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9.

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Joel verzog sich, bevor Fay zurückkommen und sehen konnte, was der chemische Backofenreiniger mit seinem sonst so gedämpften Gemüt angerichtet hatte.

Natalias penetrante Fürsorglichkeit stieß ihn ab, sodass er zunächst drei Meilen gen Westen am Rand der Interstate 81 entlanglief, ziellos und ohne Worte für den dumpfen Phantomschmerz, der seinen Körper vor zehn Minuten befallen hatte. Er konnte nicht weglaufen. Nicht Richtung Westen, wo der Ozean brandete, und nicht nach Osten, wo Natalia gerade begeistert Salz goldbraun buk.

Weil er sich grundlos beobachtet fühlte, verließ Joel die Hauptverkehrsstraßen, und je tiefer er in die Wohngebiete von West-Sacramento eindrang, desto höher wurden die Zäune um die zurechtgestutzten Vorgärten der Häuser. Da wohnten sie also, Mutter, Vater, Kinder, riesige Autos, kläffende Hunde und Rosenbüsche.

Joel rauchte und prägte sich aus dem Augenwinkel heraus die Hausnummern und Sicherheitsschlösser an den Toren vor den Auffahrten ein. Nach einer Woche im Disney-Schloss hatte er noch immer keine bahnbrechenden Erkenntnisse über das neue Leben, das er sich versprochen hatte. Der einzige Gefühlsmodus, der gerade nicht in Trümmern lag, war das Verschwinden-Wollen.

Von dem Geld, das in diesen Häuserreihen gebunkert wurde, hätte Joel sich von dreißig Edelhuren zu Tode ficken lassen können. Da waren sie wieder: der Zynismus, den sie ihm nicht ausprügeln konnten, und die Huren, die er nicht mehr wollte.

Eine der Haustüren wurde plötzlich aufgestoßen, als Joel gerade den letzten Rosenbusch des schmucken Häuschens Nummer 3137 passiert hatte. Ein Junge von etwa sieben Jahren stürmte heraus, das Gesicht vor Trotz zu einer Fratze verzerrt. „Fuck!“, brüllte er über die Schulter und schleuderte den Müllbeutel wütend auf den Rasen. Joel grinste, als der Junge aufsah und ihn entdeckte.

„Gordon!“, schrie eine Frauenstimme aus der offenen Tür. „Noch einmal dieser Ausdruck und es knallt!“

„Die nervt“, murmelte der Kleine und trat die volle Tüte in Richtung der Mülltonnen, die an der Straße standen. „Die blöde Bitch.“

„Hey.“ Joel trat an den Zaun und ließ seinen Schatten auf dem Bürgersteig zurück. „Sprich nicht so mit deiner Mom. Das is respektlos.“

Der wütende Gordon blieb stehen und starrte ihn erschrocken an, als könne er ebenso wenig wie Joel glauben, dass sie dieselbe Sprache sprechen konnten.

„Da rein.“ Joel deutete auf die schwarze Mülltonne, die in der Auffahrt stand. „Mach schon.“

Gordon hob artig den vollen Beutel auf und hätte sich auf dem Weg dorthin beinahe das gebügelte Hemd dreckig gemacht, weil er über die Schulter immer wieder zu Joel sah und dabei über seine eigenen Füße stolperte.

„Entschuldige dich bei ihr“, forderte Joel den verschreckten Jungen auf, als dieser zögernd zurück an den Zaun schlich. Sein Gesicht war voller Babyspeck und Kindercreme.

„Aber die ist gemein“, platzte es aus Gordon heraus. „Sie hat versprochen, dass ich nach dem Mittagessen Playstation spielen kann, und jetzt darf ich doch nicht!“

„Ihr habt ’ne Playstation?“ Joel sah über den Kopf des Bengels hinweg zur Tür. Die Mutter, für die er sich hier zum Deppen machte, war verstummt, und leise Musik ertönte aus den halb offenen Fenstern über der Garage.

„Sogar zwei.“ Gordon verschränkte stolz die Arme vor der Brust. „Mein Bruder hat auch eine. Und eine Xbox und zwei Handys. Ich habe auch ein Handy und einen eigenen Fernseher.“

Danke, Mann, dachte Joel und umfasste die schwarz glänzenden Gitterstäbe vor sich. Das war einfach. Das verzogene Kind würde sich noch wundern, wie lang einem die Zeit ohne Fernseher und Smartphone werden konnte.

