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4.

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„Das hier“, begrüßte Joel Fay, als sie ihn am frühen Nachmittag auf der Veranda vorfand, „geht überhaupt nicht, Princesa.“ Er hielt ihr die Zigarettenschachtel hin.

„Bleibt mehr für mich“, stellte sie fest und ließ das Päckchen schnell unter ihrem Hemd verschwinden. „Frag doch Dad, der hat noch Zigarren im Nachtschrank.“ Und zwei angebrochene Blister Prozac. Helfen tat weder das eine noch das andere.

„Den Dad, der mir heute Morgen weismachen wollte, du bräuchtest ein wenig Trost?“ In Joels Mundwinkeln zeigte sich ein spöttischer Zug.

Wäre der Schauer, der Fay vor Schreck über den Rücken lief, nicht so eiskalt gewesen, hätte er sie erwischt. Sie ballte instinktiv die Fäuste. „Er hat was?“

„Interessantes Gespräch. Dachte wohl, er hätte da an der Tankstelle einen Geist gesehen, der euch jetzt heimsucht.“

„Ist das so?“, fragte Fay leise, obwohl die Panik in ihr ohrenbetäubend schrie.

„Hab nicht den Eindruck“, antwortete Joel und das Lächeln verblasste langsam. Dann sah er sie an. „Und du?“

„Was?“

„Brauchst du Trost?“

„Für was?“ Fay flehte innerlich gen Himmel, dass Joel nicht bemerkt hatte, wie spät ihr Vater gestern aus der Kneipe zurückgekehrt war. Wie viel Angst sie hatte, dass er irgendwann gar nicht mehr heimkam. Wie offensichtlich das Laientheater war, das sie hier spielten.

„Hab gehört, du machst ’ne schwierige Zeit durch. Ganz schön dämlich, dieser Justin.“

Das durfte einfach nicht wahr sein. Fay wartete vergeblich darauf, dass sie mit einem Ruck aus irgendeinem ihrer Albträume hochfuhr und sich den Kopf am Bettgestell aufschlug. „Das kann nicht sein Ernst sein“, war alles, was sie hervorbrachte, bevor sie sich abwenden musste. Sie würde ihren Dad umbringen, wenn er es nicht schon selbst getan hatte. Im Haus fehlte jede Spur von ihm.

„Stimmt’s denn?“ Joels Stimme hinter ihr legte sich wie eine zweite Haut auf Fays kalten Rücken.

„Dass mein Ex-Freund dämlich ist?“ Fay fuhr herum. „Ja. Dass ich ihn abserviert habe und Dads Hoffnungen auf einen reichen Schwiegersohn zerstört habe? Ja.“

„Bist du unglücklich?“, wollte Joel unvermittelt wissen und seine Fingergelenke knackten.

Fay starrte auf eine winzige Tätowierung hinter seinem Ohr. „Nicht deswegen“, flüsterte sie.

Joel schwieg und taxierte Fay. Seine Augen waren so schwarz, dass sie fürchtete, er wäre vielleicht doch ein Geist. Einer, der so viele dunkle Geheimnisse gesehen hatte, dass sie ihn von innen heraus verschluckten.

„Ich denke, ich such mir was anderes“, sagte er schließlich und alle Wut auf ihren Vater entwich so plötzlich, dass Fay spürte, wie sie tiefer in den Holzboden einsank.

„Weil Dad dir Scheiße erzählt?“ Die Frage klang wie eine ihrer Lügen.

„Weil ich dir keinen Ärger machen will.“ Joel trat einen Schritt von der Wand weg, an der er gelehnt hatte. „Und weil ich denke, dass das für uns besser ist.“

„Servierst du mich gerade ab?“ Fay hätte viel lieber um sich geschlagen, als an ihrer Fassungslosigkeit zu ersticken.

Joel kam auf sie zu und neigte sein Gesicht so nah zu ihr, dass seine Stirn leicht an Fays stieß. „Im Gegenteil“, sagte er leise und Fay erkannte tausend lange Wimpern in all dem Schwarz. „Ist doch viel einfacher, dich um ein Date zu bitten, wenn wir nicht dauernd eins haben. Oder?“ Joel lächelte und Fay vergaß, wie man atmete und nickte und Ja sagte.

