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Der Dominoeffekt

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17. Dezember Kürzlich hat meine – keine Idee wievielte – Therapie begonnen. Das war auch dringend nötig nach diversen traurigen und geißelnden Umständen, die mich wie beim Dominoeffekt in einer Kettenreaktion zum Umfallen zwangen. Der Vater von Pascal, meinem Freund, erlitt letztes Jahr einen Herzinfarkt und lag vierzehn Tage lang im künstlichen Koma. Seither hat er Gedächtnislücken, Sprach- und Orientierungsschwierigkeiten. Dass Paschi sich auf den Verlust seines am meisten geliebten Menschen vorbereiten muss, nahm auch mich heftig mit und ließ aufs Neue den Kummer um Lukas’ Suizid erwachen. Mein Halbbruder (Sohn meiner leiblichen Mutter Christina) hatte sich im Juli 2014 kurz vor meinem 27. Geburtstag mithilfe eines rauchenden Holzkohlegrills im Badezimmer vergiftet. Ich konnte nicht verstehen, dass Lukas sich damals im Alter von zweiunddreißig gegen das Leben entschieden hatte. Wo Paschis Dad, fast sechzig, mit aller Kraft darum strampelte, seins zu behalten. Mir wurde klar, dass ich noch immer nicht wahrhaben wollte, dass Lukas tot ist, und mich strikt dagegen wehrte, Abschied zu nehmen. Wahrscheinlich trugen das Verdrängen und die fehlende Bewältigung dazu bei, dass mein seelischer Zustand immer schlechter wurde. Ich zog das Negative förmlich an, als würde ein Fluch auf mir liegen und Lukas probieren, mich mit in seine Hölle zu reißen. Onkel Andy war der Nächste aus meiner Familie, der sich auf bestialische und aggressive Weise selbst richtete. Ich kannte ihn kaum. Er war Pas Cousin, Sohn der verstorbenen Schwester meiner Oma Dagmar, Lenns Mutter. Trotzdem traf es mich wie ein Schlag, über die Zeitung zu erfahren, dass er sich in aller Öffentlichkeit in den Kopf geschossen hatte. Ich wurde die Panik nicht los, den Hang zur Selbstzerstörung und zum Freitod in meinen Genen zu haben. Pascals Vater, den ich als herzlichen und klugen Mann liebgewonnen hatte, im Dresdner Pflegeheim zu besuchen und ihn nun in diesem senilen, verwirrten Zustand vorzufinden, ertrug ich schwer. Es war bedrückend, wie er in einem seiner lichten Momente meine Hände nahm, mir zärtlich in die Augen sah und zu weinen anfing. Ich umarmte den abgemagerten, fahlen Körper und würgte die Tränen hinunter. Mein Blick fiel auf Paschi, der vor Schmerz kaum aufhören konnte zu schluchzen. Ich spürte, was er durchmachte ... Diese Ahnung, dass sich die Zeit langsam dem Ende neigt und sein Dad sich bald nicht mehr an ihn erinnern wird, weil seine Persönlichkeit galoppierend erlischt. Demenz muss eine grässliche Krankheit sein. Weniger für den Betroffenen selbst, schätze ich, als vielmehr für die Verwandten, die hilflos zusehen, wie der andere da und zugleich abwesend ist. Dieser Blick ins Leere, wie ihn auch Lenn einst hatte ... An Ostern dieses Jahres traten mir die Söhne meiner Nachbarn die Tür ein, die, als Pascal gerade wegen deren bollernden Klopfens durch den Spion sah, gegen seine Schläfe schlug. Blutende Platzwunde, Polizei, Anzeige, Erneuerung des Schlosses. Und wieso das Ganze? Weil er und ich innerhalb der erlaubten Zeit offenbar hörbareren Sex hatten als sonst. Mit denen bin ich schon seit meinem Einzug im Clinch. Die bulgarische Großfamilie teilt sich nämlich die zwei Dreißig-Quadratmeter-Wohnungen über mir, deren