Читать книгу Mercy Me - Nina Kay - Страница 9
3.
ОглавлениеSie hatte ihm noch immer nicht geschrieben. Als Fay um halb acht am Morgen unter die Dusche stieg und das warme Wasser ausfiel, dachte sie nur an Joels verspanntes Lächeln und es war ihr wenigstens fünf Minuten lang egal, dass ihr Vater seit den frühen Morgenstunden vor einer Tasse kaltem Kaffee saß.
Um neun Uhr würde Natalia kommen und alles abspülen. Sie würde auch die Scherben im Schlafzimmer beseitigen, das Bett abziehen, die Kotze mit irgendeinem Zauberserum aus dem Teppich schrubben und Fay später eine Portion des Mittagessens warm stellen. Ohne Natalia wären sie schon vor Jahren verhungert.
Sollte Fay ihn fragen, wo er die Nacht verbracht hatte? Hatte er eine andere Frau gefunden, die ihm ein Bett anbot? Ohne Vater? Ohne Scherben?
Nicht zuletzt hatte Fays Eifersucht ihre Beziehung zu Justin, dem Anwaltssohn aus gutem Hause mit einem Collegestipendium, vergiftet.
Sie antwortete nicht, als sie in die Küche trat und ihr Vater ein „Guten Morgen“ in den Raum murmelte. Für Fay war kein kalter Kaffee mehr übrig, deswegen trank sie Leitungswasser.
„Setz dich, Babygirl“, bat ihr Vater. Er war seit zwei Wochen krankgeschrieben und seit zwei Wochen führten sie diese Konversation.
Fay trocknete sich die Hände ab. „Ich muss zur Arbeit“, erwiderte sie knapp. Auch das hatte Justin gestört. Warum tust du das? Hast du’s so nötig?, hatte er sie gefragt und Fay hatte ihm wieder und wieder dieselbe Lüge erzählt: dass sie das Geld spenden würde. Nach Afrika, an ihre Mutter und die ganzen Kinder, die noch nicht einmal einen Küchentisch besaßen, an dem sie ihr verseuchtes Trinkwasser trinken konnten.
„Tut mir leid“, sagte Richard, als ob er noch immer Fays Gedanken lesen konnte.
„Was denn, Dad? Was tut dir leid?“ Sie fand eine halb volle Wasserflasche im Kühlschrank und hielt sie schützend vor ihre Brust.
„Das Ganze … dieser Ausflug, das war keine gute Idee.“ Er suchte ihren Blick und Fay starrte zurück.
„Ja“, sinnierte sie. „Keine gute Idee, Geld auszugeben, das man nicht hat, und anschließend die Minibar im Hotel leer zu saufen.“
„Fay, bitte.“ Richard verschränkte die Finger ineinander und sah auf die Tischplatte. „Als du mir Los Angeles vorgeschlagen hast, wollte ich dir diesen Wunsch nicht abschlagen. Das war dumm, ich hätte es wissen müssen.“
Fay wartete und dachte wieder an Joel. Warum wollte er so plötzlich anhalten und weglaufen? Wovor?
„Ich war vor fünfzehn Jahren zuletzt in L.A.“, fuhr Richard fort. „Mit deiner Mom. Wir hatten uns spontan zwei Tage Urlaub genommen, einfach so. Einfach mal raus.“
„Und?“ Fay hob die Schultern. „Willst du jetzt eine Entschuldigung von mir?“
„Nicht doch. Es war einfach zu früh.“
„Weißt du eigentlich, was du da sagst?“
Richard nickte nur und Fay klammerte sich noch immer an die Wasserflasche.
„Das ist fünfzehn Jahre her, Dad. Meinst du nicht, dass es langsam reicht?“ Wie oft hatte sie ihn das in den letzten Jahren gefragt? Wie oft würde sie das noch tun?
„Ich weiß nicht, wann es reicht, Fay“, gab ihr Vater leise zu und Fay tat sein bekümmerter Blick in den Augen weh. „So ist es nun mal.“
„Dass dir das nicht langsam lächerlich vorkommt“, erwiderte sie leise und griff nach ihrer Tasche auf der Kommode im Flur. „Du bist kein Teenager mehr.“
„Rede nicht so“, wies Richard sie zurecht, doch es klang so gleichgültig, dass Fay sich einen Wutausbruch verkniff. Er würde ohnehin nur starren und schniefen und seinen Kummer später in die Toilette kotzen.
