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8.

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Fay hätte sich am liebsten in dieser stillen Trivialität aus Joels Sneakern unten im Flur und seinem Hoodie, der über ihrer Bettkante hing, ertränkt.

Im Fernsehen lief tatsächlich Oprahs Talkshow. Ihr Vater hatte bei dem Versuch, Spiegeleier zu braten, dunkle Flecken in die Gitter des Gasherdes gebrannt, und Joels Wutausbruch war stummer Konzentration gewichen. „Da kann man nicht gewinnen“, murmelte er, während er ein Puzzlespiel auf Fays Handy gegen die Zeit zu lösen versuchte. „Das wurde für Verlierer programmiert.“

„Versuchst du, meine Bestzeit zu knacken?“ Fay drehte sich auf die Seite zu ihm und roch Duschgel und die mittlerweile tief stehende Sonne.

„Was?“ Joel ließ das Telefon sinken. „Ich hab ein eigenes Spiel ausgewählt.“

„Danach hättest du den Einzelspielermodus aufrufen müssen“, erklärte Fay, ohne die bunten Animationen auf dem Display wahrzunehmen; keine zehn Zentimeter mehr und ihr Gesicht hätte in der Kuhle gelegen, die Joels Hals und Schulter bildeten. Er ist nicht heiß, Neesh, dachte sie und hielt die Luft an. Er ist die Hitze.

„Das stand da nicht“, widersprach Joel.

„Doch, gleich nach den Spielmodi.“

„Das hast du ausgestellt.“

„Erwischt.“ Fay lachte und wusste im nächsten Augenblick nicht mehr, worüber. „Soll ich’s dir zeigen?“, fragte sie dann und griff nach dem Handy, das von der Decke zu rutschen drohte.

„Ich will’s gar nicht wissen“, erwiderte Joel, und als er den Kopf zu Fay drehte, verschwand die Kuhle. „Und ich will nicht gegen dich antreten.“ Er lächelte und Fay hätte gern gewusst, woher diese Schieflage gekommen war. Warum sie Gänsehaut bekam, wann immer Joel das tat.

Der Griff um ihr Handgelenk war beinahe scheu und hatte nichts mehr mit der ungestümen Blindheit von heute Mittag zu tun. Er drückte die Stelle, an der ihre Pulsadern verliefen, kurz an seine Lippen. „Sorry, Princesa. Ich hab keine Ahnung von so was.“

Wie recht er hatte. „Ich zeig dir mal was“, sagte Fay, bevor sie wirklich an seinen Worten ertrank. „Hier.“

Ihr seit Wochen brachliegender Instagram-Account war ein Hort der Oberflächlichkeiten, gespickt mit selbstdarstellerischen Präsentationen eines Lebens, das Fay in diesem Zimmer gar nicht führte. Sie scrollte zu einer gemeinsamen Aufnahme mit Tanisha, die sie am Lake Tahoe zeigten. Ein Schulausflug, der in einem riesigen Streit mit Justin geendet hatte.

„Das ist meine beste Freundin. Sie würde dich übrigens gern kennenlernen.“

„Wie alt?“, lautete Joels Kommentar zu dem Bild.

„Achtzehn, warum?“

„Sieht viel jünger aus. Neben dir zumindest.“ Seine Mundwinkel zuckten erneut.

„Danke für nichts“, gab Fay zurück, obwohl es stimmte, und wischte zu einer weiteren Aufnahme. „Und hier?“

„Süß“, kommentierte Joel und die Stelle, an der sein Ellenbogen Fays Unterarm berührte, begann zu pochen. „Darf ich die anderen Bilder sehen?“

„Lieber nicht.“ Fay glaubte ihrem Laienschauspiel, das im Internet großen Anklang fand, schon lange nicht mehr. Zehntausend ahnungslose Follower, die ihr Komplimente für jede einzelne Lüge machten.

„Bitte.“ Joel versuchte halbherzig, ihr das Telefon wegzunehmen.

