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Kapitel 2

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Die Sonne schien. Ich konnte die sanfte Wärme auf meiner Haut genießen, da die Temperaturen eher mild waren. Mein Schal war riesig, viel zu groß für meine schmale Gestalt. Doch dieses riesige Wollmonster, das gerade dabei war mich zu ersticken, war offenbar in Mode. Es war ein Schlauchschal in hellgrau. Aber eins musste man ihm lassen, er hielt mich warm. Im Sommer konnte ich die Sonne nicht genießen. Sie verbrannte stets meine Haut und wenn ich keinen Hut trug, verglühte sie mir mein Gehirn. An besonders heißen Tagen wurde mir grundsätzlich schlecht oder schwindelig. Kurz gesagt, ich war eher so der Wintertyp. Hitze konnte ich nur schlecht vertragen. Man will sich kaum bis gar nicht bewegen und man schwitzt mehr als man trinken kann. Es kam generell nur selten vor, dass ich die Sonne begrüßen und mich an ihr erfreuen konnte. Doch nun stand ich hier am Waldrand, dick eingepackt in meinen schwarzen Wintermantel aus Filz mit dem hellgrauen Schal und den dicken Moon Boots und erfreute mich der Sonnenstrahlen. Ich musste einfach mal raus und alleine sein. In letzter Zeit war alles so hektisch gewesen und irgendwie anstrengend. Mein Chef hatte es sich in den Kopf gesetzt, gegen all die großen Buchketten anzukämpfen. Er wollte sich als ein kleiner, gemütlicher Buchladen beweisen. Außerdem hatte er mich von einer Buchmesse zur nächsten geschickt, um rauszufinden, was gerade angesagt war und was die Leute lesen wollten. Welche Autoren musste man einladen um Lesungen zu veranstalten. Ich war von Anfang an nicht davon ausgegangen, dass eine J.K. Rowling sich in einen kleinen Buchladen setzen würde, in den den ganzen Tag über nur maximal zehn Kunden kamen. Die meisten davon waren ohnehin Stammkunden, die nur wegen der neuen Kaffeemaschine kamen. Sie konnte diesen unfassbar leckeren Milchschaum erzeugen. Nichts desto trotz liebte ich diesen Laden, in dem ich jetzt schon seit fünf Jahren arbeitete. Genau wie mein Chef, hielt ich nicht besonders viel von diesen großen Buchketten. Wenn man dort hineinging, wurde man nicht persönlich begrüßt und erhielt auch keine individuelle Beratung. Die Mitarbeiter dort gaben Suchbegriffe in ihre Computer ein und konnten einem am Ende doch nichts Passendes anbieten. Mr. Barameus, mein Chef, informierte sich bei jedem Kunden wonach er suchte. Da er jedes einzelne Buch in seinem Laden kannte, hatte er immer sofort das passende Buch zur Hand, welches zu der Beschreibung passte. Kleine Buchläden hatten einfach ihren Charme und waren urgemütlich. Keiner meiner Freunde empfand so wie ich, wenn sie mich im Laden besuchten. Sie hielten ihn für einen altmodischen, verstaubten Ort. Sie glaubten der Laden würde sich nicht mehr lange halten. Außerdem hatten die meisten von ihnen jetzt E-Book Reader und luden sich ihre Bücher online runter. Diese Entwicklung hatte mir noch nie gefallen. Im Gegenteil, ich boykottierte sie wo auch immer ich konnte. Es ging nichts über ein Buch, das man anfassen und an dem man riechen konnte. Ja ich roch an Büchern und besonders der Geruch alter Bücher gefiel mir. Sie beinhalten nicht nur die Geschichte, die geschrieben steht, sondern jedes einzelne Buch hat ebenfalls seine ganz eigene Geschichte. Wann wurde es gedruckt? Durch wie viele Hände ging es seither? An welchen Orten war es schon gewesen? Welche individuelle Bedeutung hatte es für seinen Besitzer? Bei jedem meiner Bücher zuhause wusste ich noch in welcher Lebenssituation ich war, als ich es gelesen hatte. Wenn ich es zum Beispiel im Urlaub am Strand gelesen hatte, dann fühlte ich wieder die sanfte Meeresbrise auf meiner Haut und den Sand unter meinen Füßen. Der Buchladen bestand aus zusammengewürfelten, ziemlich alten Möbeln. Jedes Regal an der Wand war anders aufgebaut und unterschiedlich groß. Es stand ein Sessel, auf dem schon Karl der Große gesessen haben sollte, im Raum. Meine Interessen entsprachen generell nicht der breiten Masse junger Menschen von heute. Es könnte durchaus sein, dass ich in der falschen Zeit geboren wurde oder vielleicht sogar in der falschen Welt. Meine Freunde würden dies sofort unterschreiben. Sie liebten mich, doch verstehen konnten sie mich meist nicht. Das war aber auch in Ordnung so. Ich war es nicht anders gewohnt. Ich ging gerne mit ihnen ins Kino oder unterhielt mich über den neusten Klatsch und Tratsch. Für alle anderen meiner Interessen waren ja meine Bücher da. Dort fand ich die tiefsinnigsten Gespräche über Liebe und das Universum oder die ergreifendsten Beschreibungen über das geheime Leben der Bäume im Wald. Der Ausgleich macht es doch. Solange ich Zeit für mich hatte, war alles andere auch ertragbar.