„Wieso darfst du nicht damit spielen?“, fragte Joel, um Zeit zu schinden. Die Fensterrahmen waren nagelneu und an der Haustür war ein weiteres Sicherheitsschloss verbaut. Er kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, ob es ihn abschrecken oder anlocken sollte.

„Hab ’ne Drei in Mathe“, murmelte der Junge und trippelte betreten auf der Stelle.

Eine Drei. Ob er wusste, dass es Schlimmeres gab? „Geh und entschuldige dich“, wiederholte Joel und sah wieder zu Gordon, der ihn mittlerweile interessiert musterte.

„Ist das echt?“, wollte er wissen und zeigte auf Joels tätowierte Arme.

„Klar ist das echt.“

„Tat das weh?“

„So weh wie ’ne Drei in Mathe.“ Joel grinste wieder und der Kleine lächelte schüchtern zurück.

„Wer bist du?“, fragte der Junge, und im selben Moment meldete sich seine Mutter aus dem Hausflur zurück. „Gordon?“

Joel blinzelte ein letztes Mal zu der Hausnummer 3137. „Niemand“, antwortete er leise.

„Gordon? Wer ist denn das?“ Da stand sie, die Hausherrin, im Designerzwirn der teuersten Marke und mit knallrot geschminkten Lippen.

„Niemand!“, rief Gordon zurück, und als Joel den Zaun losließ und einen Finger an seine Lippen legte, nickte der Junge stolz, als wüsste er, dass sie jetzt einen Deal hatten.

Aidan stand rauchend neben der Einfahrt zu dem Appartementkomplex und begrüßte Joel mit einem Handschlag. „Du musst mir deine Nummer geben, Junge. Und ich dir einen Schlüssel.“

„Hättest nicht warten müssen“, erwiderte Joel und kam sich plötzlich dumm vor. Er begriff nach wie vor nicht, warum man sich hier nach einer Woche noch immer an ihn erinnerte.

„Ich hab da was für dich“, unterbrach Aidan Joels kläglichen Versuch, sich für irgendetwas zu entschuldigen.

„Was?“

„Du wolltest einen Job, du hast einen Job.“ Aidan sog genüsslich den Rauch ein und machte ein zufriedenes Gesicht.

„Ach ja?“

„Flipp nicht gleich aus vor Freude, Kleiner. Ich hab da mal ein oder zwei Kontakte spielen lassen. Kann ich doch nicht mitansehen, wie du dich von einer Frau aushalten lassen musst.“

„Hat sie dir verraten, was?“ Irgendwann würde Joel in dieser Suppe aus Mitleid und Hilfsbereitschaft ersaufen. Nummer 3137, wiederholte er stumm und sah das glänzende Türschild von Gordons Familie vor sich. 3137 Dollar Gewinn.

„Hat sie nicht“, gab Aidan zurück und trat seine Kippe aus. „Aber für dumm brauchst du mich auch nicht zu verkaufen.“ Er grinste. „Willst du’s jetzt wissen?“

„Sag an.“ Joel tastete nach der Zigarettenschachtel in seiner Jeanstasche. Zwei hatte er noch.

„Mein Farbdealer könnte eine Aushilfe im Laden gebrauchen. Du musst nicht viel machen, ein bisschen Kasse, ein bisschen aufräumen, ein bisschen nett sein. Kriegst du das hin?“ Aidan hörte plötzlich auf zu lächeln, und Joel wurde klar, dass man ihm nicht einmal das zutraute. Fays Vater hatte die Distanz zwischen ihm und der Welt außerhalb von Ghettos und Knastmauern als Erster ausgelotet. Das Ergebnis war die Summe aus blau glitzernden Augen, einem Nebel aus Farbverdünnern und demütigen Tischgebeten.

„Was denkst du denn?“, fragte Joel bewusst provokant zurück und erwartete, dass Aidan abwinken und es aufgeben würde.