„Was war eigentlich mit dem Jungen gestern?“, rief Richard ihr nach, als sie schon fast auf der Veranda stand.
„Nichts“, gab Fay zurück, doch ihr Vater war ohnehin taub für ihre Lügen.
Der Weg zu dem kleinen Donutladen, in dem sie diese Ausflüchte finanzierte, dauerte mit dem Auto keine zehn Minuten und Fay kam viel zu früh dort an. Sie wartete im Wagen und rauchte eine ihrer wohlgehüteten Zigaretten, die Natalia ihr geschenkt hatte. Teuer waren die, extra lang mit verschnörkelter Schrift auf der Schachtel. „Für schlechte Zeiten“, hatte Nat geflüstert und das Päckchen in Fays Ausschnitt gesteckt.
Fay sah minutenlang auf die leere SMS, die sie seit gestern Abend geöffnet hatte, und stieg schließlich aus, ohne Joel verraten zu haben, wie wenig ihr wirklich reichte.
–
Die Mitarbeiter von McDonald’s hatten Joel irgendwann freundlich, aber bestimmt aufgefordert, zu gehen, wenn er nichts mehr bestellen wolle. Er hatte auf die leere Tüte gezeigt, die ihm die ebenso freundliche Natalia geschenkt hatte, doch die Kassiererin hatte nur mitleidig gelächelt.
Also war Joel wieder auf Wanderschaft gegangen, in der Hoffnung, noch mehr von diesen netten Menschen zu treffen und über diese Erfahrung vielleicht sogar einen kostenlosen Joint oder eine heiße Dusche abgreifen zu können.
Warum hatte er nicht nach Fays Nummer gefragt? Jetzt hatte sie seine und dachte mit Sicherheit nicht im Traum daran, ihn anzurufen und erneut hereinzubitten.
Er streifte ziellos umher, vorbei an Bahnstationen, Supermärkten, Kirchen und einer Grundschule, bis er schließlich doch wieder am Binghamton Drive vor dem Haus mit Garage und Veranda landete. Der Pick-up war fort, aber Joel wusste, wie man wartete. Er lehnte sich an das Straßenschild, das direkt neben dem Vorgarten stand, und spürte, wie das Blut wütend durch seine Rückenmuskulatur pulsierte. Er war seit achtundvierzig Stunden wach. Alles und nichts tat ihm weh. Das Quellwasser in seiner Reisetasche war ebenfalls leer und seine Lunge fühlte sich an, als würde sie in genau zwei Stunden und dreiunddreißig Minuten zu Staub zerfallen.
Fay bog gerade noch rechtzeitig in die Auffahrt ein, als die unzähligen Kirchen um sechs Uhr am Abend zur vollen Stunde läuteten. Sie sah schrecklich müde aus, dachte Joel und als sie ihn erkannte, wie er dort auf dem Bürgersteig nach Luft rang, rutschte ihr die Tasche von der Schulter. Vielleicht war sie ihr zu schwer?
Joel brauchte viel zu lange, um sie zu erreichen und Fay hob nur hilflos die Hände. „Ich wollte mich melden“, setzte sie an. „Wirklich, ich …“
„Wer hat das verlangt?“, unterbrach Joel sie, und statt einer Antwort trat Fay einen Schritt nach vorn. Es war vielmehr ein Fallen, als sie die Stirn gegen seine Brust lehnte und ein schrilles Alarmsignal in Joels Ohren ertönte. War es jetzt so weit? Sie war doch pünktlich gewesen.
„Tut mir leid“, flüsterte Fay irgendwo tief in seinem Innern. „War ’n harter Tag.“
Mach das, säuselte es durch das Piepen hindurch in Joels Kopf und er hob langsam die Hand und griff in Fays Nacken. Mach weiter, mach weiter. Ihr Haar war weich und nachgiebig, als er seine Finger darin vergrub und die Wange an ihre Schläfe lehnte. Alles an ihr war warm.
