interesse verlor, was sie arg kränkte. Mit Pascal sprach ich noch ’ne Weile darüber. Ich weinte, weil mich Diskussionen solcher Art auslutschen. „Weißt du, als junges Mädchen hab ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als eine beste Freundin zu haben. Ich kenne Charly inzwischen seit neun Jahren. Das wirft man doch nicht einfach wech ... Aber seit sie nur noch durchhängt und es nichts als ihre Lebenskrisen zu besprechen gibt, bin ich mit meinen Kräften am Ende. Sobald ich mal mein Herz ausschütten möchte, blockt sie ab. Alles ist ihr zu viel. Sie schafft es nicht, ein Ohr für mich offen zu halten, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Ich kann’s ihr nicht verübeln, sie trägt keine Schuld an dem, was ihr widerfahren ist. Wegen der Folter und dem sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater, vor dem ihre Mutter die Augen verschloss, wird sie wahrscheinlich niemals richtig gesund werden. Wie aber will sie wenigstens ein büschen an sich arbeiten, wenn sie jeden Klinikaufenthalt abbricht und nicht lernt, einen routinierten Alltagsablauf zu bewältigen? Es ist, als hätte ich eine Klientin zur Freundin. Nur dass es deutlich schwerer ist, sich in dieser Beziehung abzugrenzen. Ich brauche neben der Sozialen Arbeit einen leichteren Umgang mit Menschen in meiner Freizeit. Im Grunde genommen schade ich mir selbst, solange ich krampfhaft versuche, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Ich hätte sie vielleicht schon auf Eis legen sollen, will aber nicht noch jemand von denjenigen sein, die Charly verloren hat. Ihre Enttäuschung und unsere Angst, irgendwann einmal niemanden mehr zu haben, binden mich an sie. Ich muss akzeptieren, dass ich sie nicht retten kann.“ Gestern heulte ich wieder. Paschi und ich gammelten vor uns hin. Es war schön, außer Streicheln einfach mal nichts zu tun. Nicht immer ertrage ich das, weil ich dann meine, mich sinnvoller beschäftigen zu müssen. Später rafften wir uns auf, wenigstens eine Kleinigkeit essen zu gehen. Es war viel zu kalt draußen für etwas Spektakuläres. Im Anschluss kam er noch kurz mit zu mir. Der Abschied nahte. Diesmal war er es, der den Abend gern ohne mich verbringen wollte. Eigentlich null Thema ... Wäre da nicht spontan diese Furcht aufgetaucht, einsam mit mir zu werden. Er verließ mich und ich badete in Tränenseen – in dramatischer Überzeugung, er würde mir entgleiten und ich ihn dabei nicht aufhalten können.