Irgendetwas davon musste sie trotzdem getan haben, als er daraufhin „Okay“ erwiderte. Seine rechte Hand zuckte, als suche er plötzlich Halt, dann wandte er sich doch ab und ging zur Haustür.

„Ich kenne jemanden, der dir sein Zimmer überlassen würde“, sagte Fay und ihre Stimme klang merkwürdig gedämpft in ihren Ohren; ihre Fingerspitzen kribbelten.

„Echt?“

„Ja. Ist nicht weit von hier. Du wirst ihn mögen.“

„Woher weiß ’ne Prinzessin, was ich mag?“

Hör auf damit, betete Fay stumm.

Joel stützte sich mit dem Ellenbogen im Türrahmen ab, und unter dem Bund der Jogginghose zeigte sich ein schmales Stück seiner Shorts, die er darunter trug.

Worüber sprachen sie hier eigentlich? Fay schob sich an ihm vorbei ins Haus, dabei streifte ihre Hüfte Joels Bein. „Weiß ich nicht“, flüsterte sie zu ihm hoch. „Ich riskier’s einfach mal.“

Für den Bruchteil von Sekunden bäumte sich etwas zwischen ihnen auf und schlug blinde Funken, die Fay in jede Pore sickerten. Sie musste blinzeln, als Joel seinen Blick so tief in ihren schlug, dass ihr Brustkorb zu glühen begann.

„Gut gezielt, Prinzessin“, murmelte er nur.

Fay tastete Halt suchend nach den Autoschlüsseln, die irgendwo hinter ihr auf der Kommode lagen. „Wir nehmen den Wagen.“

Vielleicht, überlegte sie, während sie den Pick-up aus der Einfahrt lenkte, war es dieses Glühen oder zwei Herzschläge zu viel, über die sie gesprochen hatten. Über diese Taubheit, das Zucken oder die Fragen nach Trost und Glück, die sie Joel nicht beantworten konnte.

Er starrte rauchend und ebenso sprachlos aus dem Fenster des Wagens, den ihr Vater mit dem Geld ihrer Donutverkäufe finanziert hatte, und Fay zählte heimlich die dunklen Male auf Joels Fingerknöcheln. Als sie auf die Norwood Avenue abbogen und vor dem unsanierten Appartementhaus hielten, hatte sie vergessen, welche Zahl größer als achtzehn war und wie viele Jahre zwischen ihrer Geburt und der von Joel lagen. Trost ließ sich nicht in verbrannten Hautpartikeln messen, und Glück war nichts, was man mit einer Doppelschicht am Wochenende bezahlen konnte.

„Ist der Typ cool?“ Joel beugte sich auf dem Beifahrersitz vor und spähte an den Fensterreihen hinauf.

„Du meinst cooler als Dad?“ Im Grunde genommen war Fay ihr Vater seit zwei Tagen nur noch peinlich. Nein, korrigierte sie sich stumm, als sie ausstieg und zweimal kurz und einmal lang bei ihrem ehemaligen Musiklehrer klingelte. Seit Jahren.

Der Schließmechanismus der Tür summte im selben Rhythmus zurück und im Treppenhaus ertönte der Refrain von Sean Kingstons Fire Burning.

„Somebody call 911?“, begrüßte Aidan Fay und Joel an der Wohnungstür. Die sanften Schallwellen der Musikanlage in seinem Zweiraumappartement entlarvten die Coolness als kindlichen Gefühlsausbruch.

„Er tut, als wäre er Musiklehrer.“ Fay lächelte Joel kurz über die Schulter hinweg zu. „In Wahrheit macht er nachts die Clubs unsicher.“

„Immer herein mit den Kindern, die sie mir brachten.“ Aidan trat einen Schritt zurück winkte sie in den Flur.

„Hi.“ Joel griff unerwartet nach Aidans ausgestreckter Hand und erwiderte dessen breites Grinsen.

„Hallo, mein Freund. Siehst müde aus. Wollt ihr was essen?“

„Aidan.“ Fay warf ihm einen mahnenden Blick zu und bat ihren damaligen Mentor stumm um Diskretion.

