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Prostitution und Drogen
Оглавление16. Januar Die Arbeit mit drogengebrauchenden Prostituierten gefällt mir. Ich bereue den Wechsel der Praktikumsstelle nicht. Ungünstig ist jedoch, dass sich seither mein Essverhalten verschlechtert hat. Im Schnitt sind’s nun zwei bis drei Rückfälle pro Woche. Ursache: Hier steht noch mehr Futter rum. Demnach mampfen meine Kolleginnen und ich rund um die Uhr. Hoffentlich pendelt sich demnächst ’ne Reduzierung ein. Phasen, in denen es weniger zu tun gibt, bin ich ebenfalls ausgesetzt. Immerhin bieten sie die Möglichkeit, Kontakt zu den Klientinnen aufzunehmen, weil wir innerhalb der Schichten durchgehend geöffnet haben. Ich scheine gut von den Besucherinnen angenommen zu werden. Im Weiberteam bemerke ich hin und wieder Zickenkrieg, sobald die Damen unterschiedlicher Meinung sind oder sich nicht besonders gut leiden können. Als Außenstehende kommt es mir manchmal so vor, als wenn sie der betonten Wichtigkeit eines respektvollen Umgangs nicht gerecht werden. Vordergründig sind sie aber nett, humorig und mütterlich fürsorglich. Ich fühl mich wohl in der heimeligen Atmosphäre. Das Begegnungscafé erinnert an ein gemütliches Wohnzimmer. Zu den Angeboten zählen unter anderem die Nutzung eines Konsumraums, medizinische Versorgung, Vermittlung in weiterführende Behandlungen (Therapie und Substitution), Aufklärung zu safe use und safe sex, aufsuchende Straßensozialarbeit (Straso) und Freizeitliches (Gesellschaftsspiele, Ausflüge, Zeitung- und Buchlesen, Raum zum Entspannen und Ausschlafen). Meine Tätigkeiten bestehen bislang aus: Frühstücks- und Abendbrotbuffetzubereitung, Ausgabe von Kosmetika und Handtüchern fürs Duschen, protokollieren der Tagesereignisse, aufräumen, klönen, zuhören, mitfühlen, trösten, erkennen besonderer Verhaltensauffälligkeiten und überall abrufbar sein. Darüber hinaus kann ich mich kreativ austoben und die Klientinnen zum Basteln motivieren. Die Frauen, die hierherkommen, sind zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Recht jung also, was ich tragisch finde. Ihre Anliegen könnten individueller und vielseitiger nicht sein. Probleme, Fragen oder Themen wie Mode, Beziehung, Trennung, Scheidung, Schwangerschaft, Verhütung, Krankheiten, Menstruation, Schulden, Entzug oder einfach nur das Bedürfnis nach Hilfe beim Bettenbeziehen. Es entwickeln sich spannende, erschütternde, traurige und lustige Gespräche. Auf der Straso darf ich in ein paar Wochen mitlaufen. Es gibt Früh-, Spät- und Wochenenddienste. Besonders abends und nachts ist der Trubel groß, weil dann am meisten „angeschafft“, aber auch vor der Polizei, die permanent Bußgelder verhängt, geflüchtet wird. Die hiesige Straßenprostitution im Sperrbezirk in der Nähe der Drogenszene ist nämlich eine Ordnungswidrigkeit. Zu meinem Schutz muss ich mich demnächst gegen Hepatitis A und B impfen lassen. Dass jede meiner Kolleginnen in ihrer jahrelangen Berufslaufbahn mindestens einmal von ’ner Nadel gestochen wurde, bereitet mir ein mulmiges Gefühl, obwohl sich keine von ihnen mit HIV ansteckte. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei circa 0,3 Prozent. Sicherheitshalber erhielt ich eine kurze Einführung, wie man sich im Fall X zu verhalten hat. Es war komisch, so nah mit den benutzten Spritzen in Berührung zu kommen. Die Klientinnen können ihr zu entsorgendes Besteck eins zu eins gegen neue, sterile Tanks und Kanülen verschiedener Dicke und Länge tauschen. Dafür legen sie ihr Zeugs auf den Stahltisch oder schmeißen es direkt in die vorgesehenen Container und erhalten zusätzliches Zubehör – Einweglöffel/Pfännchen, Filter, Ascorbinsäure, Alkoholtupfer