Der blinzelte nachdenklich, griff sich in die wilden Locken, die nach allen Seiten abstanden, und kratzte sich am Kopf. „Joel“, sagte er dann, und Joel erkannte, dass sein Lächeln gar nicht verschwunden war. Aidans blitzende Augen waren voll davon. „Ich bin nur ein armer Schlucker ohne Studium. Ich hab keine Ahnung von Steuern und der neuesten Technik und werde nie Kinder haben. Wer bist du?“

Niemand, dachte Joel daraufhin und musste wegsehen. Niemand von euch.

„Du bist noch da?“, wunderte sich Fay, als sie durchnässt und mit schmerzenden Füßen die Haustür hinter sich schloss.

Natalia saß am Küchentisch und sortierte einen Stapel ungeöffneter Briefe, während sie billigen Früchtetee schlürfte. „Ihr müsst mich nicht bezahlen“, antwortete sie spitz und zielte treffsicher auf die letzten zwei Monate, in denen ihr Fays Vater kein Gehalt mehr überweisen konnte. Der Dispo war ausgereizt und die letzte von vier Kreditkarten gesperrt worden.

„Ich mach das schon.“ Fay griff in ihre Umhängetasche auf der Kommode und hielt Nat einen Zwanzigdollarschein hin. „Geh nach Hause.“

„Behalt dein Geld, mi amor.“ Nat schob Fays Hand aus ihrem Blickfeld. „Du kannst das alles hier später lesen.“

„Und bezahlen“, ergänzte Fay bitter und trat ihre Laufschuhe am Treppenabsatz von sich. Natalia seufzte nur, als könne sie den stummen Vorwurf gegen Richard damit entkräften.

„Wo ist er?“, wollte Fay wissen und hielt sich am Treppengeländer fest.

„Dein Vater? Irgendein Termin. Ich glaube, er wollte zu Dr. Bloomfield.“

Dr. Bloomfield also. Der langjährige Hausarzt der Familie Sundeen, der Fays Vater immer wieder Rezepte für wirkungslose Hausmittelchen in die Hand drückte und sich mehr mitleidig als scheinheilig nach Fays College-Bewerbungen erkundigte.

„Und Joel?“

Nat hielt inne und drehte sich auf ihrem Stuhl zu Fay, die immer noch wie ein Idiot an der Treppe und nicht längst unter der Dusche stand.

„Heute Morgen war er noch da“, gab sie zu Protokoll.

„Und dann? Hat er was gesagt?“

Nat schaute immer noch. War das Mitleid in ihrem Blick?

„Wenn du wissen willst, wohin er gegangen ist, kann ich dir nicht helfen, Fay.“

„Was hat er denn gesagt?“, beharrte Fay und wurde schon wieder ungeduldig.

„Er hat sich den Backofenreiniger über die Hände gesprüht. Zum Arzt wollte er nicht.“

„Damit muss man auch nicht zum Arzt“, wies Fay ihre Haushälterin unwirsch zurecht, dann fielen ihr das Blut in der Tankstelle und die noch frische Narbe auf Joels Handfläche ein.

Natalia zuckte mit den Schultern. „Er ist ein bisschen seltsam, oder?“

Vermutlich meinte sie mal wieder etwas anderes und nutzte seltsam als Lückenfüller für ihre sprachlichen Defizite.

„Finde ich nicht“, erwiderte Fay, und der trotzige Unterton summte leise in ihren Ohren.

„Ein bisschen traurig“, versuchte Nat es wieder.

„Damit kennen wir uns doch aus.“ Jetzt klang ihre Stimme leer und hohl wie die Flaschen in der Garage. Warum sah Nat Dinge, die Fays Verstand vor lauter Lächeln und Sexappeal ausblendete?

„Wir haben schon genug Traurigkeit in diesem Haus.“ Nat meinte es sicherlich gut, als sie das sagte und Fay damit endlich die Stufen hochjagte. Nicht aus Trotz oder Wut auf die arme Frau, die seit zwei Monaten keinen Lohn erhielt, nicht aus Dankbarkeit für ihre Antworten.

Es war die pure Scham, die Fay schließlich nackt und ungeschminkt zwischen Waschbecken und Toilette Joels Nummer wählen ließ.

Nach nicht einmal zwei Sekunden nahm er ab. „Stets zu Diensten, Prinzessin.“

Das warme Knäuel in Fays Magen begann zu beben. Er hatte ihre Nummer also endlich gespeichert.

„Was machst du?“, fragte sie lahm und versuchte, sich mit der freien Hand die Haare zu kämmen. Im Hintergrund rauschte Straßenlärm.