Eigentümer sie ist. Meistens muss ich bis in die Nächte hinein, an Sonn- und Feiertagen pausenlos Balkan-Gedudel, Hämmern, Scheppern, Gekreische und Gezanke ertragen. Des Weiteren sammle ich alle paar Tage Fluppenstummel, Spielsachen, Staubflusen und Kleidungsstücke von meiner Terrasse auf. Gelegentlich schreie ich nach oben, wenn ich jemanden dabei erwische, wie er seinen Teppich über meinem Blumenbeet ausschüttelt, oder renne hoch, um mir auf meine Beschwerde hin die Tür vor der Nase zuschlagen zu lassen. Wenn ich der „Crew“ dann im Treppenhaus begegne und freundlich grüße, schweigt sie und durchbohrt mich mit stechenden Blicken. Das stresst! Klar ist es heftig, dass sie mit so vielen Leuten auf engstem Raum leben müssen, ihre Matratzen nebeneinander auf dem Boden aufgereiht sind; dass sich die Ehefrau, die im Café nebenan putzt, beim Inhaber ständig über Rückenschmerzen und die Armut ihrer Familie beklagt und dass der nach Schnaps und Schweiß riechende, zahnlose Gatte ein gewalttätiger Alkoholiker zu sein scheint. Mich verärgert trotzdem, dass sie nach mehrfacher Aufforderung nicht imstande sind, sich an die Hausordnung zu halten. Was sagt die Verwaltung dazu? Nüscht. Und der Rest Nachbarn? Nüscht. Nun muss ich mich auf die Suche nach ’ner anderen preisgünstigen Bude begeben. Toll! Der nächste Dominostein kippte an einem Samstag Ende Mai. Ich war mit Charly auf’m Schanzenflohmarkt, als sie mit mir zu streiten anfing, weil ich drei kleinen Mädchen erlaubte, ihr junges Hundeweibchen zu streicheln. Charly hasst es, wenn Amy von fremden Leuten angefasst wird, zumal sie ohnehin extrem argwöhnisch ist, was dieses Tier betrifft. Bereits in der vorigen Woche hatten wir uns in die Haare gekriegt, nachdem aus’m Nichts ein Auto an uns vorbeigerauscht war und ich Amy, die ich an der Leine hielt, intuitiv an mich riss. Charly schrie entsetzt auf und obwohl überhaupt nichts passiert war, warf sie mir in ihrer cholerischen Art, die ich absolut null ausstehen kann, vor, ich solle besser auf Amy aufpassen. Wenn ihr was gegen den Strich geht, rastet sie immer sofort aus. Demzufolge reagierte ich auch an jenem Flohmarkttag schnell gereizt. „Die sollen gefälligst ihre Finger von meinem Hund lassen! Das weißt du doch!“, brüllte sie mich an. Ich versuchte, sie zu beruhigen: „Ja, tut mir leid. Aber das sind Kinder, Mensch. Ich meine, da kann man mal ’ne Ausnahme machen, oder? Denen kann ich’s halt nicht verwehren, deinen Hund zu streicheln. Also gib mir Amy gar nicht erst, wenn du eh keinen Bock hast, sie die ganze Zeit an der Backe zu haben!“ „Niemand grapscht meinen Hund an, ist das klar?! Oder würdest du’s geil finden, wenn jeder dein Gesicht antatscht?!“ Dabei pladderten ihre Handflächen rüpelhaft meine Wangen ab. „Aua, nich’ so doll! Meine Güte ...“, seufzte ich. „Amy ist schwanzwedelnd auf die Mädels zugehopst – die hat sich voll gefreut. Genau wie die Kiddies.“ „Du respektierst nicht, was ich sage. Amy ist mein Hund, mein Hund!“, keifte Charly – Spucketropfen sprühend. Mit dem untersten Zipfel meines Shirts wischte ich mich trocken und knurrte: „Beruhig dich, Madame. Ist ja guuut ...“ „Ich bin nicht Madame!“, tobte sie – mit den Springerstiefeln auf den Boden stampfend. „Dann verpiss dich halt und nimm deinen Köter mit!!