und Pflaster. Ich fasse die gebrauchten Spritzen zwar, wenn überhaupt, nur mit Latexhandschuhen an, nichtsdestotrotz muss ich mich an die Handhabung und das Tropfen des Bluts auf die Ablage gewöhnen. Die Frauen sollen den Konsumraum, in dem sie ihre mitgebrachten Substanzen injizieren, schniefen oder paffen (Heroin vs. „Shore“ auf Folie/„Blech“ rauchen, Kokainsalz-Natriumhydrogencarbonat-Gemisch als Crack/„Stein“ in der Pfeife), nutzen, um unter Beaufsichtigung einer Sozialarbeiterin oder Krankenschwester eine Überdosis und Infektionen zu vermeiden. Weil mir „Fixerstuben“ bereits aus anderen Stellen bekannt sind und ich hautnah beim Pumpen dabei war, weiß ich, womit ich in etwa zu rechnen habe. Entgegen dem, was man aus Filmen kennt, ist bei den wenigsten ein „Trip“ zu bemerken. Viele konsumieren in erster Linie, um ihre schmerzhaften Entzugserscheinungen zu lindern. Bei etlichen sind die Venen so stark verhärtet, dass sie sich in Lende, Oberschenkel, Fuß, Hand oder Hals stechen müssen. Wirklich abschreckend ... Unseren Besucherinnen dienen die Drogen darüber hinaus als Strategie, Ängste und Erinnerungen zu kompensieren und die „Hurerei“ erträglicher zu machen. Wie gerät man überhaupt in die Falle von Drogen und Prostitution? Wirklich alle, die uns aufsuchen, wurden in ihrer Kindheit oder im weiteren Verlauf ihrer Biografie Opfer von sexuellem Missbrauch. Die Hälfte ist wohnungs- und erwerbslos, ohne Schulabschluss oder Ausbildung und stark traumatisiert. Es mag sein, dass belastende Lebensereignisse (Vernachlässigung, Verwahrlosung, erfahrene Gewalt, Abhängigkeit in der Familie, Heimunterbringung und Beziehungsabbrüche) Drogensucht begünstigen. Der regelmäßige Konsum ist kostspielig und kann, muss aber nicht, in die Sexarbeit führen. Bis ich hier angefangen habe, hatte ich ein total anderes Bild von Prostituierten im Kopf. Und zwar das der gepflegten, aufreizenden, „selbstbewussten“ Professionellen im Rotlichtmilieu, die für das Teilen ihrer Einnahmen von Zuhältern „beschützt“ werden, ihrer Tätigkeit „freiwillig“ nachgehen und sie als Gewerbe anmelden. Unseren Klientinnen dagegen sieht man die Folgen des Konsums an. Sie wirken oft scheu und in sich gekehrt. Für sie schien die Sexarbeit ehemals bestimmt eine vielversprechende Option zu sein, ihr Leben „frei“ gestalten und schnell Geld verdienen zu können. Dass sie nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele verkaufen und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden würden, davon hatten sie wahrscheinlich keine Ahnung. Ungeachtet dessen, dass Prostitution prinzipiell ein Tabuthema ist, das verurteilt und abgewertet wird, sind unsere Frauen gleich doppelt stigmatisiert. Durch die Sexarbeit selbst und den Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Für sie ist die sogenannte Beschaffungsprostitution, die sie verleugnen, lediglich ein Mittel zum Zweck, um Drogen, Essen und einen warmen Schlafplatz zu finanzieren. Diese Notlage lässt sie die Preise brechen und liefert sie den Forderungen ihrer Freier aus, die das schamlos als Gelegenheit für ihre ekelhaften Neigungen und perverseste Praktiken ausnutzen. Es ist unfassbar, was die Frauen – zum Teil an abgelegenen Orten – über sich ergehen und wie sie sich erniedrigen lassen müssen. Aufgrund der Befürchtung, außerhalb der Szene zu scheitern, ist der Ausstieg für Betroffene enorm schwer, schier unmöglich. Mich wundert nicht, dass eine von unseren Klientinnen ihrer grauenhaften Erfahrungen wegen akut selbstmordgefährdet ist. Derweil wird darüber diskutiert, ob wir das Risiko, dass sie sich in der Einrichtung umbringen könnte, eingehen sollten.