„Wozu denn?“ Schon wieder musste sie grundlos lachen. „Du siehst mich doch hier und jetzt.“

„Und wenn ich mehr will?“

Fay betete stumm, nicht vom Bett zu stürzen, weil das nicht helfen würde.

Sie rückte ein Stück weit von Joel weg, damit er nicht hörte, dass ihr Puls in ihren Adern detonierte.

„Eins“, willigte sie ein. „Sag stopp.“ Sie scrollte durch die Fotos, bis Joel unvermittelt ihre Hand festhielt.

„Das“, murmelte er und starrte auf ein Bild von Fay, das sie am Strand von Salmon Creek zeigte.

„Nein, das ist blöd.“ Fay war der ganze Scheiß nur noch peinlich. Als sie versuchte, den Standby-Knopf des Telefons zu erreichen, musste sie feststellen, dass Justin das Bild ebenfalls zu mögen schien. Er hatte es vor zwei Wochen mit einem scheinheiligen Herzchen kommentiert.

„Ich möchte nicht, dass du mich so anstarrst“, bat Fay und schwor sich, das Foto zu löschen, sobald Joel eingeschlafen war. Dabei war die Faszination, die helle Schatten in das tiefe Schwarz in seinem Blick streute, der Grund für solche Bilder.

„Du bist so verflucht schön, Prinzessin“, sagte Joel leise und richtete sich ein Stück im Bett auf. „Wieso sollte ich wegschauen?“

„Weil es nicht real ist“, erwiderte Fay und wollte doch immer mehr davon hören. „Es hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun.“

Joel schüttelte nur den Kopf. „Ich würde mich jetzt gern vergewissern, dass das da real ist.“ Er sah Fay kurz an und der Ausdruck in seinen Augen riss tiefe Löcher in Fays kläglichen Widerstand. „Wirklich richtig gern.“

„Tu’s doch!“, wollte sie schreien. Stattdessen musste sie wegsehen und zählte die Sehnen und Adern unter seiner Haut, um nicht zu vergessen, dass sie erst seit einer Woche eine Prinzessin war. Dass sie schon seit einer Woche nicht mehr damit aufhören wollte.

„Kann ich das haben?“, fragte Joel schließlich und zeigte auf den kleinen Bildschirm.

„Lieber nicht“, wiederholte Fay und musste jeden Buchstaben einzeln abrufen. „Mein Ex hat das Foto auch gesehen.“

„Verstehe.“ Joel lehnte sich scheinbar unbeeindruckt in die Kissen zurück. „Ist er nicht derjenige, der Trost braucht?“

Sie lachten gleichzeitig los und das Brennen in Fays Magen wurde zu einem schwelenden Glühen.

„Es fällt ihm schwer, zu begreifen, dass es aus ist. Wir haben seit Wochen keinen Kontakt mehr“, erzählte Fay dann. „Ich musste ihn überall blocken. Er lässt nicht locker, der Arsch.“

„Hast du ihn verlassen?“, fragte Joel, und als Fay bejahte, verzog er zufrieden den Mund.

„Hast du auch so nervige Ex-Freundinnen?“, wollte sie wissen, als er ihr das Handy zurückgab.

„Nee.“ Joel schüttelte wieder den Kopf und Fay versuchte, sich jeden seiner Gesichtszüge einzeln einzuprägen.

„Echt nicht?“

„Nein.“

„Du hattest noch nie eine Freundin?“ Und das sollte sie ihm glauben? Ihm, der aussah wie aus dem Men’s-Health-Cover gestanzt und der dem Wort Sex-Appeal eine ganz eigene Bedeutung verlieh?

