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2.

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Die Dunkelheit kam schnell und kündigte sich lediglich durch einen roten Streifen am Horizont an, den die Sonne dort zum Abschied hingerotzt hatte.

Fays Dad war nach drei Stunden Fahrzeit so müde geworden, dass er ihrem beleidigten Schweigen schließlich nachgegeben hatte.

„Du kannst dich auf die Rückbank legen“, bot Fay ihrem Vater an und Joel stieg daraufhin beinahe sofort aus. Er brauchte dringend eine Zigarette.

Während er rauchte, bugsierte Fay ihren Vater beinahe fürsorglich auf den Rücksitz und gab ihm ihre überlange Strickjacke, die er sich in den Nacken legen konnte. „Ich fahr vorsichtig“, versprach sie leise, dann ging sie zu Joel und nahm ihm die Kippe weg. „Wir müssen weiter.“

„Hast du noch ’n Lernführerschein oder warum stellt dein Alter sich so an?“

„Nein.“ Sie starrte ihm unverwandt in die Augen und die Sterne in ihrem Blau begannen zu tanzen. „Ich bin schon groß.“

„Wie groß? Darf ich?“ Er nahm einen letzten Zug, bevor er den Filter auf den Kiesweg fallen ließ, auf dem sie parkten.

„Achtzehn.“

„Achtzehn was?“

Fay lächelte, nicht starr, sondern messerscharf. „Such dir was aus, Honey.“

„Mach ich“, murmelte Joel und beobachtete, wie ihre Hüften leicht von links nach rechts schwankten, als sie zum Auto zurückging.

„Glaub, er schläft“, sagte er irgendwann leise, als sich das tintige Schwarz des Himmels mit der Umgebung vermischte.

Fays Armreifen machten ein klimperndes Geräusch, während sie leicht abbremste. „Gut.“

Aus dem hinteren Teil des Wagens vernahm man röchelnde Atemzüge.

„Lassen wir’s jetzt krachen?“ Es gefiel Joel, wenn sie lachte.

„Bist du dafür schon alt genug?“, fragte sie zurück, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Ihr Lächeln hinterließ winzige Grübchen auf ihren Wangen.

„Volljährig“, erwiderte Joel und dachte an seinen ersten Tag im California State Prison. Das Baby war er gewesen mit seinen neunzehn Jahren, der unbelehrbare Rebell. Der Phantomschmerz seiner längst verheilten Knochenbrüche pulsierte noch immer in seinen Fingerspitzen.

„Einundzwanzig, wow. Da kann ich ja noch was lernen.“ Fays Spott war nicht beißend. Vielmehr waren es ihre Haarspitzen, die bei jedem Luftzug durch das geöffnete Fenster an Joels Unterarm kitzelten. „Woher kommst du?“, fragte sie dann.

Er zog den Arm weg. „Aus L.A.“

„Ich meine, wo bist du geboren? Hier? Du klingst so …“

„Hört man das?“

Endlich sah sie ihn an. „Ist nicht schlimm. Klingt schön.“ Sie lächelte kurz und Joel rieb sich über die Wange; sein Kiefer knackte.

„Meine Mom ist in Mexiko geboren. Früher hat sie nur spanisch mit mir gesprochen.“ Was tust du denn da?, kreischte es plötzlich in seinen Ohren.

„Ja? Sag mal was. Ich weiß nur, was Ich liebe dich heißt.“

„Nein.“ Das Klimpern ihrer beschissenen Armreifen machte Joel plötzlich wütend.

„Warum nicht?“

„Einfach nein.“

Fay schien es endlich verstanden zu haben, denn sie schwieg und der grantige Alte auf der Rückbank grunzte im Schlaf.

„Halt mal an“, sagte Joel unvermittelt und versuchte, das schrille Piepen damit zu übertönen. Wenn er sich zu Tode rannte, hörte es vielleicht auf.

„Was? Warum?“

„Ich fahr nicht weiter.“

„Bitte?“ Fays Handgelenke am Lenkrad wurden erst weiß, dann rot. „Ich kann hier nicht anhalten, wir sind mitten auf dem Highway.“

Umso besser, dachte Joel. „Is mir egal.“

„Hab ich was Falsches gesagt? Tut mir leid.“ Wenn sie etwas retten wollte, konnte sie bei ihrem missmutigen, schlafenden Vater anfangen.

