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Kapitel 5
ОглавлениеAls wir in die Pubertät gekommen waren und Jungs auf einmal interessant wurden, saßen Anne und ich unzählige Male in Pyjamas, Chips mampfend, auf meinem Bett. Sie hatte öfter bei mir übernachtet als bei sich zuhause. Wir redeten die Nacht durch, träumten von unserer ersten Liebe und fragten uns, wann diese wohl auftauchen würde. Sie hatte mich gefragt, wie ich mir die erste Begegnung mit meiner großen Liebe vorstellen würde. Ich antwortete ihr, dass ich ihm in die Augen sehen und es sofort spüren würde. Es würde in meinem ganzen Körper kribbeln und ich wäre wie erstarrt. Dann würde ich mich in seinen Augen verlieren und wir könnten uns beide bis tief in unsere Seelen hineinblicken. Anne hatte daraufhin herzlich aufgelacht und mich belustigt angesehen. Sie sagte mir, dass ich eine naive Romantikerin wäre und den Bezug zur Realität und echten Menschen verloren hätte. Vielleicht war das ja auch so. Doch genauso stellte ich es mir immer vor. Erlebt hatte ich es jedoch bisher nie. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich Adrian das erste Mal in die Augen gesehen hatte. Ich konnte zwar fast ausschließlich nur meine Angst spüren, doch tief in mir, da war ein Kribbeln. Ich konnte fühlen, wie er mir tief in meine Seele blickte.
Eiskaltes Wasser benetzte mein Gesicht.
Ich stützte mich mit beiden Händen am Waschbecken ab und starrte in mein Spiegelbild. Die Wassertropfen perlten wie in Zeitlupe an meinen Wangen herunter. Ich konnte nicht fassen, wohin meine Gedanken wieder wanderten. Am besten nahm ich direkt ein eiskaltes Bad, um wieder klar im Kopf zu werden. Adrian hatte mich gewaltsam entführt und ich stellte ihn in meinen Gedanken als meine große Liebe dar? Die Angst musste meine Gehirnzellen zerstört haben.
„Jetzt behalt deine Nerven Amelie, tief durchatmen und überlegen, was du jetzt tun willst.“
Ja, ich führte in Stresssituationen Selbstgespräche. Das beruhigte mich irgendwie, auf eine kranke Art und Weise. Als würde ich neben mir stehen und mir gut zureden.
Es schien auch diesmal gut zu funktionieren, denn ich konnte mich aus meiner Starre befreien und kniff meine Augen zu. Als ich sie wieder öffnete, fühlte ich mich etwas besser. Ich sah mich in dem geräumigen Badezimmer um. Hier gab es zwar ein Fenster, aber es war zu hoch angebracht. Selbst wenn ich mich auf Zehenspitzen stellen oder hochspringen würde, könnte ich es nicht erreichen. Wie zum Teufel öffnete man dieses Fenster? Gab es hier Bedienstete, die sich auf eine Leiter stellten, um zu lüften? Wieso bringt man ein Fenster überhaupt so hoch an? Wo lag da der Sinn? Damit die kleine Amelie hier nicht fliehen kann. Genervt durch meine eigenen Gedanken schüttelte ich den Kopf. Hier konnte ich nicht entkommen, also musste ich wieder raus auf den Flur. Ich atmete einmal tief durch und öffnete die Tür vom Bad.
Der Flur war leer.