Aber in letzter Zeit hatte ich eben diese Zeit für mich nicht mehr und ich bemerkte, dass sich dies negativ auf meinen Gemütszustand auswirkte. Deshalb stand ich jetzt hier am Waldrand und die Sonne strahlte mir ins Gesicht. Ich wollte fliehen, vor all den Buchmessen. Vor meinen Freunden, die ständig etwas von mir wollten und meine Gesellschaft benötigten, zum Trost oder zum Feiern gehen. Vor meinen Eltern, die mich drängten, doch endlich mal den passenden Mann zu finden, damit sie eine ebenso pompöse wie kitschige Hochzeit organisieren konnten, wie die von der kleinen Luisa nebenan. Vielleicht auch vor mir selbst, denn ich wusste nicht mehr, wer ich war.

Aber vielleicht konnte ich es ja im Wald finden. Vielleicht kam es dann zu mir zurück, nur für einen Moment, mein wahres Ich. Der reine Kern ohne das ganze drum herum. Mein Selbst, frei vom Ego, frei von allem, was andere in mir sahen. Der innere Kern, der tief verborgen lebte.

Ich lebte in Watermark, einer kleinen Stadt an der Westküste Schottlands.

Meine Stadt war bis ins 19. Jahrhundert ausschließlich ein kleines Fischerdorf gewesen. Auch heute noch drehte sich hier viel ums Angeln und um die Schifffahrt. Aber vor allem lebte der Ort vom Tourismus, denn er wurde auch als „Tor zu den Inseln“, benannt. Hier gab es kilometerlange Küstenstriche und unser Ort war umgeben von vielen Inseln, zu denen man von Watermark aus mit der Fähre fahren konnte. Früher fand ich es immer wahnsinnig spannend, dass so viele fremde Menschen aus allen Ländern in meine Stadt kamen um hier Urlaub zu machen. Ich bekam viel von anderen Kulturen mit und spielte mit Kindern aus aller Welt, wobei wir nur mit Körpersprache kommunizieren konnten. Heute war es mir meist einfach zu viel Trubel und es nervte nur noch. Vor allem die ewig gleiche Frage: „Ist es nicht wundervoll an einem Ort zu leben, wo andere Urlaub machen?“. Ja, Herrgott nochmal, es war wunderschön hier und ich mochte meine Stadt auch, aber es war auch etwas vollkommen Alltägliches für mich. Ich hatte die gesamten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens hier verbracht und es war nichts Neues oder Spannendes mehr für mich. Ich hatte bereits des Öfteren darüber nachgedacht, von hier wegzuziehen. Vielleicht nach Edinburgh oder vielleicht auch ganz raus aus Schottland. Die Welt kennenlernen und viel reisen. Aber dann fing ich nach meinem Abitur im Buchladen bei Mr. Barameus an. Sehr zum Entsetzen meiner Eltern, die mir immer wieder einschärften ich könne doch mit meinem Wissen und meinem guten Abschluss studieren gehen und ganz groß rauskommen. Ich arbeitete bereits seit fünf Jahren hier und hatte selbst das Gefühl, dass dies hier nichts für die Ewigkeit sein konnte. Doch ich kam einfach nicht davon los. Das schöne Gefühl, morgens den Buchladen aufzuschließen und den Geruch von Büchern und Lavendel in der Nase zu haben, umschmeichelte meinen Geist. Ich hing an diesem Laden und alles andere erschien mir momentan einfach viel zu groß und erschreckend. Ich war ein Gewohnheitstier und hatte Angst vor Veränderungen. Aus diesem Grund hielt ich gerne an Altem und Bekanntem fest. So zogen die Tage ins Land. Ich durfte mich nun „Buchhändlerin“ nennen, nach erfolgreicher Ausbildung. Mir standen in diesem Berufsbereich viele Türen offen. Wenn ich zum Beispiel ein Studium im Bereich Bibliotheksmanagement oder Fachwirtin mit Schwerpunkt Buchhandel anstreben würde, könnten meine Eltern endlich wieder ruhig schlafen und ich könnte überall anfangen. Doch wie gesagt, jeden Tag aufstehen und wissen was einen erwartete, war etwas Schönes und Sicheres. Der Tag würde noch früh genug kommen, an dem sich etwas änderte. Ich wollte abwarten, wo das Leben mich hintrieb und ließ mich vom Schicksal leiten.