„Halt endlich an!“, fauchte Joel und richtete sich in seinem Sitz auf. Verlor sie niemals die Beherrschung? Fay nahm den Fuß vom Gas und lenkte den Wagen an den Straßenrand, sodass er mit einer Seite im trockenen Gebüsch stehenblieb.

„Was ist denn?“, fragte sie leise und die Scheißsterne tanzten vor Joels Augen auf und ab.

Er löste wortlos den Gurt.

„Es tut mir leid. Joel …“ Sie wollte nach seinem Arm greifen, doch Joel riss ihn hoch.

„Fass mich nicht an.“

Fay fuhr augenblicklich zurück. „Bitte“, flüsterte sie. „Nicht vor Dad.“ Es klang flehend.

Joel sah erst aus dem Fenster, dann zu ihr und bereute es beinahe sofort.

„Was immer es war, ich wollte es nicht. Okay? Ich kenne dich doch gar nicht und …“

„Was passiert, wenn ich jetzt aussteige?“ Es interessierte ihn wirklich und vermutlich hätte er es nur deswegen versucht. Oder eben nicht.

Fay starrte ihn nur an und schüttelte den Kopf.

„Was? Sag es.“

„Lass es bitte gut sein“, flüsterte sie und behielt ihre Hände glücklicherweise bei sich.

„Ich will ’ne Antwort. Du hattest auch eine, ist keine fünf Minuten her.“

Damit hatte er sie. Fays Blick zuckte kurz zu ihrem Vater, der nicht gemerkt hatte, dass sie parkten.

„Dann wird er wieder weinerlich und jammert, was das sollte und er … Ich ertrage das seit zwei Tagen. Bitte bleib hier.“

„Mach ich irgendwas besser?“ Das Kreischen wurde langsam leiser und hinterließ ein sanftes Rauschen in Joels Ohren, je flacher er atmete.

Im Dämmerlicht der Schweinwerfer verdunkelten sich ihre hellen Augen. Sie nickte nur.

Und weil Joel das schon einmal gehört hatte und nicht gegangen war, obwohl er sich längst zu Tode hatte rennen wollen, blieb er sitzen und zog seine Zigarettenschachtel aus der Tasche.

Fay hatte sich abgewandt und saß steif wie ein Soldat auf ihrem Platz, während der Motor im Leerlauf zu stottern begann.

„Hey.“ Joel riskierte eine kurze Berührung ihres Hemdärmels, als er ihr die Zigarette hinhielt. Sie sog den Rauch in einem langen Zug ein, ohne zu husten.

„Lass Daddy das nicht sehen“, sagte Joel leise und versuchte zu lächeln, obwohl es höllisch wehtat. Obwohl er lieber Tote in den Bergen suchen wollte. Oder selbst begraben werden wollte.

„Ich weiß, wie das läuft“, erwiderte Fay und legte den Hebel des Automatikgetriebes um. „Du auch?“

Joel brauchte dringend einen Job. Diese Kippen waren das letzte Mittel, um die Übelkeit in den Griff zu bekommen, und er wollte dieser Achtzehnjährigen mit den rostig-blonden Wellen im Haar und den Augen voller Sterne mehr bieten als tschechische Hehlerware und einen Wutausbruch. „Ich auch“, antwortete er. Dann schwor er sich, in dieser Nacht keine Sekunde zu schlafen, um nichts mehr sehen zu müssen, was billigster Tabak nicht in Wohlgefallen auflösen konnte.

Sie zitterte noch immer, als sie den Pick-up in die Garageneinfahrt lenkte und die Handbremse zweimal nachziehen musste.

Richard vergaß die Taschen im Kofferraum und schlurfte leise fluchend zur Haustür, während Joel an der holzvertäfelten Fassade hinaufblickte. Er stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Schick. Mit Garten?“

Wenn er gewusst hätte, dass der Maler seit zwei Monaten auf sein Geld wartete, hätte das spöttische Blitzen im Schwarz seiner Augen weniger Funken geschlagen. Fay schaffte es nicht, dem auszuweichen. „Nein. Den haben wir verkauft. Zu viel Arbeit.“ Für drei Personen ein Kinderspiel, in dem einer von ihnen seit Jahren schummelte. Natalia, ihre Haushälterin, hatte das Gemüsebeet bis zuletzt mit Zähnen und Klauen verteidigt. Jetzt pflanzte sie ihren Oregano auf der Veranda an, wo er lustlos vor sich hin trocknete.