“, blökte ich zurück und machte mich auf den Heimweg. Erzürnt stieg ich in den Bus, stöpselte mir Musik in die Ohren und schäumte in Gedanken weiter. Bis das Kreischen eines Kindes mich hochschrecken ließ. Zwei verschleierte Frauen führten lautstark ’nen türkischen Dialog mit dem, ich vermute, Sohn der einen, der ’n etwa fünfjähriges Mädchen, vielleicht seine Schwester, für mein Empfinden megagrob über die Schultern und Sitzlehnen hinweg zur Mutter hievte. Der Junge, maximal sechzehn, wirkte überfordert und genervt, weil die Kleine nicht aufhörte, gequält zu plärren, woraufhin die Mutter aggressiv drohend die Hand erhob, sodass sich das Mädchen verängstigt und schutzsuchend zu den Füßen ihres Bruders zusammenrollte und seine Waden umklammerte. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte gefragt, was bloß in sie gefahren sei, ihrer Tochter solche Furcht einzujagen. Was würde sie später tun, wenn keiner mehr zusieht? Ihr Kind schlagen? Meine Blicke wanderten zu den fassungslos verstummten, kopfschüttelnden Fahrgästen. Niemand regte sich. Wütend und hilflos erreichte ich meine Haltestelle. Um meinem Ärger Dampf zu machen, der dank Charly ja ohnehin schon maßlos gewesen war, schilderte ich den Vorfall impulsiv, daher unüberlegt und naiv in einem Facebook-Post. Ich äußerte mich relativ abwertend zur Mutter des Mädchens, deren Handeln ich ultrakrass verurteilte. Zu Hause vergaß ich das Ganze erst mal, schlüpfte in die Jogginghose, kochte, aß, wusch ab, schrubbte meine Bude und schaltete schließlich den Fernseher ein. In den Nachrichten stritten die Politiker wie so oft über das Einwanderungsrecht für Flüchtlinge, um Grenzkontrollen, schnellere Abschiebung von kriminellen Ausländern, Aufenthaltsgenehmigung für Migranten, deren Integration gelingt, und Proteste rechter Parteien gegen Asylbewerber und Containerunterkünfte. Einerseits wurden die mögliche Einschleusung von IS-Leuten aus Syrien, die Bekämpfung der Terror-Miliz, das Problemlösen vor Ort und letztlich die Frage, ob der Islam nach Deutschland gehöre, diskutiert. Andererseits das Drama der ertrunkenen Opfer im Mittelmeer, denen dringend geholfen werden müsse. Ich stehe genau dazwischen. Selbstverständlich sollen Menschen in Not unterstützt werden, mich beunruhigt aber ebenfalls, dass islamische Fundamentalisten, die auf den Djihad-Krieg gegen den Westen abzielen, die Flüchtlingsströme zum Importieren von Terroristen benutzen könnten. Der Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ im Januar und die Angriffe im November am „Stade de France“, in Restaurants, Cafés, Bars und in der Konzerthalle „Bataclan“ in Frankreich machen mir Angst. Warum gehen die Politiker auf diese Gefühle nicht ein? Sie zu ignorieren ist keine Lösung, das bringt uns Bürger auseinander. Nach der Tagesschau zappte ich alle Sender durch und öffnete – vom Programm angeödet – die Facebook-App. Was ist denn jetzt los?, fragte ich mich erstaunt, als ich auf fast vierzig Kommentare stieß, die ich im ewig langen Herunterscrollen überflog. Mit Wucht wurde mir bewusst, was ich mit meinem Post ausgelöst hatte. Ein Shitstorm heftigster Empörung begrub mich unter sich und erstickte mich. Die Reaktionen meiner Kommilitonen waren das komplette Gegenteil dessen, womit ich gerechnet hatte. Niemand störte sich daran, dass ein kleines Mädchen menschenunwürdig behandelt worden war. Stattdessen stand ich im Brennpunkt des Problems. Man entrüstete sich darüber, dass ich die