„Hab mit Aidan rumgehangen“, antwortete er.

Fay bildete sich ein, dass es etwas zu beiläufig klang. „Nat sagte, dir ging’s heute Morgen nicht gut“, platzte Fay heraus und riss unsanft die Bürste aus ihren Haaren. „Was ist los?“

„Nat spinnt.“

Sie hörte ihn lächeln und lügen.

„Es ist nichts.“

„Wirklich nicht?“

„Lass dir nichts einreden.“

Okay, dachte Fay und verschloss die Augen vor ihrem eigenen Spiegelbild. Okay. Red weiter.

„Ich hab jetzt ’nen Job“, offenbarte Joel.

„Das war Aidan, oder? Er ist ein Goldstück.“ Fay tastete blind nach ihrem Handtuch.

„Nein.“ Joels Stimme wurde leiser. „Dafür reicht’s noch nicht.“

„Wo denn?“

„Irgendein Geschäft. Ich geh gleich mal rüber und bin nett zu denen.“

„Bekommst du das hin?“

Joel lachte und das Knäuel begann langsam aufzuplatzen. „Was denkst du, Prinzessin?“

Das willst du nicht wissen. Fay blinzelte und Joels „Doch“ verriet ihr, dass sie es laut ausgesprochen hatte. Sie war verloren, was immer sie jetzt antworten würde.

„Sag es, Princesa.“ Die Forderung in Joels Stimme vibrierte unter Fays Haut und sie ließ das Handtuch wieder fallen.

„Mach genauso weiter“, flüsterte Fay. Ihr Gesicht im Spiegel verschwamm und fügte sich im Sekundentakt neu zusammen. „Dann bekommst du alles.“

„Sicher?“ Im Hintergrund war es vollkommen still geworden.

Fay stand am Waschbecken und spürte den Fliesenboden angenehm unter sich schwanken. „Komm doch her, wenn du mir nicht glaubst“, erwiderte sie und legte den Kopf in den Nacken, um das Gleichgewicht endgültig zu verlieren.

„Fay?“ Joels Worte hatten einen haarfeinen rauen Unterton angenommen, und als Fay sich erneut betrachtete, besaßen ihre Lippen den Schwung seines Namens. „Ich nehm dich beim Wort.“

Joel fühlte sich, als wäre er einen meilenweiten Marathon durch die Stadt gelaufen, als er wieder aus dem Laden trat, dessen Adresse Aidan ihm auf die Zigarettenschachtel geschrieben hatte.

Das bisschen Nett-Sein, das bisschen Lächeln und Nicken war es nicht, das ihn so erschöpft hatte. Auch nicht die Einweisung in die Bestandslisten des Lagers, die Produktnummern und die zwanzig verschieden Pinselgrößen, die ihm Liz, die Kassenkraft, gezeigt hatte. Fünf Minuten und dreizehn Sekunden mit Fays bebender, klirrender, säuselnder Stimme im Ohr hatten Joel in ein rückgratloses, ausgebranntes Wrack verwandelt.

Der Rückweg zu Aidans Appartement reichte nicht, um ihn wieder aufzurichten. Stattdessen ließ Aidan enttäuscht den Schneebesen sinken, als er in den Flur trat und Joel gerade seine Reisetasche schulterte. „Du gehst schon wieder? Ich backe gerade Muffins. Die Packung ist abgelaufen, aber scheiß drauf.“

„Ich denke, ich schlaf heute bei Fay.“ Joel fühlte sich ertappt und undankbar. Alles war neu und gleichermaßen scheiße wie anstrengend.

Aidan grinste vielsagend. „Du willst es wissen, was?“

Natürlich wollte er das. Wie sie roch, wie sie schmeckte, wie sie atmete und was er alles haben konnte, wenn er nur zu ihr kam und weitermachte. „Würdest du das nicht?“, fragte er deshalb zurück.

„Wenn ich du wäre, meinst du? Die Mädchen da draußen könnten mir den Arsch küssen.“ Aidan winkte mit dem rostigen Schneebesen und ging zurück in die Küche. „Übertreib’s nicht!“, rief er, als Joel die Wohnungstür hinter sich zuzog.

