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Letzte Schicht

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16. Juli Vergangenen Mittwoch fand im Team der Abschied von meinen Kolleginnen statt. Während ich mich unter schlotternden Knien auf meine Ansprache vorbereitete (ich halte überaus ungern Reden vor größeren Zuschauergruppen), waren die Blicke neugierig auf mich gerichtet. „Ich möchte mich herzlichst für die spannende und abwechslungsreiche Zeit bedanken“, stotterte ich nervös und atmete tief ein. „Auch wenn ich zu Anfang häufiger in mich gekehrt gewirkt haben mag, da ich auf der einen Seite ohnehin ein Mensch bin, der neue Reize und Situationen erst mal beobachtet, für sich ordnet und reflektiert; auf der anderen Seite weil mir einige private Angelegenheiten Bauchschmerzen bereiteten, bin ich nun doch endlich hier warm geworden und bedaure, dass sich das Praktikum bereits dem Ende neigt. Ihr habt mich darin bestärkt und in meinem Entschluss sicherer werden lassen, nach meinem Studium weiterhin in der Drogenhilfe zu arbeiten, obwohl ich mit den wechselnden Diensten Schwierigkeiten hatte, wo mir persönlich Struktur enorm wichtig ist. Dennoch war’s ’ne tolle Erfahrung. Ich hab ’ne kleine Überraschung für euch und die Klientinnen.“ Lächelnd kramte ich in meinem Beutel und präsentierte meine Geschenke. „In dieser Schachtel befinden sich fünfzig Lebensweisheiten, von der jede Frau sich eine mit auf den Weg nehmen soll. Hoffentlich könnt ihr meine Schrift lesen. Außerdem hab ich euch eine Collage aus den schönsten Fotos der Jahresfeier zusammengestellt. Lasst uns anstoßen!“ Als für mich geklatscht, die Gläser erhoben und das Lied „Viel Glück und viel Segen“ im Kanon gesungen wurde, fing ich ergriffen zu weinen an. Wir umarmten einander, und von meiner Anleiterin erhielt ich schwarz auf weiß meine Beurteilung, über die ich mich sehr freute: Frau Rickert hat die vielfältigen und unterschiedlichen Aufgaben verantwortungsbewusst und zuverlässig erfüllt. Sie baute im Verlauf gute Kontakte zu den Besucherinnen auf und konnte Vertrauensverhältnisse herstellen. Ihre Vorgehensweise war dabei geprägt von einer akzeptierenden Haltung und Wertschätzung. Sie bewies sowohl Empathie als auch die notwendige Distanz. In schwierigen Situationen verhielt sie sich umsichtig und traf sichere Entscheidungen. Im Team zeigte sie sich interessiert und kollegial, lernte eigene Erfahrungen aus der praktischen Arbeit einzubringen und hieraus Handlungskonzepte abzuleiten. Überdies brachte Frau Rickert eine hohe Bereitschaft und Fähigkeit ein, Informationen und Kenntnisse aufzunehmen, zu verarbeiten und daraus Lernfortschritte zu machen. Eine besondere Bereicherung war für die Kolleginnen ihre kreative Mitarbeit in der Vorbereitung unserer Jahresfeier und bei der Gestaltung von Aushängen und Piktogrammen für unsere Besucherinnen. Meine letzte Schicht verlief nicht weniger anrührend. Diversen Klientinnen standen die Tränen in den Augen, als sie mich fest an sich drückten. Dass sogar eine, die sonst eher barsch und unnahbar ist, mein Aufhören sanft bedauerte, ging mir mega unter die Haut. „Ey, Vic ... das find ich echt mies, dass du gehst“, raunte sie burschikos heiser – Kaugummi schmatzend, mich leger breitbeinig anschielend. „Du bist ’ne Coole, ich hab dich irgendwie lieb gewonnen. Und du bist jemand, der sich ehrlich interessiert, der sich so schnell nich’ verschrecken lässt. Mit Praktikantinnen konnt’ ich bisher überhaupt nix anfangen, aber für mich warste schon ’ne vollwertige Sozialarbeiterin.“ „Ich hab dich auch lieb gewonnen und finde, dass wir gut miteinander ausgekommen sind, oder?“, grinste ich zur Aufmunterung. „Es würde mir Freude bereiten, dir mal wieder wie damals zufällig über den Weg zu laufen!