Mutter „Kopftuchalte“ genannt hatte, betitelte mich als rassistisch und forcierte einen hitzigen No-Border-Diskurs. Die Situation im Bus, um die es mir eigentlich gegangen war, ging dabei völlig unter. Voller Verzweiflung und in Erklärungsnot fing ich an, mich zu rechtfertigen und zu erläutern, dass ich eine Deutsche kein bisschen geringer beschimpfen würde; dass man das Verhalten von Ausländern doch nicht um jeden Preis billigen müsse und auch dort durchaus differenzieren könne. Anstelle von Zuspruch und Rückhalt erntete ich jedoch erbarmungslose Kritik und Vorwürfe, die sich anfühlten, als würde mich eine Truppe mit Kalaschnikows umzingeln, auf meine Stirn zielen, abdrücken und meinen Schädel in Milliarden winzigste Stücke zerfetzen. Die Bezichtigungen: Ich studiere den falschen Beruf; rücke eine Muslimin in schlechtes Licht; stecke alle Ausländer in eine Schublade; man bekomme wegen meiner Pegida-Haltung Bauchkrämpfe vor Entsetzen; hätte mich für empathisch und reflektiert gehalten, erkenne nun aber mein wahres Ich usw. Eine mickrige Minderheit meiner mir näherstehenden Follower, die nicht mit mir in eine Klasse geht oder sogar in real life meinem Freundeskreis angehört und ebenso wenig wie ich die AfD wählt, wappnete sich zu meiner und ihrer eigenen Verteidigung mutig, gut gerüstet und im Affekt zugegebenermaßen knallhart für den Kugelwechsel. Etwa in diesem derben Sprachjargon: „Wir reden hier über den Unterschied zwischen dem freundlichen Dönerverkäufer von nebenan und der Guck-nich’-oder-ich-stech-dich-ab-Fraktion! Zweiteres überschreitet die Grenze der Toleranz. Alle, die mutwillig unsere Regeln verletzen, müssen weg! Ausgewiesen gehören die, die keinen Respekt kennen oder sich strafbar machen! Wir sind ein demokratischer Bürgerstaat. Ausländer haben sich genau wie wir an die Gesetze zu halten. Punkt. Das wird man ja wohl aufgrund der freien Meinungsäußerung sagen dürfen!“ Allerdings schaukelte sich das Gefecht durch ihr Einmischen so hoch, dass die Kluft zwischen mir und meinen Mitschülern noch weiter einkrachte, bis man mich schließlich skrupellos aus dem Studienforum schmiss. Parallel dazu bewiesen immerhin drei Leute aus meinem Semester Loyalität mir gegenüber, indem sie – wenn auch nur heimlich per E-Mail – Trost spendeten, Beistand leisteten und erzählten, sie wären wegen ähnlicher Debatten ebenfalls gemobbt worden. Sonntagmorgen löschte ich – völlig gefrustet von der, auch durch die provozierenden Beiträge meiner Freunde, aus dem Ruder gelaufenen Gesprächskultur – meinen Post und am Abend letztlich auch meinen Facebook-Account – optimistisch, damit würde sich das Thema erledigen. Dem war leider nicht so. Längst nicht ... Der Unterricht und die Pausen danach wurden zu einem regelrechten Albtraum. Sympathische Kameraden, mit denen ich früher einen netten Umgang gepflegt hatte, wendeten sich konsequent von mir ab, indem sie nichts auf meine Begrüßung erwiderten, sich von mir wegsetzten und mich aus den Gruppenarbeiten ausschlossen. Man verachtete mich nicht nur, sondern nahm keinerlei Notiz von mir, was ich als deutlich schlimmer empfand, weil es war, als gäbe es mich überhaupt nicht, als wäre ich unsichtbar. Hinter meinem Rücken zu tratschen, mich penetrant zu ignorieren und auszugrenzen genügte als Bestrafung aber offenbar noch nicht ...

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