Adrian war nicht wiedergekommen um die Tür zu bewachen. Für einen Moment war ich etwas irritiert und blieb regungslos stehen. Meine Nerven waren so angespannt, dass ich bei jedem Knarzen der Bodendielen aufschreckte. Selbst als ich mit meinen eigenen Schritten die Ursache für das Knarzen war. Ich entschied mich in die entgegengesetzte Richtung des Zimmers, in dem ich eingesperrt war, den Flur entlang zu gehen. Am Ende dieses Flures bog ich links ab. Ein weiterer langer Flur lag vor mir, der dem ersten eins zu eins glich. Am Ende konnte ich ein großes Fenster sehen, das kachelförmig unterteilt war. Dort wollte ich hinausschauen um etwas mehr von meiner Umgebung erkennen zu können. Man konnte sich auf den breiten Sims des Fensters setzen. Ein mit Blumenstickereien geschmücktes Kissen lag einladend auf dem Fenstersims. Der Blick aus dem Fenster brachte mir allerdings rein gar nichts. Ich sah auf eine lange Grünfläche, dessen Ende man nicht erkennen konnte. Der Nebel hatte sich etwas verzogen, sodass ich links und rechts deutlich den Wald erkennen konnte. Ich setzte mich auf das gemütliche Kissen und versuchte das Gebäude besser erkennen zu können. Allzu viel konnte man jedoch nicht sehen, dazu hätte man sich weiter hinaus lehnen müssen. Doch auch dieses Fenster ließ sich nicht öffnen. Es verging einige Zeit, in der ich einfach an nichts zu denken versuchte und mich nur auf meine Atmung konzentrierte. Dann vernahm ich Schritte. So leise, als würde derjenige der die Schritte erzeugte mehr über den Boden schweben als darüber zu laufen. Die Schritte wurden nicht lauter, doch ich konnte anhand der raschelnden Kleidung und des Windhauchs spüren, dass jemand direkt hinter mir stand. Erst drehte ich mich aus Angst nicht herum. Dann wusste ich, dass es Adrian war. Er hatte diesen tiefen und dunklen, leicht würzigen Geruch nach Zedernholz.
Ich drehte mich um sah ihm in die Augen. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und sah mich leicht lächelnd an. Ich hatte so viele Fragen, doch ich war nicht in der Lage irgendeine davon zu stellen. Es lagen so viele Unklarheiten zwischen uns, doch in diesem Moment schwebte über der gesamten Szenerie eine wohltuende Ruhe. Mein Puls senkte sich merklich und ich spürte wieder dieses Kribbeln. Adrian durchbrach die Stille, indem er sich räusperte.
„Hast du vielleicht Lust auf einen Kakao und frisch gebackene Brownies? Beides steht unten im Kaminzimmer bereit.“ Ich liebte Brownies und hätte fast, „Ja, gerne,“ gesagt. Doch dann rief ich mich selbst zur Vernunft. Mein Entführer lädt mich zum Brownie essen ein. Das schrie ja förmlich nach einer Falle. Oder Adrian war einfach nur naiv und glaubte ich würde sein Spiel mitspielen. Ich sah ihn trotzig an und entgegnete mit fester Stimme: „Ich will nach Hause. Ich verstehe nicht, warum ich hier bin. Warum du mich entführt hast. Ich möchte keinen Kaffeeklatsch halten, sondern einfach gehen.“
Adrian sah betreten zu Boden. Wieso hatte ich ständig das Gefühl, dass er mehr litt als ich? Er trat von einem Bein auf das andere und sah mir dann schließlich etwas geknickt in die Augen.
„Amelie, komm mit mir ins Kaminzimmer. Dort beantworte ich dir deine Fragen, das verspreche ich dir. Ich will es dir in Ruhe erklären aber nicht hier auf dem Flur und nicht so.“
Auf die Gefahr hin, dass es gar kein Kaminzimmer und auch keine Brownies gab, wägte ich die Möglichkeit ab, ihm den Gefallen zu tun und mitzugehen. Ich wollte die Antworten auf meine Fragen hören und die bekam ich nicht hier und nicht jetzt. Ich musste ihm folgen. Also nickte ich, stand auf und sah ihn herausfordernd an. Adrians Gesicht entspannte sich und er sah mich nicht mehr so leidend an wie zuvor. Er führte mich wieder zurück den Flur entlang, auf dem ich hierher gelangt war. Kurz bevor man rechts auf den Badezimmer-Flur abbiegen konnte, war auf der linken Seite eine Tür. Adrian öffnete sie und gab den Blick auf eine Steintreppe, die nach unten führte, frei. Er ließ mir den Vortritt und so stieg ich die Treppen hinab in der Hoffnung, dass mich, unten angekommen, keine böse Überraschung erwarten würde.