„Was die Prinzessin sagt“, erwiderte Aidan spöttisch und deutete den Flur hinunter. „Dort entlang, die Herrschaften.“

Der Wohnraum sah aus, als wäre ein riesiger Farbbeutel darin explodiert. Neben seiner Tätigkeit als Musiker und schlecht bezahlter DJ hatte Aidan sich zeit seines Lebens als Künstler versucht. Fay kannte ihn, seit sie seinen Namen aussprechen konnte. Er hatte ihr schon die Windeln gewechselt, bevor ihre Mutter überhaupt wusste, dass sie ungeplant schwanger war.

„Ich habe gekocht“, erwähnte Aidan beiläufig und ging zu der kleinen Küchenzeile, die laienhaft in eine Ecke des Raumes gezimmert worden war. Er hob den Deckel von einem der Töpfe, die auf dem Gasherd standen. „Magst du Nudeln?“, wollte er von Joel wissen, der im Türrahmen stehen geblieben war und an seinem Daumennagel kaute.

„Klar mag ich Nudeln.“

„Siehst du?“ Aidan ließ den Deckel mit einem Scheppern fallen und lächelte Fay triumphierend zu. „Jeder mag Nudeln, sag ich doch. Sie nicht.“ Er deutete mit ausgestrecktem Finger auf ihre Stirn.

Joel grinste schon wieder, und Fay rann diese beschissene Coolness, von der sie vorhin noch gesprochen hatten, durch die Finger. „Schön, ihr versteht euch. Wenn du deinen neuen Verbündeten jetzt noch ein paar Tage bei dir auf dem Sofa bekochen könntest, wäre das geklärt und ich somit überflüssig“, giftete sie in Aidans Richtung.

Er bemerkte ihr Zittern und ließ die Hand sinken. „Fay. Warum so gestresst?“

„Ich bin nicht gestresst.“

„So. Wir gehen folgendermaßen vor: Du“, Aidan zeigte auf Joel, der noch immer mit der Reisetasche zu seinen Füßen dort stand, „nimmst dir so viele Nudeln, wie du magst. Und du“, er wandte sich wieder an Fay, „begleitest mich bitte ins Nebenzimmer, das sich in der letzten Woche als Abstellraum herausgestellt hat. Mitkommen.“

„Kannst du nicht einmal normal sein?“, wollte Fay von Aidan wissen, als sie den kleinen Raum betraten, der an das Badezimmer angrenzte. Auch hier lehnten Leinwände, und ein geöffneter Koffer mit farbverschmierten Lumpen stand direkt vor der Tür.

„Was ist los? Wer ist das? Warum bist du wütend?“, fragte Aidan leise zurück und schob den Koffer mit einem Tritt zur Seite. „Hat er wieder Theater gespielt und das Publikum verstört?“ Er meinte ihren Vater, der gerade ein Footballspiel vom Sofa aus verfolgte. Mutterseelenallein. Ohne Fay, mit einer Flasche zu teurem Whiskey. Wenn es für die San Diego Chargers schlecht ausging, ging es für alle schlecht aus.

Fay wollte später allein um irgendeinen dieser verlorenen Träume weinen. Aber nicht jetzt, nicht vor Aidan und schon gar nicht vor Joel, der Dinge mochte, die sie verabscheute. „Er ist neu hier und hat keinen Schlafplatz“, erklärte sie deswegen drauflos, um Aidans letzte Frage unter den Tisch fallen zu lassen. „Es wäre nicht lange, nur ein paar Tage, bis er etwas Eigenes findet.“ Jemand, der so mittellos war, dass er Fay ihre Mentholzigaretten wegrauchte und sich auf Aidans verkochte Nudeln stürzte, musste schon lange zuvor nichts Eigenes mehr besessen haben.

„Kein Problem, Fay.“

„Wirklich nicht?“

„Nein.“

„Wenn er Ärger macht …“

„Ich bitte dich, Süße“, unterbrach Aidan sie und nahm sie väterlich bei den Schultern. „Der schaut wie ein getretener Hund.“

„Er heißt Joel“, erwiderte Fay leiser. Ihr anfänglicher Ärger löste sich im Terpentingeruch in seine Bestandteile auf.

„Wenn er Ärger macht“, sagte Aidan, bevor er wieder in den Flur trat, „rufst du an.“

„911?“ Fay dachte an das Footballspiel und die fünf Niederlagen der vergangenen Jahre.