Joel lächelte wieder und das Dämmerlicht der Nachttischlampen warf einen diffusen Schatten über seine Wange. „Ich weiß, worauf du hinauswillst, Prinzessin“, gab er zurück und riss damit Fays ungeschickte Frage in Stücke. „Für was Festes hatte ich bisher keine Zeit. Das heißt nicht, dass da nichts war.“

„Hätte ich dir ohnehin nicht abgenommen“, flüsterte Fay, bevor sie ihr vor Verlegenheit glühendes Gesicht abwenden musste. Hoffentlich sah er das nicht. Hoffentlich sah er gar nichts von alledem.

„Kann nicht jeder so unschuldig sein wie du.“ Joel grinste noch immer und streifte zufällig mit dem Handrücken ihren nackten Arm, als er das Laken zurückschlug.

„Das weißt du nicht“, konterte Fay, doch es klang kläglich. Wen wollte sie hier eigentlich beeindrucken? Der Tag war gelaufen.

„Noch nicht“, erwiderte Joel und nahm den Hoodie vom Bett.

„Wohin gehst du?“

„Ich brauch ’ne Abkühlung.“ Er zog eine Zigarette aus der Schachtel, die auf Fays Schreibtisch lag, und für den Bruchteil einer Sekunde spürte sie das Beben, das in dieser Bewegung lag.

„Sei leise“, bat sie, bevor ihr die Stimme versagte. „Dad schläft.“

„Geht doch.“ Joel schob sich die Zigarette zwischen die Lippen. „Was immer du von mir willst, Princesa, sag es das nächste Mal direkt.“

„Das könnte ich nicht“, flüsterte Fay in das leere Zimmer, als sie seine Schritte auf der Treppe hörte. Eher würde sie ihr tobender Puls in Stücke sprengen.

Joel wusste ganz genau, warum er sich nicht länger als nötig mit Fay in einem geschlossenen Raum aufhielt. Warum er dieses nach Shampoo und nackter Haut duftende Bett meiden wollte und warum dies die längste Zigarette seines Lebens werden würde.

Natürlich wollte sie wissen, wie viele Frauen ihr und ihrem perfekten Körper Konkurrenz gemacht hatten. Selbst wenn er die Escort-Lady, die sich eine Zeit lang jeden Samstagabend auf dem Rücksitz von Finns Auto unter Joel gerekelt hatte, aus der Berechnung fallen ließ, musste er Fay noch immer durch Null teilen. Sogar er wusste, dass das nicht möglich war.

Sollte sie ihm ihre nächste Frage nach seiner Aufforderung unverblümt um die Ohren schlagen, war es vorbei mit der Flucht und allen starren Bikinifotos, auf die er sich in aller Ruhe in der Dusche einen runterholen konnte.

Joels altes Handy in seiner Jackentasche piepste kurz und anklagend auf. Er war ein Arsch. Genau wie der arme Irre vor ihm, der Fay offenbar nicht genügt hatte.

Komm wieder rein. Direkter ging’s nicht.

Nicht so ungeduldig, Prinzessin, schrieb er zurück und wusste selbst nicht, wie lange sie eigentlich warten musste. Und worauf.

Zehn Minuten hast du.

Sonst? Joel wollte es gar nicht wissen.

Find’s doch raus.

Er bekam Gänsehaut, vor Kälte, wie er sich einredete. Das ging so nicht. Joel war völlig klar, dass dort oben ein Funkensprung herrschte, der die gesamte Hütte in Brand stecken konnte, wenn er nicht aufpasste. Die unkontrollierte Verwüstung, aus der er vor dreizehn Jahren halbtot und zu Eis erstarrt gekrochen war, stach ihm noch heute dann und wann in die Rippen. Nie wieder wollte er auf eine so fest gezurrte Verbindung zwischen zwei Menschen wetten und sie anschließend in Stücke schlagen müssen, um nicht noch mehr zu verlieren.

Joel riskierte es, eine Minute später als angekündigt ins Haus zurückzukehren und fand Fay im Halbschlaf vor irgendeiner Serie, in der der Held blutrüstigen Märchenfiguren nachjagte.

„Du bist zu spät“, murmelte sie nur, als er sich seitlich in die weiche Matratze sinken ließ.