„Wird gerade besser“, murmelte Joel und musste die Augen vor seinem grenzenlosen Leichtsinn verschließen. Er atmete noch immer.
„Gut, dass du da bist.“ Fay impfte die Worte durch Joels erste Tätowierung auf der Brust direkt in sein Herz, wo sie mitgerissen und konserviert wurden, durch jeden Muskel und jeden müden Knochen rauschten und Joel wieder zusammensetzten.
„Das hab ich ewig nicht gehört“, flüsterte er zurück. Während er noch hoffte, dass Fay ihn nicht verstanden hatte, dass er vielleicht auf Spanisch gesprochen hatte, schlang sie, ohne aufzusehen, die Arme um seine Hüften. Sein Becken stieß leicht gegen ihres und Joel wusste plötzlich, was dieses Stolpern, dieses Fallen war. Halt dich fest, beschwor es ihn und er griff instinktiv um Fays Schultern.
„Bleibst du?“, fragte sie leise, beinahe schüchtern.
Joel fragte sich, ob nur er diesen bittenden Unterton hören konnte. Er drückte sein Gesicht in ihre Halsbeuge und atmete Fays Parfüm wie Nikotin. Er durfte das nicht. Er würde ein Problem bekommen. Ein Neues, eines, das man nicht verurteilen, wegsperren und vergessen konnte.
„Heute“, gab er zurück und seine raue Stimme schnürte ihm die Luft ab. „Nur heute.“
Noch Stunden, nachdem er sie losgelassen hatte, konnte Joel die Brandblasen auf seiner Haut fühlen. Das hatte nichts mit einem Schluck Wodka zu viel oder einer Nacht auf Partydrogen zu tun, wie ihm bewusst wurde, als er in Fays abgedunkelten Zimmer stand. Gegen einen Kater gab es Aspirin. Gegen das riesige Kingsize-Bett half nur ein totales Koma. Joel war schon wieder hellwach.
„Wo ist Daddy?“, wollte er wissen, als Fay in Leggings und Tank Top aus dem Bad zurückkam.
Sie sah ihn nicht an, als sie antwortete. „Bei Freunden vermutlich. Willst du duschen? Den Flur runter rechts.“
Joel beobachtete, wie sie die Bettdecke zurückschlug, das Laken glatt zog und den Fernseher auf der Kommode neben dem Bett anschaltete. Er hatte seit Monaten kein TV gesehen.
Als Fay sich auf die Matratze fallen ließ und ihm den Rücken zuwandte, zeichnete sich unter ihren Leggings ein dünner String aus Spitze ab. Joel musste sich umdrehen und das Badezimmer suchen gehen, bevor sie merkte, dass sie ihn mit ihren langen Haaren, ihren runden Brüsten unter dem Top und der knappen Hose elend scharfmachte.
Sie besaß eine Badewanne, eine separate Dusche und mindestens fünfzehn Parfümflakons auf dem Regal neben dem Waschbecken. Welcher davon legte Joels Sinne so dermaßen lahm?
Er berührte jedes einzelne Fläschchen mit dem Finger, dann sah er in den Spiegel und strich sich das Haar aus der Stirn. Verflucht, sah er scheiße aus. Seine Augen waren blutunterlaufen vor Erschöpfung und der dunkle Schleier in seiner Iris warf lange Schatten über sein Gesicht.
Die Wunde auf der rechten Handfläche war verklebt und das geronnene Blut an dem Schnitt löste sich, als Joel die Hände in den heißen Duschstrahl hielt.
So wollte er Fay ohnehin nicht anfassen. Die Haut an ihren Wangen und ihrem Dekolleté war glatt wie Porzellan. Wie würde Joel sie zurichten, wenn er diese Stellen nur ein einziges Mal berührte?
Eine der größeren Narben am Rücken begann zu spannen und er versuchte sie zu verbrennen, indem er die Wassertemperatur hochdrehte. Vielleicht half das. Vielleicht würde der Schmerz auf seiner Haut irgendwann durch denselben Gleichmut abgelöst werden, den die Schatten in seinen Augen heute bloßgestellt hatten. „Nur heute“, murmelte Joel wieder, diesmal auf Spanisch, und konnte zusehen, wie sich die Worte in Wasserdampf auflösten.