„Egal wen, jeder würde dir helfen, Prinzessin.“

„Das ist nicht so“, versuchte Fay zu widersprechen, doch es klang lahm und ihre eigene Stimme tat ihr in den Ohren weh.

„Du musst es den Leuten vor den Kopf knallen.“ Aidan schlug mit der flachen Hand gegen die Raufasertapete. Es klatschte, Fay zuckte zusammen und er lächelte. „Und schon sind alle wach. Bis auf ihn da“, flüsterte Aidan und zeigte in Richtung der Küche. „Sieht nicht gesund aus, der Junge.“

„Gib dir Mühe“, bat Fay ihn leise. Sie stand noch immer inmitten von Putzlappen und leeren Farbtuben und hoffte, dass die San Diego Chargers nicht verlieren würden. Dass Joel auch morgen noch hier sein würde und dass sie ihrem armen, kranken Vater im Footballtrikot später nichts vor den Kopf knallen würde.

Aidan machte ein nachdenkliches Gesicht, als er sich wegdrehte. „Komm doch mal wieder her“, sagte er dann in den leeren Flur. „Ich vermisse deine Anschläge.“ Er meinte Fays Klavierstunden, die sie seit über einem Jahr hinter sich herzog wie Granitblöcke.

Fay schüttelte den Kopf und hoffte, Aidan würde ihr irgendwann eine Frist setzen, die sie verstreichen lassen konnte wie die ihrer College-Bewerbungen. Irgendwann würde die Auswahl so klein sein, dass sie keine Entscheidung mehr treffen musste.

„Ich fahr dann mal“, sagte Fay, als sie aus dem Nebenraum zurückkehrte. Aidan hatte sich mittlerweile über die Spaghetti hergemacht und Joel zehn Minuten lang auf die noch ungeöffnete Schachtel Zigaretten gestarrt, die auf dem Küchentisch lag.

Endlich gab es einen Grund, wieder wegzusehen. „Okay.“

Er folgte ihr zur Wohnungstür und versuchte, sein Verlangen in dem Himmelblau ihrer Augen zu ertränken. Doch da waren nur diese weißen Sprenkel, die sich in seine Netzhaut brannten wie die Enden der Zigaretten, die er so gern rauchte.

„Kommst du wieder?“, wollte er wissen und fand die Frage gleichzeitig idiotisch.

„Natürlich.“ Fay wirkte unruhig. „Du kannst auch zu uns kommen. Wenn Dad dich noch nicht verschreckt hat, meine ich.“

„Mich verschreckt nichts“, antwortete Joel und konzentrierte sich auf ihr nervöses Blinzeln.

„Okay.“ Fay lächelte, doch es war mehr ein Zucken ihrer Mundwinkel. „Wie du meinst.“

Das Gedudel aus Aidans Musikanlage hinter ihnen alarmierte Joel plötzlich. Er griff behutsam nach ihrem Nacken und schob seinen Daumen unter ihr Kinn; die weiche Haut an Fays Hals kribbelte an dem vernarbten Gewebe. „Kommst du klar?“, fragte er leise.

Fay hörte endlich auf zu blinzeln und starrte ihm beinahe Hilfe suchend entgegen. „Natürlich“, flüsterte sie wieder und eigentlich hätte Joel sich über diese Lüge ärgern müssen.

Ihr Blick begann, schwache Wellen zu schlagen, als er ein Absaufen riskierte und genauer hinsah. „Ich glaub dir kein Wort, Princesa“, murmelte er. „Kein einziges.“

„Musst du auch nicht“, gab Fay leise zurück, dann senkte sie den Blick und Joel schloss instinktiv die Augen, um nicht wieder aufzutauchen. Ersticken fühlte sich besser an, als er gedacht hatte.

„Bis morgen“, sagte Fay irgendwo in seiner Herzgegend und Joel zählte stumm die feinen Härchen, die ihm durch die Finger glitten, als sie ging. Eine Zahl zwischen dreihundertzwölf und vierzehn, die er ohne Schulabschluss wohl nie kennenlernen durfte.

Aidan stellte ihm einen Teller mit mittlerweile kalter Tomatensoße hin und nickte Joel aufmunternd zu, als dieser flach atmend wieder im Raum stand.