„Mir kam was dazwischen“, flüsterte Joel zurück und rückte so nah an sie heran, dass seine Brust an ihre Schulterblätter stieß.

Fays schmale Taille lag wie eine verschnörkelte Einladung vor Joels Hand und er wusste, dass das die Konsequenz für sein Zuspätkommen war. Sein Widerstand, nach ihr zu greifen, sie zu umfangen und festzuhalten, schnürte Joel beinahe die Luft ab. Er schloss die Augen und wie auf Kommando schaltete sich der Fernseher von selbst ab. Ich kann nicht, rang er stumm sein Verlangen nieder und vergrub lediglich sein Gesicht an Fays Nacken, inmitten dieser langen, rostig-blonden Haare. Was für ein scheinheiliger Kompromiss das war, merkte Joel erst, als das Kribbeln in seinen Lenden von seinem gesamten Körper Besitz ergriff.

Zu spät, summte es hämisch durch seinen Herzmuskel und er schob Halt suchend sein rechtes Bein an Fays Kniekehle. Zu spät, zu spät, zu spät.

Fay hatte sicher geglaubt, er läge noch im Tiefschlaf, als sie am darauffolgenden Morgen um sieben Uhr leichtfüßig aus dem Zimmer schlich, doch sie hatte sich geirrt. Joel lag seit zwei Stunden hellwach in ihrem Bett und hatte seine Finger so tief in das Laken gekrallt, dass er die Federkerne unter sich zittern spürte.

Er hatte das gegoogelt, schon lange bevor er damals endlich festgenommen und weggesperrt worden war. Albträume waren das Ergebnis einer posttraumatischen Belastungsstörung, ausgelöst durch anhaltenden Stress und ungelöste Konflikte.

Jetzt, wo er hier mutterseelenallein in diesem Mädchenzimmer lag, konnte Joel über diese nüchternen Formulierungen grinsen. Was sollte er schon tun, um die nächtlichen Schreie in seinem Kopf zu ersticken? Womit sollte er sich betäuben?

Hätte er Alkohol besser vertragen, wäre das eine der Lösungen, auf die irgendeiner dieser vergrabenen Konflikte nur gewartet hatte. Von zu viel Marihuana wurde er paranoid und das gut gemeinte Experiment der Gefängnisärztin, ihm Benzodiazepine zu verabreichen, hatte in einem kläglichen Selbstmordversuch geendet.

Er war eine Pussy durch und durch, und Fay sollte nicht wissen, was sie sich da ins Haus geholt hatte.

Weil er ohnehin nie wieder schlafen wollte, stand Joel auf, zählte im Badezimmer die Parfümflakons und Duschgels, berührte jedes nach Weichspüler duftende Handtuch und ging anschließend in die Küche, wo er Natalia vor dem Backofen kniend fand.

„Wo ist Fay?“, wollte er wissen und im gesamten Raum stank es nach Reinigungsmittel.

Nat seufzte genervt. „Weiß ich nicht. Wünscht einem hier niemand mehr einen guten Morgen?“

„Sorry.“ Joel kam sich dumm vor. „Guten Morgen.“

„Komm“, winkte Nat ab. „Hilf mir mal.“

Joel kam um den Küchentisch herum und der Geruch wurde beißend.

„Du nimmst diese Dose und sprühst direkt hier“, sie deutete auf eine fingerdick verbrannte Kruste am Rand der Backofenklappe, „und ich nehme den Schwamm und das Pulver hier.“

„Okay, Ma’am.“ Ihr Spanisch besaß einen tiefschwarz gefärbten Klang, der Joel angenehm warm auf der Haut kribbelte.