–
Fay hatte zwei Überstunden geleistet und eine Wochenendschicht mit ihrem Kollegen getauscht. Sie war im Supermarkt gewesen und hatte neue Wasserflaschen und Waschmittel gekauft und sie anschließend im Einkaufswagen vergessen. Das Geld war verloren, ihre Geduld am Ende und ihr Körper erschöpft. Neun Stunden hatte sie hinter der Theke gestanden und pappsüßen Kaffee verkauft, und dann stand er dort in der Einfahrt. Das Schwarz in Joels Blick war seltsam aufgeweicht, als hätte jemand Bleiche hineingeträufelt, und sein Lächeln erreichte seine Augen nicht.
Hätte Fay darauf bestanden, dass er die erste Nacht in Sacramento nicht irgendwo auf der Straße, sondern hier, bei ihr, auf dem Sofa, im Gästezimmer oder auch in der Badewanne verbrachte, es hätte gereicht.
Er verbrachte mittlerweile eine knappe Stunde im Bad und sie fragte sich über eine Reality Show, deren Einspieler gerade startete, ob Joel sich unter dem Duschkopf mit zehn verschiedenen Strahlstärken ertränkt hatte.
Fay starrte blicklos auf den Fernseher, in dem die Kandidaten gerade erläuterten, wie hart es war, völlig nackt in der Wildnis einer Pazifikinsel zu überleben. Wenn die wüssten, wie schnell man reagieren musste, damit einem ein knapp zweihundert Pfund schwerer Mann mit knapp drei Promille Alkohol im Blut nicht unter den Händen die Treppe herunterrutschte. Wenn die nur ahnen würden, wie fest man die Zähne zusammenbeißen konnte, um nicht in Tränen der Wut auszubrechen. Ein Schlangenbiss wäre Fay lieber gewesen als jedes falsche Lächeln.
Die Holzbohlen knarrten und sie wusste, ohne sich umzudrehen, dass Joel sich nicht ertränkt hatte.
„Und jetzt?“, fragte er leise und seine Stimme schlitterte unstet durch den Raum.
„Komm her“, sagte Fay und in ihrer Kehle begann es zu flattern. Sie kannte ihn doch überhaupt nicht. Sie wusste doch überhaupt nichts von ihm. Woher die Narben und das Blut an seiner Hand kamen, wer ihn heimatlos in Los Angeles ausgesetzt hatte.
Sie hörte Joel atmen und wandte sich um. „Bist du so schüchtern?“ Vielleicht konnte er sie lächeln hören.
Es knarrte erneut, als er an die andere Seite des Bettes trat. „So vorsichtig“, korrigierte Joel sie; er lächelte nicht.
Fay strich sich das Haar zur Seite und sah zu ihm auf. „Was soll passieren?“
Er trug ein frisches T-Shirt und eine dieser Jogginghosen, deren Schnitt an den Waden enger wurde. Justin hatte das immer schwul gefunden. Fay fand das anziehend. Einer von tausend Gründen.
Joel antwortete nicht und Fay drehte sich wieder zum Bildschirm. „Dann bleib dort stehen“, sagte sie und legte sich eine Hand über die Augen. Ihre letzte Kopfschmerztablette war erst drei Stunden her.
„Was würde dein Dad sagen?“
Wieder fuhr sie herum. „Ich will davon nichts mehr hören, okay? Er ist nicht da und ich bin hier. Das läuft hier alles ein bisschen anders, als du es dir vorstellst. Schlaf meinetwegen unten auf dem Sofa, aber lass mich damit zufrieden.“
Dann war es sehr lange sehr still. Fay nickte über ihrem Unwillen und dem Flimmern der nackten Überlebenden ein, bis die Matratze neben ihr nachgab und der Geruch von Deo und Aftershave das Bett flutete. Joel kam ihr so nahe, dass seine Stimme in ihrem Nacken vibrierte. „Tut mir leid“, murmelte er nur.
Fay musste sich auf den Rücken drehen, um die Gänsehaut zu verstecken, die sein Gewicht neben ihr auslöste. Sie hatte unterschätzt, wie dicht Joel bei ihr lag. Ihre Schulter stieß gegen seine Brust und sein Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter vor ihrem.