„Ich hau mal ab. Mommy wartet sicher schon.“

„Ja. In Ghana.“

Joel hob eine Augenbraue und Fay hätte ihm in diesem Moment die Überraschung am liebsten vor die Füße gespuckt.

„Sie ist Entwicklungshelferin“, fügte sie noch hinzu, dann zerrte sie ihren Rucksack aus dem Auto. All die schönen Kleider. Joel reagierte unbeeindruckt und Fay fürchtete, dass sie an ihrem eigenen Unglauben irgendwann ersticken würde.

„Komm.“ Er nahm ihr den Tragegurt aus der Hand und folgte ihr zur offenen Haustür.

„Gut erzogen“, konstatierte Fay und versuchte, ihre Erschöpfung über die Absurdität der Situation zu übertünchen.

Joel blieb auf der Schwelle stehen und schien zu lauschen.

„Komm rein.“

„Lieber nicht.“

„Dad beißt nicht.“

„Du verstehst kein Nein, oder?“

Komm, dachte Fay und hielt seinem Blick stand. Komm, schieß doch. „Hast du etwa Schiss?“ Sie lächelte und Joels Augen wurden schattig.

„Vor nichts“, gab er zurück, wich ihr jedoch aus, als sie die Hand nach ihm ausstreckte.

„Wir haben ein Gästezimmer, du kannst hier schlafen. Stell dich nicht so an, Honey.“

„Ich find schon was.“ Joel schulterte seine Tasche und von oben erklang ein Poltern. „Siehst du?“, sagte er daraufhin und Fay hatte es geahnt. Er sah es auch.

„Okay“, murmelte sie und starrte auf seine Hand, an der das Blut mittlerweile zu einer dünnen Kruste getrocknet war. „Dann … Wenn du noch was brauchst …“

Er begann genau im richtigen Moment zu lächeln und griff blitzschnell nach Fays Schwachpunkt. „Was glaubst du denn?“

„Okay.“ Fay ließ achtlos ihren Rucksack im Flur fallen. „Weißt du was? Das wird mir jetzt zu blöd. Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder bleibst du heute Nacht hier …“

„Oder?“

Wer oder was amüsierte ihn gerade so? Sie strich sich betont gleichgültig das Haar zurück. „Oder du gibst mir deine Nummer und wir … Dann können wir …“

„Verstehe.“

Einen Scheiß tat er.

Joel lehnte sich mit der freien Schulter an den Türrahmen und die kalte Nachtluft kroch an Fays nackten Beinen entlang. „Hast du ’n Stift?“, fragte er.

Fay fand gleich drei in ihrer Hemdtasche, jedoch keinen Funken Selbstachtung, als er eine Handynummer auf ihre offene Handfläche schrieb. Der Kugelschreiber bohrte sich unangenehm in ihre Haut, doch sie konnte nur auf seine tätowierten Finger starren, die sich um ihre eigenen gelegt hatten.

„Hab nur ’n altes Prepaidhandy.“ Joel sah auf und hielt ihr den Stift hin. „Reicht dir das?“

„Was denkst du denn?“, stellte sie die Gegenfrage und ihre Stimme kippte erst nach rechts, um sich anschließend zu überschlagen.

An Joels Hals spannte eine Sehne und er roch nach Deo und Rauch. „Abwarten.“ Er lächelte noch immer. „Mach’s gut, Princesa.“

Fay ließ ihren Vater poltern und Türen knallen und schloss sich in ihrem Zimmer ein, ein Akt der Verzweiflung und inniger Wunsch nach einer Erklärung. Die Digitaluhr ihres Weckers zeigte halb eins in der Nacht an. Für einen Hilferuf war es längst zu spät.

Sie hätte Tanisha anrufen können. Die süße, liebe Tanisha mit dem Afrohaar und den vielen Ohrsteckern, die in der High School wegen ihrer glitzernden Fingernägel von den Cheerleadern ausgelacht und geschnitten worden war. Die Fay bewunderte und stets ihr riesiges Lunchpaket mit ihr geteilt hatte, weil außer Kaffee und trockenem Toast mal wieder nichts im Haus war. Die sich nach ihrem gemeinsamen Abschlussball hinter der Turnhalle mit Fay die Kante gegeben und Fays Ex-Freund mithilfe eines gefälschten Instagram-Profils auf der letzten Hausparty bloßgestellt hatte. Leider hatte Tanisha jedoch auch diese Art von Eltern, die wie ein Wachhund vor ihrem Zimmer auf und ab liefen und ihre Tochter um Punkt elf Uhr ins Bett schickten.