„So eine Scheiße“, fluchte Nat, während sie den lädierten Schwamm aus Stahlwolle an der Schmutzschicht aufrieb. „Die bekommen alles kaputt. Weiß der Geier, was hier passiert ist.“

Joel hockte sich neben sie auf die Fliesen und drückte artig im Akkord auf den Sprühknopf des Reinigungsmittels. Er hätte sich beinahe in den monotonen Bewegungen von Natalias behandschuhten Händen verloren, als es aus ihm herausbrach wie siedendes Wasser. „Meine Mom hat immer Salz benutzt. Man muss es in einer Schicht auf den Dreck streuen und erhitzen, bis es braun wird. Dann rauswischen und nachpolieren.“

Joel fiel plötzlich das Herz aus der Brust und Nat schrie auf. „Pass auf, das ist zu viel!“ Sie riss ihm die Dose aus der Hand und der weiße Schaum tropfte auf den Fliesenboden.

„Fuck“, murmelte er und hatte das Zeug an den Fingern kleben.

Nat zerrte ihn unsanft auf die Füße und hielt seine Hände unter den Wasserhahn in der Spüle. „Das muss sofort weg“, erklärte sie und warf ihre Handschuhe in den Müll. „Kein Hautkontakt, es wirkt ätzend. Tut es weh?“

Selbst wenn, hätte Joel darin baden müssen, um es zu spüren. Er schüttelte den Kopf, und Natalia betrachtete besorgt die Tätowierungen auf seinem Handrücken. „Es wäre schade, wenn das kaputtginge“, sagte sie, als wären es wertvolle Kunstwerke statt billiger Armutszeugnisse.

„Macht nichts“, antwortete Joel nur und seine Hand wurde unter dem kalten Wasser taub.

„Hätten wir mal dein Salz genommen.“ Nat trocknete Joels Finger ab und musterte sie kritisch. „Wenn es anfängt zu brennen oder zu bluten, fahren wir zum Arzt.“

Die Stellen, an denen der Reiniger Joels Haut berührt hatte, fühlten sich glatt an und spannten.

„Ich hab keine Krankenversicherung“, murmelte er noch immer wie in Trance und ritt sich sehenden Auges immer tiefer in die Scheiße. Was zur Hölle war los mit ihm?

Nat lächelte ihm bittersüß ins Gesicht. „Damit kennen wir uns hier aus“, konstatierte sie. „Möchtest du einen Kaffee?“

„’ne Zigarette“, war alles, was Joel herausbrachte. Eine Explosion, einen Erdrutsch oder ein Erdbeben und er mitten im Epizentrum. Oder nur ein verdammtes Feuerzeug.

Nat sah nicht weg, obwohl er sich abwandte. „Geh und rauch deine Zigarette“, sagte sie schließlich und wischte sich die Hände, die Joel eben noch davor bewahrt hatten, sich in einzelne Hautfetzen aufzulösen, an ihrer verwaschenen Jeans ab. „Und danach nehmen wir das Salz.“

Fay hatte sich eingebildet, wenn ihr erst einmal der einzig richtige, der perfekte Mann unter all den Justins dort draußen über den Weg laufen würde, würde sie nichts als Geborgenheit fühlen. Er würde irgendwo stehen, schief lächeln und sie mit einem gezielten Schuss Charme und Überlegenheit niederstrecken.

Stattdessen hatte dieser Wunschtraum ihr in der vergangenen Nacht erst den Verstand und dann den Schlaf geraubt. Joel hatte Fay viel zu früh losgelassen und um drei Uhr morgens mit seinem unruhigen Schlaf das gesamte Bett unter Strom gesetzt.

Obwohl es schon wieder drückend heiß geworden war, bekam Fay Gänsehaut an den Armen, während sie durch die Straßen in ihrem Wohnviertel joggte. Vorbei am Chuckwagon Park passierte sie die Natomas High School, an der sie im Frühsommer ihren Abschluss gemacht hatte, und bog schließlich in den Tumbleweed Way ein. Die Schule sah über die Fong Ranch Road hinweg verlassen aus, und auf dem Parkplatz erkannte sie von Weitem nur einen LKW, der den bunten Werbedruck einer Speditionsfirma trug. Vermutlich lieferte er gerade Ersatz für die aufgebrochenen Schließfächer an. Zwei Jungs hatten vor Beginn der Sommerferien auf reiche Beute gehofft und Schulbücher sowie Taschenrechner mitgehen lassen.