„Wer bist du?“, flüsterte sie, dann setzte ihr Herz zum ersten Mal einen Schlag aus.
„Niemand“, antwortete Joel kaum hörbar.
„Woher kommst du?“
„Nirgendwoher.“
„Warum hast du gestohlen?“
„Grundlos.“
Fay wollte einen Finger an seine Halsschlagader legen, um zu prüfen, ob auch sein Puls rückwärts schlug; sie wagte es nicht, denn Joels Hände lagen seltsam verkrampft zwischen ihnen auf dem Laken. „Welches Rätsel muss ich lösen?“, fragte sie leise und endlich lächelte er, doch es war so freudlos, dass Fay die Bitterkeit darin schmecken konnte.
„Gar keins“, flüsterte Joel zurück, und als er blinzelte, waren die letzten Lichtpunkte in seinen Augen erloschen. „Bitte.“
–
Nach genau zwei Stunden und vierundzwanzig Minuten Schlaf war das Erste, was Joel sah, dieser Betthimmel, der voller Lichterketten hing.
Ihm war nach einer oder besser zwei Zigaretten zumute. Fay lag noch immer neben ihm, genau so, wie er sie seit gestern Abend in Erinnerung behalten hatte, bevor ihm endlich die Augen zugefallen waren. Ihr Top war am Rücken hochgerutscht und entblößte die Grübchen über ihrem Steißbein.
In Joel regte sich etwas. Ein Flattern in seiner Brust, ein Ziehen irgendwo in seinem Magen, das bis in seine Lenden reichte. Nein, appellierte er an das verdächtige Säuseln in seinem Hinterkopf, obwohl er lieber Ja gesagt hätte. Nur heute, versuchte Joels Instinkt mit ihm zu feilschen, doch er blieb bemüht stur. Statt dem Drang nachzugeben, mit den Fingern den schmalen Streifen gebräunter Haut nachzufahren, neigte er den Kopf zu ihr. Ein Zittern fuhr erst durch Fay und dann durch Joel selbst, als er das Gesicht an ihren Nacken legte und ihren Namen flüsterte.
„Hm“, machte sie nur und lehnte sich in seine Berührung hinein, sodass seine Lippen für den Bruchteil einer Sekunde ihre nackte Schulter streiften.
„Hast du ’ne Kippe für mich?“, fragte Joel leise und ihre Haare kitzelten an seinem Hals. Er musste dringend hier raus.
„In meiner Tasche“, murmelte Fay und wollte blind nach ihm greifen, doch Joel zog die Hand weg.
„Danke“, flüsterte er, rieb seine Nase noch einmal an der warmen Haut zwischen ihren Schultern und floh anschließend barfuß die Treppe nach unten ins Erdgeschoss. Wer wusste, wann er dazu wieder die Gelegenheit bekommen würde.
In der Küche saß Big Daddy und las Zeitung. Er sah auf, als Joel beinahe lautlos an ihm vorbei in den Hausflur trat. „Ach“, gab er von sich, und dann: „Morgen.“
„Hi“, murmelte Joel nur und griff in Fays Umhängetasche, die im Flur auf dem Boden lag. Sie hatte sie gestern Abend achtlos dort hingeworfen und alles war noch genau so, wie sie es zurückgelassen hatten. Ein Umstand, der Joel völlig neu war. Wann immer er in sein Appartement zu Finn und dem jämmerlichen Rest von ihnen zurückgekehrt war, fehlte irgendetwas oder stand zusätzlich im Raum. Immer und ausnahmslos.
„Was soll das?“, wollte Big Daddy von ihm wissen, als er die Schachtel mit den Zigaretten gefunden hatte.
„Ich geh eine rauchen.“ Joel spürte, wie Fays Vater ihn mit seinem Blick von hinten aufspießte. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Nein blieb nein und er trug eine Hose.
„Wo ist Fay?“ Ihr Dad ließ die Zeitung sinken und Joel drehte den Schlüssel im Schloss.
„Oben, wo sonst?“
„Und seit wann … ich meine, wann bist du …“
„Nehmen Sie’s mir nicht übel, Sir, aber ich geh jetzt rauchen. Ist dringend.“ Joel schob sich eine dieser Girlie-Zigaretten zwischen die Lippen. „Sie können ja mitkommen.“ Das sollte für eine erste Konversation ausreichen.