Fay hörte ihren Vater am Ende des Flurs im ehemaligen Elternschlafzimmer heulen. Morgen früh würde es ihm wieder leidtun, wettete sie bitter und tippte Joels Nummer in ihr sechshundert Dollar teures Smartphone. Wo wollte er heute Nacht schlafen, wenn nicht hier? Geld hatte er keines, auch, wenn er das nie behauptet hatte.

Fays Zimmer glich einer diesen Deckenhöhlen, in denen die Luft irgendwann knapp wurde. Ihr Bett hatte ihren Vater ein halbes Vermögen gekostet, King Size, extraweich. Schon als Kind hatte sie sich liebend gern in ihren Kissen vergraben und Mommys Klavierstücken wie durch dichten Nebel gelauscht.

Wenn Fay ihm jetzt schrieb, würde er glauben, sie hätte das nötig. Ratlos starrte sie auf ihr Telefon, während ihr Körper immer tiefer in die Matratze einsank, bis das Wehklagen ihres Daddys schließlich leiser wurde. Morgen, wenn der Kühlschrank leer und die Garage aufgeräumt waren, würde er sich dafür in Grund und Boden schämen, Fay in seliger Eintracht an seiner Seite. Er hatte wenigstens ein Bett und ein hypothekenschweres Dach über dem Kopf. Eine Ex-Frau, die überall, aber nicht in Ghana zu dieser Entwicklung beigetragen hatte. Und Fay, die kein Wort Spanisch verstand und in einem Himmelbett schlief, um die Prinzessin zu bleiben, für die man sie hielt.

Die Muskeln in Joels Beinen brannten und drohten, sich bei jedem weiteren Schritt in den gleichen Rauch aufzulösen, den er ununterbrochen inhalierte. Seit zwei Stunden lief er Straße für Straße in diesem piekfeinen Viertel auf und ab und würde natürlich kein Bett finden, in dem er hätte schlafen können.

Die Schachtel, die Finn ihm heute Mittag großzügig zugeworfen hatte, war beinahe leer. Joel blieb an einer Kreuzung stehen und schaute müde erst nach rechts und dann nach links und erkannte in der Ferne ein McDonald’s-Schild, das ihm in der Dunkelheit freundlich den Weg leuchtete. Er hatte sich schon weniger stilvoll die Nächte um die Ohren geschlagen. Die nahmen jeden auf. Ein 24-Stunden-Sammelplatz für arbeitslose Dealer und verlorene Kinderseelen. Herzlich Willkommen, strahlte es ihn an der verglasten Eingangstür an und Joel roch Bratfett und kalte Pommes.

Natürlich wäre er lieber bei Fay geblieben, dachte er und schob sich direkt neben dem Kinderspielplatz auf eine der Kunstlederbänke. Es wäre sicher nett gewesen, in diesem großen Haus mit grünem Vorgarten und hölzerner Veranda ein Bier zu trinken und Fays lange Beine zu bewundern. Sie war hübsch, duftete nach Sonne und Kaugummi, und hätte ihr knurriger Dad weiter in seinem Pick-up geschnarcht, hätte Joel ihr Angebot logischerweise angenommen. Er war ja nicht völlig blöd. Aber er wollte auch etwas ändern, hatte er Finn ja gesagt. Bisher war noch alles beim Alten. Er saß nachts todmüde in Imbissbuden und für einen Joint fehlte ihm das Geld.

Kinder waren um diese Uhrzeit keine mehr da und bis auf ein flüsterndes Pärchen, das sich ein Softeis teilte, und drei ältere Damen mit Rollkoffern, die eine Stadtkarte studierten, war der Laden leer.

Joel rieb sich das Gesicht, legte die Handflächen aneinander und betrachtete andächtig seine vernarbten Fingerknöchel. Süß, wie sie versucht hatte, von seinem Laienschauspiel in der Tankstelle abzulenken. Das hatte er schon als Zehnjähriger besser gekonnt. Im nächsten Augenblick ärgerte Joel sich darüber, dass man seinen Akzent offensichtlich noch immer hörte und Fay ihn mit ihrem flehenden Blick am Weglaufen hindern konnte. Würde das noch öfter vorkommen, hätte er sehr bald ein neues Problem.