Die Einfahrt vor Tanishas Elternhaus war leer. Fay hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, als sie außer Atem und voller Groll auf ihre Schulzeit auf die glänzende Klingel drückte. Wenn Joel glaubte, bei den Sundeens in einem Disney-Schloss gelandet zu sein, würde ihm beim Anblick von Tanishas Grundstück mit Pool und Palmen das spöttische Grinsen ein für alle Mal vergehen.

Tanisha trug noch einen ihrer Flanellschlafanzüge, als sie öffnete.

„Wie siehst du denn schon wieder aus?“, fragten sie simultan und lachten sich an.

„Komm rein, Mom und Dad sind seit sechs Uhr auf dem Golfplatz.“

„Ist das dein Ernst?“, wollte Fay wissen und zog an Tanishas Hose. „Der Zeitungsjunge fällt in Ohnmacht.“

„Lass das.“ Tanisha schlug ihre Hand weg. „Wer mich im Schlafanzug nicht liebt, hat mich nackt nicht verdient.“

Fay lachte gegen die Müdigkeit an und folgte ihrer Freundin mit einem Glas zuckerfreiem Eistee auf die Terrasse.

„Lange Nacht gehabt, Babygirl?“ Tanisha zwinkerte wie eine Irre in Fays Richtung.

„Was denkst du denn?“, fragte Fay ironisch zurück und zog sich die Sportschuhe aus. „Hab schlecht geschlafen.“

„Sag bloß.“

„Ist wirklich so.“

„Klar, du bist sicher schwer beschäftigt mit deiner neuen Errungenschaft.“

Fay konnte der Spitze nicht ausweichen. Tanisha hatte noch nie einen Freund gehabt. Immer stand sie wie ein verschrecktes Reh neben Fay, wenn sie auf einem Schulfest oder einer Hausparty auftauchten, und nuckelte verlegen an einem Drink.

„Süß“, hatte Joels knapper Kommentar gelautet, und das war es auch schon. Einfach nur süß. Ein bisschen pummelig, ein bisschen still, ein bisschen allein.

„Lass dich nicht blenden, Neesh“, murmelte Fay in ihr Glas. „Du denkst immer, mir würde alles vor die Füße fallen.“

„Habe ich unrecht?“, wollte Tanisha wissen und streckte sich auf einer Liege aus. Ihre Zehennägel waren in einem grellen Pink lackiert.

„Ja“, gab Fay brüsk zurück. Eigentlich wollte sie hier metertiefe Löcher aus Sorgen und Hoffnungen in die Marmorfliesen schlagen, stattdessen ging es wieder nur um Oberflächlichkeiten.

„Ich bin ehrlich neidisch“, gab Tanisha nachdenklich zu.

Fay zupfte ratlos an ihren Haaren herum.

„Obwohl ich noch immer kein Foto bekommen habe, weiß ich jetzt schon, dass er perfekt ist. Groß und schlank und muskulös und natürlich super nett. Das ist immer so bei dir.“

„Willst du mir ein schlechtes Gewissen machen, Honey?“ Fay kaute verärgert auf ihrem Strohhalm.

„Hörst du nicht gern, wie erfolgreich du bist?“

„Ich will überhaupt nichts mehr hören, Tanisha.“ So nannte Fay ihre Freundin nur, wenn eines dieser Gewitter aufzog, das eine Freundschaft bis auf die Knochen aufweichte. „Du fantasierst dir jemanden zusammen, der ich nicht bin. Schon immer.“

„Wer bist du denn?“ Tanisha hielt sich schützend die Hand über die Augen.