Die Sonne knallte schon am Morgen unerbittlich auf die Vorgärten und verbrannte dort den kümmerlichen Rest Gras. Joel inhalierte den Rauch und schmeckte Menthol. Das alles hier war ein Witz, wurde ihm klar. So funktionierte das nicht. So funktionierte er nicht.
Seine Aufforderung, ihn auf die Veranda zu begleiten, hatte Fays Vater offensichtlich umso ernster genommen. „So“, sagte er, als er sich neben Joel stellte und die Arme vor der Brust verschränkte. Er trug dasselbe Hemd, das Fay am Vortag zu ihren knappen Shorts nur halb zugeknöpft hatte, und Joel roch eine Mischung aus abgestandenem Bier und Pfefferminzbonbons. Er war unrasiert und an den Schläfen zeigten sich die ersten grauen Haare.
„So“, wiederholte Big Daddy und sah ihn an.
Joel wurde übel von der Zigarette. Wir konnte Fay so etwas rauchen? Sie brauchte dringend etwas Richtiges. Und er brauchte Geld.
„Bist du schon die ganze Zeit hier?“, beendete Fays Vater seinen peinlichen Versuch, Joel eine Antwort auf sein „So“ zu entlocken.
„Seit gestern Abend.“ Mal sehen, was er dazu sagte, dass seine liebreizende Tochter fremde Männer in ihr Bett lockte.
„Aha. Weißt du, Junge, ich wüsste das gerne, verstehst du? Wenn hier Besuch ist.“
„Tja.“ Joel ließ die Asche auf die abgetretenen Bohlen fallen. „Dafür bin ich nicht zuständig.“
„Ja. Ich weiß. Fay ist recht schwierig in letzter Zeit.“
Fand Joel nicht. Im Gegenteil. Sie war ganz bezaubernd, wenn er furchtbar ehrlich sein wollte. Viel zu gut für ihn und diese Mentholkippen.
„Vorher hatte sie ja ihren Freund, Justin. Da wusste ich, wer hier ein- und ausging“, fuhr Fays nerviger Vater fort.
„Und?“ Joel überlegte, wie er sich möglichst unauffällig oben in diesem schicken Badezimmer übergeben konnte, ohne dass Fay davon aufwachte.
„Und jetzt bist du hier.“
„Sieht so aus.“
„Ich fürchte, dass sie nur jemanden sucht, der sie … Nun ja.“ Mr. S. fixierte konzentriert einen Punkt am Horizont, dennoch konnte er nicht verbergen, dass sein Blick unstet von links nach rechts zuckte.
„Tröstet?“, half Joel ihm auf die Sprünge. Das Spiel, das sich dieser gestandene Mann mit seiner leicht gebeugten Haltung hier leistete, konnte dieser doch nur verlieren. „Is kein Problem.“ Joel grinste und sein Kiefer wurde taub. „Darin bin ich eh nicht gut.“
„Ich meine, ich kenne dich ja noch gar nicht. Vielleicht sollten wir …“
„Sir“, Joel ließ es sein und warf die Zigarette, die er nur zur Hälfte geschafft hatte, in den Vorgarten. „Dann sollten Sie mich kennenlernen.“
Jetzt hatte er die große Scheiße, vor der er zu McDonald’s geflüchtet war.
Big Daddy hielt endlich den Mund und Joel ging wieder rein, ein und aus, Treppe hoch und Treppe runter, zu Fay in das Himmelbettzimmer voller Lichterketten.
Sie lag noch immer schlafend auf der Seite und Joel konnte nur dort stehen und dieses neue Problem weder lösen noch die Stimme in seinem Hinterkopf zum Schweigen bringen, sondern sie nur bewundern. Für all das Glatte, Weiche, Glänzende, das sie war und das er nicht schon wieder zwischen Bratfett und Straßenlaternen zurücklassen wollte. Weil es schon beim ersten Mal nichts genützt hatte. Weil er sie nicht verschandeln wollte. Weil sie ihm Dinge erzählte, die Joel schon ewig nicht mehr gehört hatte.