“ Sie nickte zustimmend und zerkrümelte den Tabak in ihrem Schoß, um sich ’ne Fluppe zu drehen. Indessen glaubte ich zu wissen, wie sehr sie meine Worte, die ernst gemeint sind, schätzte, weil sie sich oft darüber beklagte, sie komme sich auf der Straße, in Bus und Bahn wie Abschaum vor, über den schlecht hergezogen und von dem sich angeekelt abgewendet werde, da sie halt ’n „Scheißjunkie“ sei. Das Highlight des Abends war ein Anruf von Rawina. Zehn Tage zuvor hatte ich ihr erzählt, welche Gedanken, Fragen und Interpretationen mich zu ihrem Verhalten beschäftigten, und versuchte, sie darin zu motivieren, erneut einen Entzug und ’ne Therapie zu machen. Sie reagierte ablehnend und kokettierte in ihrer galgenhumorigen Art mit Selbstmord. Ich hab ihr meine Hand aufs Bein gelegt und sie angefleht: „Rawina, du bist gerade mal Mitte vierzig. Das ist kein Alter zum Sterben. Denk doch mal an Murmeline, deine Mutter ... und mich, die ich ebenfalls um dich trauern würde. Wenn du die Chance nicht dir zuliebe nutzt, dann tu’s wenigstens für die, denen du wichtig bist.“ „Das bringt eh nüscht mehr!“, hat sie dreckig lachend gelallt, woraufhin ich ihr erbost und knallhart ins Gesicht warf: „Dann nimm dir doch das Leben, wenn du meinst, es lohne nicht, dafür zu kämpfen!“ Von da an war sie nicht mehr aufgetaucht und nun hörte ich sie am anderen Ende der Leitung leise sagen: „Nö, ich hab dich nicht vergessen, Vici. Wollt’ mich mal eben von dir verabschieden. Persönlich wäre na logo schöner gewesen, aber ich meide die Szene gerade, um nicht einzuknicken. Bin nämlich seit unserem letzten Gespräch trocken!“ Ich traute meinen Ohren kaum, bekam Gänsehaut vor Stolz und Glück und zog mit geschlossenen Augen einen Spruch aus der Box, den ich ihr vorlas und der besser nicht hätte passen können: Nichts muss so sein, nur, weil es immer so gewesen ist. Aus eigener Erfahrung ist mir natürlich klar, wie hart Rawina zu fighten haben und Rückschläge erleben wird – da mache ich mir überhaupt nichts vor. Dennoch ist der Ansatz ein Schritt in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass sie es schafft, ihr Ziel eines Tages zu erreichen. Ich werde noch oft an sie denken. Dass ich meine Anleiterin schließlich davon überzeugen konnte, mir und meinem Umgang mit Rawina zu trauen, dessen bin ich sicher. Ihr ehemaliger Verdacht, ich könne durch die Parallelen in meinem Leben getriggert werden, hat sich nicht bestätigt. Stattdessen bin ich zu der Erkenntnis gekommen, keine Vergleiche zwischen meinen und den Erlebnissen der Klientinnen anzustellen. Hin und wieder fielen mir zwar ein paar Gemeinsamkeiten auf – dann aber spürte ich, mich in die unterschiedlichen Lebenslagen und Krisen hineinversetzen zu können, ohne dabei die eigenen aufkommen zu lassen. Es war so, als würde ich bemerken: „Ja, ich weiß, wovon du sprichst, was du gerade fühlst und denkst.“ Oder: „Ja, das ist mir nicht fremd, weil auch ich Ähnliches durchmachen musste.“ Als würde dieses Wissen meine Handlungsorientierung leiten – meine Beratung beeinflussen, mir passende Ratschläge auf die Zunge legen. Woran ich in der Hinsicht zukünftig arbeiten möchte, ist, dass ich das, was mir gerade durch den Kopf schießt, nicht übereilt ausspreche und auch sonst meine Karten nicht offenlege, um der beruflichen Professionalität gerecht zu werden. Andererseits seh ich’s genauso als meine Stärke an, zu einem kleinen Maß an Transparenz zu stehen, da es für die Besucherinnen von Vorteil sein kann zu wissen, jemanden vor sich zu haben, der bestimmte Abläufe in ihrer Komplexität praktisch, nicht nur theoretisch nachvollziehen kann. Was mir wiederum konstant mehr zu schaffen machte, waren die Unstimmigkeiten, Konflikte, gewisse Ansichten und Strukturen innerhalb des Teams. Nicht selten vernahm ich Spannungen zwischen den Kolleginnen, weil sie sich in ihren Meinungen uneinig waren, und fand, dass sie der betonten Wichtigkeit eines respektvollen Miteinanders nicht immer gerecht wurden. Vielleicht aber sah das auch nur ich als Außenstehende so. Darüber hinaus widerstrebten mir die erteilten Hausverbote bei Regelverstößen, die nicht selten damit begründet wurden, lernen zu müssen, sich erwachsen zu verhalten. Selbstverständlich braucht jede Einrichtung Regeln, dennoch kam’s mir als „Neue“ hie und da vor, als ob’s vereinzelt an pädagogischer Auseinandersetzung mit der Ursache des Problems fehlte, zumal ich ein