„Kann ich eine davon haben?“, fragte Joel und machte eine Kopfbewegung zu der vollen Zigarettenschachtel.

Aidan lachte kurz, dann ging er zu dem Klavier, das am anderen Ende des Zimmers stand. „Nimm sie alle, ich wollte eh aufhören.“

„Danke, Mann.“ Ob ihn das retten würde, stand in den Sternen, die Joel noch immer blendeten.

„Hast du keinen Hunger?“, fragte Aidan und setzte sich mit dem Rücken zu Joel vor die Tastenreihe.

„Nee.“

„Vielleicht später?“

„Vielleicht.“ Joel öffnete pflichtschuldig das Fenster, als er den ersten Zug seit Stunden nahm. Für heute hatte er genug. Kein Menthol und kein Chanel in keinem Himmelbett dieser Welt.

„Was hat dich hierher verschlagen?“, wollte Aidan wissen, der gerade eine Melodie spielte, die Joel irgendwann vor Wochen im Radio des Gemeinschaftsraumes für Insassen gehört hatte.

„Nächste Frage“, entschied er und beobachtete ein streitendes Pärchen auf dem Parkplatz unter ihnen.

„Woher kommst du?“ Aidan spielte das Spielchen synchron im Rhythmus der Tasten.

„L.A.“

„Die Stadt der Engel, ich erinnere mich. Da hatte ich vor Jahren mal ’ne Ausstellung. Teures Pflaster, alles voll mit koksenden Escort-Girls.“

„Engel gibt’s nicht“, murmelte Joel und der Rauch in seiner Kehle begann zu glühen.

„Enttäuschend, nicht wahr?“ Aidan ließ sich nicht beirren. „Was hast du jetzt vor, Joel?“

„Weiß nicht. Irgendwas Gutes.“ Joel schmeckte den sauren Filter.

„Da bist du bei Fay richtig“, stellte Aidan fest, doch der bittere Unterton ließ Joel plötzlich husten.

„Alles klar?“ Aidan und das Spiel gerieten ins Stocken.

„Was ist mit ihrem Vater?“, wollte Joel statt einer Antwort wissen und horchte in die Stille hinein. Vielleicht täuschte er sich ja und die Wellen, die ihn vorhin überspült hatten, waren keine dieser Warnungen, die ihn nachts aus dem Bett trieben.

„Hm“, machte Aidan nur und wandte sich auf seinem Hocker zu Joel um.

Anfang vierzig, schätzte Joel. Zu wenig Schlaf, zu viel Ehrgeiz. Ein weißer Mann mit Afroschnitt, der genug Mitleid für all die Nettigkeit dieser Stadt übrig hatte. Wenigstens einer.

„Er ist nicht ganz auf der Höhe, wenn du verstehst, was ich damit sagen will“, setzte Aidan an.

„Ist er krank oder so?“

Aidan lachte kurz und abgehackt auf. „Das wäre eine wirklich gute Entschuldigung, ja.“

„Tut er ihr weh?“ Dann konnte er auf Gottes Gnade scheißen, schwor sich Joel.

„Fay? Oh nein. Nein, Junge, das könnte er nicht. Viel zu weich im Herzen. Hatte ’ne gute Erziehung. Das wagt keiner.“

Joel zündete sich eine weitere Zigarette an.

„Das sind anständige Leute, da parkt keiner falsch oder betrügt den anderen. Ich mochte Fays Mom, tolle Frau. Richard hätte alles für sie getan.“

„Fay sagte, sie sei in Afrika. Arme Kinder und so.“

„Mhm“, machte Aidan daraufhin wieder und betrachtete die Spinnweben über den Kühlschrank.

Joel beharrte innerlich weiter darauf, sich nicht getäuscht zu haben. Keinen Alarm vernommen zu haben. Es war nur diese Clubmusik, die er schon Tausende Male gehört hatte.