Gut, dass er ohne Gras nicht schlafen konnte. Gut, dass er hier zwei Meilen entfernt von ihr und dem beeindruckenden Haus saß, in dem sie gerade nackt in diesem Bett lag, das Joel vor zwei Stunden ausgeschlagen hatte. Er hatte sich schwer geirrt, wie ihm daraufhin klar wurde. Er war völlig blöd. Keine Huren mehr, betete er sich stumm vor und starrte auf die Eingangstür. Danke für Ihren Besuch. Fay war keine Hure. Huren trugen keine Hollister-Shorts und dufteten nicht nach irgendetwas Teurem, für das Joel weder auf Englisch noch auf Spanisch einen Namen fand. Wenn sie mehr als nur einen Blowjob anboten, waren sie teuer und ungeduldig und merkten sich seinen Namen einmal zu oft.

Die Fahrt nach Sacramento hatte ihn keinen Cent gekostet.

„Hallo?“ Joels Schultern zuckten. An seinem Tisch war eine Frau stehen geblieben, geschätzte vierzig Jahre alt, mit nachlässig zurückgesteckten Haaren. „Hast du vielleicht Hunger?“, fragte sie und Joel hörte es schon wieder. Dieser Akzent. Ihre braunen Augen funkelten und sie lächelte freundlich.

„Nee, danke“, murmelte er und sah wieder zur Tür. Warum waren alle in dieser Stadt so beschissen nett?

„Du sitzt hier ganz allein, siehst müde aus … Ich kenne das“, fuhr sie fort und griff in ihre weiße Stofftasche.

„Ach ja?“

„Oh ja“, erwiderte sie. „Hier, nimm das. Ist eh zu spät für mich.“ Die nette Frau stellte Joel die Tüte auf den Tisch, die sie hervorgekramt hatte, und er sah kurz zu ihr auf. Auch sie hatte diesen müden Schatten unter den Augen.

„Hab ich das verdient?“, wollte Joel auf Spanisch von ihr wissen und das Gesicht der Fremden hellte sich schlagartig auf. Irgendetwas stimmte hier nicht.

„Nimm es an“, antwortete sie in Joels Muttersprache und tippte gegen das braune Papier. „Wer da hat, dem wird gegeben werden.“

„Eigennutz“, murmelte Joel, trotzdem musste er lächeln. „Kenn ich.“

„Wer nicht? Jeder muss überleben, auch du.“ Als sie ihm kurz die Hand auf die Schulter legte, fuhr ein heißer Strom bis in Joels Beine und lähmte ihn von innen heraus.

„Warum?“, wollte er unfreiwillig wissen. Genau solche Fragen hatten ihn als Zehnjährigen auch in die Scheiße geritten. Früher war gar nichts besser gewesen.

„Wer bist du denn?“, fragte die Frau und der spanische Singsang zwischen ihnen dröhnte in Joels Ohren.

„Joel“, antwortete er leise. Die Tüte vor ihm versperrte ihm den Blick zur Tür, die sich für seinen Besuch bedankte.

„Siehst du“, sagte die Frau, doch er sah gar nichts mehr. „Ich bin Natalia. Vor Gott sind wir alle gleich.“ Endlich nahm sie die Hand weg. „Ich hab einen ganzen Kühlschrank voll mit Essen. Du auch?“

Er schüttelte nur den Kopf.

„Dann nimm es ruhig an, es würde mich sehr glücklich machen. Hab noch eine ruhige Nacht, Joel.“ Sie winkte zum Abschied.

Joel blinzelte zweimal, dann war sie fort und mit ihr die Wärme in seinem Rückgrat. Die Starre in seinem Innern löste sich auch dann nicht, als er den ersten Bissen nahm, und den zweiten und dritten.

Der Burger schmeckte nach nichts und wieder nichts und die Pommes waren zäh wie Gummi. Dennoch versuchte Joel, eine Frau namens Natalia glücklich zu machen, indem er kaute und schluckte und dort sitzen blieb, damit es eine ruhige Nacht war, in der sich trotz all seiner Bemühungen nichts geändert hatte.

Mercy Me

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