Hausverbot als kaum hilfreich erachte, wo man’s doch in der Sozialen Arbeit in erster Linie mit Klienten zu tun hat, die eben überwiegend keine Erziehung, keine Regeln und keine Selbstbeherrschung erfahren und somit auch nicht gelernt haben, sich „erwachsen“ zu verhalten. Des Öfteren wirkten einige meiner Kolleginnen ebenfalls unglücklich mit solchen Bestrafungsmaßnahmen – daher würde es mir gut gefallen, wenn man individuellere Alternativen finden könnte. An der Straßensozialarbeit hätte ich gerne schon viel eher teilgenommen, aber das war mir leider nicht erlaubt. Wie diese konkret verläuft und was sie ausmacht, kann ich jetzt endlich berichten: Es gibt kurze (eine Stunde) und lange (vier, fünf Stunden) Strasos. Die lange bietet Raum für ausführlichere Beratungsgespräche und Kriseninterventionen. Dass man als Praktikantin erst sehr spät mitdarf, liegt daran, dass wir die Frauen first in den geschützten Räumen der Einrichtung kennenlernen und ihr Vertrauen gewinnen sollen, bevor wir als „Gast“ in ihre Lebens- und Arbeitsalltagswelt eintauchen. Bei der Straßensozialarbeit ist daher ausschlaggebend, wie man auf die Frauen zugeht. Es muss stets aufmerksam geschaut werden, ob unsere Kontaktaufnahme erwünscht oder unerwünscht ist. Nicht immer möchten die Frauen uns „sehen“, nur, weil sie uns kennen. Die Achtsamkeit gilt auch in Bezug auf andere Passanten: Wie ist das Polizeiaufgebot? Laufen unerkannte Zivis rum? Findet eine Anbahnung zwischen Sexarbeiterin und Freier statt? Diskretion und Anonymität sind gefragt – schließlich ist es nicht beabsichtigt, eine Frau bloßzustellen oder sie an ihrer Arbeit zu hindern. Als Straßensozialarbeiter muss man farblich gekennzeichnet sein, um sich so von anderen Straßensozialarbeitern zu unterscheiden. Meine Kolleginnen und ich trugen demzufolge einheitliche Jacken und rote Taschen mit „lebenswichtigen“ Utensilien, wie zum Beispiel Trinken (heiß und kalt), Snacks, Kondome, Gleitgel, Taschentücher, Sauerstoffmasken für den Notfall, Flyer von Einrichtungen, an die vermittelt wird usw. Mit neuen Frauen – also nicht unseren Klientinnen – kommt man über die Vergabe von Hygieneartikeln ganz passabel in Kontakt. Andere wiederum trauen sich nicht, die Einrichtung zu besuchen, weil sie sich nicht als Sexarbeiterinnen oder Drogenkonsumentinnen outen möchten. Abschließend kann ich zu meinem Praktikum sagen, dass mir die letzten Wochen am besten gefallen haben. Wenn ich meine Partnerschaft bereits früher beendet hätte, wäre die Arbeit wahrscheinlich leichter gewesen, da mich der Kummer zu stark eingenommen und abgelenkt hat. Des Weiteren leuchtet mir nun noch mehr ein, dass mein Essverhalten und meine Stabilität durch Krisen, neue und ungewohnte oder einengende Situationen in zwischenmenschlichen Beziehungen und im Beruf ins Wanken geraten. Damals hätte ich mir einen Job in Vollzeit wohl kaum zugetraut, wohingegen ich heute feststelle, dass ich mit Aktivität und Stress viel besser umgehen kann als vermutet. Der Druck im Vorhinein entsteht in meinem Hirn – ich bin es, die einen Berg erbaut, der erst mal nicht erklimmbar zu sein scheint und der mich vor Schreck passiv werden lässt. Zukünftig muss ich die Dinge einfach angehen. Die Dramatik kostet nicht nur Zeit, sondern auch Energie. Nichtsdestotrotz gehört sie zu mir und wird Teil meines Selbst bleiben. Die durch den Umzug entstandenen Schulden bei Mama sind fast abbezahlt, und ich bin stolz auf mich, seit Ende April insgesamt lediglich zweimal rückfällig geworden zu sein. Das ist ein Riesenfortschritt ... Die Kilos, die ich während meiner Arbeit zunahm, purzeln langsam und ohne Anstrengung. Vor mir liegen jetzt bis einschließlich September zweieinhalb Monate Semesterferien – genug Möglichkeit zur Selbstfindung. Obwohl es mich ein wenig ängstigt, von heute auf morgen zur Ruhe gezwungen zu sein, zumal ich befürchte, ich könnte die Trennung bereuen, bin ich gleichsam gespannt darauf, wie ich das, was mich erwartet, meistere. Mein Leben kann gar nicht falsch sein, denn es ist meins!

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