Er war so verlogen. Wenn die Tasche erst einmal bei Fay im Zimmer stand, würde Joel sie dort so schnell auch nicht wieder einpacken. So fing es immer an mit den Dates und den Zahnbürsten und T-Shirts, die sie dann trugen und die nur knapp den Hintern bedeckten.

Sollte sie doch. Joel zündete sich eine Zigarette an und stellte fest, dass das Feuerzeug, das er wie eine zweite Haut am Körper trug, schwächer wurde: Die Flamme zitterte und der heiße Kern begann, Funken zu schlagen.

Die Sonne schien in Sacramento schneller unterzugehen als in Los Angeles. Als Joel das Haus im Binghamton Drive erreichte, war sie bereits hinter den abziehenden Gewitterwolken am Horizont verschwunden und eine zähe Dunkelheit legte sich über die Straßen. Gordon Junior hatte seine Playstation, Aidan hatte seine Muffins und Joel wartete darauf, dass sich die Tür öffnete und die Welt ihm den Arsch küsste.

„Hey“, flüsterte Fay, und Joels Lunge füllte sich mit ihrem Duft nach Vanilleshampoo und Kaugummi, als er einen Schritt auf sie zumachte.

„Schläft er wieder?“, fragte er leise und horchte auf das Ticken der Küchenuhr, als die Tür lautlos ins Schloss fiel.

„Er ist nicht da“, antwortete Fay.

Joel folgte ihr die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie trug weder Dessous noch eines seiner T-Shirts, nur Jogginghosen und Tank Top, und lähmte dennoch jeden seiner Sinne. Ihre Schritte waren zögernd, als wolle sie sich jeden Moment umdrehen und ihn an all dem hindern, was Joel hier glaubte anzufangen. In der geschützten Höhle, die ihr Raum um sie beide webte, hielt Fay schließlich doch inne.

„Alles klar?“, wollte Joel wissen und ließ seine Tasche am Fußende ihres Bettes auf den Boden fallen.

Fay schien nach einer Antwort auf diese simple Frage zu suchen, dann kam sie ihm viel zu nahe und schlang wortlos die Arme um seinen Hals.

Joel wusste nicht, wessen Körper zuerst zu beben begann.

„Ich hab dich vermisst“, flüsterte sie irgendwo zwischen Hals und Brust direkt in Joels Herzmuskel, der wild um sich zu schlagen begann. „Es ist erst zwölf Stunden her, oder noch weniger, und wir haben telefoniert und …“

„Sei still“, war alles, was Joel herausbrachte, während er nach irgendeiner Stelle an ihr tastete, die ihn nicht unter Strom setzte. Durch ihre Schulterblätter hindurch spürte er ihren Herzschlag unter seiner vernarbten Handfläche, und weil er ohnehin keine Luft mehr bekam, presste er sie nur noch fester an sich. „Was machst du mit mir, Princesa?“, murmelte er und es war keine Frage, auf die er jemals die Antwort wissen wollte.

Fay rieb ihre Wange an Joels Hals, und als sie mit den Fingern über seinen Nacken fuhr, wäre er unter dem heißen Schlag, der ihn durchfuhr, beinahe in die Knie gegangen.

„Was denn?“, fragte sie zurück und hob den Kopf. Über ihrem Blick hing ein tiefblauer Schleier aus Lichtpunkten und Bedingungslosigkeit.

Joel hätte gekonnt, wenn er gewollt hätte. Jetzt sofort und maßlos übertrieben, allen Warnungen zum Trotz, die ganze verdammte Nacht lang. „Das Zittern“, antwortete er auf Spanisch, damit sie ihn weiterhin ansah und er jeden einzelnen Ausdruck in ihren Augen in sich aufsaugen konnte. „Das Vermissen, das Maßlose.“

„Sag’s direkt“, flüsterte Fay und Joel musste sich zwingen, das Zucken ihrer Mundwinkel auszublenden, das ihn einzuspinnen drohte.

„Muss ich das?“, fragte er erschöpft und nahm ihr Gesicht in beide Hände; sie glühte unter seinen Fingern. Er zog Fay zu sich und legte seine Lippen an ihre Schläfe, an ihre fein gezupften Augenbrauen, ihre Lider und wusste noch immer nicht, wie sie roch, wie sie schmeckte und atmete und wie er das jemals schaffen sollte.

Mercy Me

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