„Keine Ahnung“, erwiderte Fay lahm und kam sich dumm vor. Viel zu oft verlor sie in letzter Zeit bei ihren wütenden Ansprachen den Faden. Ihr Vater nutzte das schamlos aus. „Du hast recht, Joel ist toll. Er ist groß und schlank und alles, was du dir vorstellen kannst. Aber irgendetwas an ihm ist anders.“

„Wie meinst du das?“ Die Diskussion von gerade schien vergessen und Tanisha richtete sich interessiert auf.

„Ich meine“, setzte Fay hilflos an, „dass er auf normale Dinge teilweise sehr heftig reagiert.“

Tanisha ließ den Mund ein Stück weit offen stehen und blinzelte. „Hast du ein Beispiel?“, fragte sie dann.

Fay dachte an den abrupten Gesprächsabbruch auf dem Heimweg von Los Angeles oder an Joels unkontrollierte Reaktion auf ihre albernen Versuche, ihn zu belügen, und wollte ihn nicht bloßstellen. „Es kommt mir vor, als wäre da etwas vorgefallen, das ich eigentlich wissen sollte“, erklärte sie und stakste vorsichtig über die Worte hinweg. Ja, so konnte man das stehen lassen.

„Ihr kennt euch doch erst seit einer Woche, oder?“, hakte Tanisha nach. Ihre bunten Zehen wackelten in der Sonne.

„Ja“, gab Fay zu. „Ich hab Angst, irgendetwas falsch zu machen. Verstehst du? Es stimmt, ich kenne ihn kaum. Er weicht jeder Frage aus.“ Ausgerechnet Tanisha sollte verstehen, dass es gute Gründe gab, zu schweigen. Sie wusste nichts von all den Whiskeyvorräten und den Arztrechnungen unter Betten und Schränken und noch weniger von Fays Angst, irgendetwas davon zu übersehen.

„Ja.“ Ihre Freundin nickte langsam. „Meine Güte, liebe Fay“, sagte sie dann an und kreuzte die Beine in Flanell. „So kenne ich dich gar nicht.“

„Ich mich auch nicht“, murmelte Fay und rührte in ihren Eiswürfeln. Sie wurde sich zunehmend fremder. All die Nervosität und Verlegenheit, die über ihr zusammenschlug, sobald Joels Mundwinkel zuckten, all die Funken, die ihr die Haut verbrannten, wenn er sie zufällig berührte.

„Ich habe eine Idee.“ Tanisha schlug die Handflächen zusammen und strahlte plötzlich. „Darauf bist du sicher selbst schon gekommen, Babygirl. Wir treffen uns zu dritt bei Starbucks, und ich lerne ihn kennen. Vorher bereite ich ein paar unauffällige Fragen vor, die man jemandem stellt, den man noch nicht kennt. Woher kommst du, was machst du beruflich, was ist deine Lieblingsfarbe?“, zählte sie auf. „Dann kann er sich nicht aus der Affäre ziehen. Falls doch, wäre das sehr unhöflich.“

Obwohl Joel das mit Sicherheit nicht im Geringsten stören würde, musste Fay zustimmend nicken und lächeln. Ihren Vater hatte er vom ersten Augenblick an in Spott ertränkt. Wie würde Joel erst auf ihre etwas zu klein geratene beste Freundin reagieren, die Ohrringe mit kleinen Marienkäfern trug und jeden Disney-Film auswendig mitsprechen konnte?

„Und wenn er unhöflich ist“, fuhr Tanisha fort und übersah die aufziehenden Gewitterwolken am östlichen Horizont, „ist er der Falsche. So einfach ist das.“

Fay wollte diesen Worten so sehr glauben, dass sie Tanisha übermütig das Teeglas hinhielt. „Auf die Wahrheit“, sagte sie und ihre Freundin lachte zurück.

„Gegen die Lüge!“, rief Tanisha aus und im selben Moment rutschte Fay das Glas aus der Hand und schoss in tausend winzigen Scherben über die teuren Fliesen.

Mercy Me

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