„Ich sag dir was, Joel. Das ärmste Kind sitzt bei denen zu Hause, nichts weiter.“ Aidan begann wie auf Kommando wieder zu spielen und Joel erkannte keine einzige Note. „Früher“, erzählte Aidan weiter, „kam Fay jeden Tag hierher. Wir haben gekocht und Klavier gespielt. Ich hab ihr viel beigebracht, sie wollte alles lernen. Geige, Oboe, wie eine richtige Lady. Sie ist so verflucht begnadet.“ Ein beinahe wütender Tastenschlag folgte. „Fay konnte alles. Chopin, Mozart, Liszt. Ich hab ein paar Aufnahmen, das solltest du dir mal anhören. Wenn sie dich bisher noch nicht beeindruckt hat, wirst du später vor ihr auf die Knie fallen.“

„Warum hat sie aufgehört?“ Joel wollte es eigentlich gar nicht wissen. Er wollte nicht wissen, wann der Zeitpunkt kam, an dem er vor Fay auf die Knie fiel, wann er sie um ein Date bat und wie er ihr erklären sollte, dass er keinerlei Begabung besaß und zwei Jahre seines Lebens in Zelle 405 verbracht hatte.

„Das fragst du sie am besten selbst“, erwiderte Aidan brüsk. Das Thema schien ihn aus der Fassung zu bringen und sein Spiel wurde lauter.

Joel wusste irgendwann nicht mehr, wie viele Stunden er dort am Fenster gestanden und Aidans wütendem, traurigem, Funken schlagenden Klavierspiel zugehört hatte. Sein Herzschlag wurde langsamer, je mehr Nikotin er durch seinen Blutkreislauf schickte, und der Grund für Fays hilfloses Starren war ihm irgendwann gleich.

„Geh schlafen, Junge“, sagte Aidan schließlich. Die Digitaluhr an der Mikrowelle zeigte wenige Minuten nach Mitternacht.

„Ich bin nicht müde“, gab Joel zurück, und Aidan zeigte tadelnd auf die Zigarettenschachtel.

„Zwei hast du mir übrig gelassen? Eine Schande ist das.“

„Tut mir leid, Mann.“ Joel schloss das Fenster, doch Aidan grinste nur.

„Mir hat schon lange niemand mehr zugehört“, sagte er und legte Joel im Vorbeigehen eine Hand auf die Schulter. „Was sind da schon zehn lausige Dollar? Ich bezieh dir das Bett.“

Der Terpentingeruch in dem kleinen Raum neben dem Badezimmer hüllte Joel in einen Nebel aus Schweigen und Erschöpfung. Die Lumpen hatte Aidan mitsamt den Pinseln und Farbeimern in den Flur geräumt, dennoch konnte Joel sich in der Nische zwischen Bett und Wand kaum rühren. Fay, das begnadete Mädchen aus anständigem Hause, hätte auch für dieses Problem sicher eine Lösung gehabt. Fay, die Joel in ihren Lügen ertränkte und die einen Erstickungstod wie einen Orgasmus aussehen ließ.

Weil Joel auch eine Stunde später noch wach lag, stand er auf und ließ sein Feuerzeug aufflammen. Er bewegte die Flamme langsam durch den Raum und leuchtete jede Ecke aus, doch bis auf Spinnen und eine leere Waschmittelpackung fand er nichts, was ihn in den Schlaf gesungen hätte.

Als er die Handfläche schließlich über das Feuer hob, wurde ihm klar, dass das Blau der Flamme am Zünder nichts anderes war als die Augen, in die er seit zwei Tagen starrte. Jedes Flackern war ein Blinzeln, jede Zündung ein weißer Punkt, der ihn irreleitete. Er wartete, und noch während er Luft holte, löste sich der Knoten in seiner Brust langsam in seine Bestandteile auf. Müdigkeit. Die Tür, die er nicht schließen konnte. Das taghelle Deckenlicht im Flur, das er brennen ließ. Wut. Kommst du wieder?

Kurz bevor Joels Hand den heißesten Punkt der Flamme erreichen konnte, war der Schmerz in seinem übermüdeten Hirn angekommen, und er zog die Hand weg. Atmen, befahl er sich und ballte die Faust, um nicht sehen zu müssen, wie die verbrannte Haut Blasen schlug, sich rot färbte und schließlich zu nässen begann. Mittlerweise tat es höllisch weh, doch Joel konnte wieder atmen. Er riss das Fenster auf und zog sich bis auf die Shorts aus, damit er spürte, wie das war, wenn Wunden nur durch frische Luft heilten.

Mercy Me

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