Meine beste Freundin Anne würde an dieser Stelle sagen: „Mensch, Amelie komm mal aus deinem Traumschloss raus und nimm dein Schicksal selber in die Hand.“

Anne war mehr so der realistische Typ, ganz im Gegensatz zu mir. Wir kannten uns seit der Kindergartenzeit. Sie und Tim, ihr fester Freund, waren meine längsten Freunde. Viele Freunde hatte ich nicht, aber die wenigen blieben beständig in meinem Leben. Ich saß schon mit Tim und Anne im Sandkasten, so etwas schweißt irgendwie zusammen. Obwohl die beiden dann irgendwann ein Paar wurden, hatte sich eigentlich nichts verändert. Sie besuchten mich oft im Buchladen und tranken den leckeren Kaffee mit dem Milchschaum und den Schokostreuseln. Wahrscheinlich war dies der einzige Grund, aus dem sie mich hier besuchten. Sie betonten immer wieder wie wenig reizvoll sie den Laden fanden und ob wir uns nicht im Starbucks treffen könnten. Da ich allerdings fast den ganzen Tag hier im Laden war und abends dann einfach nur nach Hause wollte, blieb ihnen nichts Anderes übrig als mich hier zu besuchen. Ich schloss mich ihnen auch sehr selten an, wenn sie an den Wochenenden tanzen gingen und die Clubs in den umliegenden Städten unsicher machten. Anne drängte mich immer mal mitzukommen, denn sie war der Meinung ich müsse bald mal einen Kerl kennenlernen und den würde ich nicht in Barameus Buchladen finden. Tatsächlich hatte sich mein Liebesleben bisher auf einen eher kläglichen Versuch mit Jonas, einem Typen aus meinem Jahrgang während der Abiturzeit, beschränkt. Anscheinend konnte ich einfach nichts mit den Typen aus dieser Zeit anfangen. Wenn ich mir meinem Traummann vorstellte, dann sah ich einen Gentleman, der einem die Türen aufhielt und sich respektvoll mit einem unterhielt. Einen Typ, der überhaupt gerne mit einem redete und gute Unterhaltungen schätzte. Das schien heutzutage ja aus der Mode gekommen zu sein. Ich gab Jonas dann schließlich den Laufpass, nachdem er mir folgenden Vorschlag unterbreitet hatte: „Ey, hab gehört deine Eltern sind übers Wochenende weg. Lass da mal zu dir gehen. Können wa endlich mal vögeln.“ Dann war ich eben altmodisch oder auch wählerisch und wahrscheinlich bis ans Ende meines Lebens alleine, aber so etwas wollte ich mir einfach nicht antun.

Um einfach mal abschalten zu können, war ich hier gelandet. Am Rande des Waldes, in dem ich bereits als Kind viele Stunden am Tag verbracht hatte. In meinem übergroßen Schal und den Moon Boots wünschte ich mir, irgendwo da drinnen gäbe es eine geheime Tür, die zu einer anderen Welt führte.

Die Vorstellung, dass im Wald magische Wesen lebten die nur darauf warteten, dass ich endlich die verdammte Tür fand, verfolgte mich schon ein Leben lang. In meiner Vorstellung existierte dort eine Welt, die so harmonisch und vollkommen war, dass ich nie wieder zurückwollte. Ich würde einfach durch die Türe gehen und auf eine große Wiese kommen. Die Sonne dort würde vom Himmel strahlen und überall würden alle möglichen Tiere völlig frei herumlaufen. Hunde, Nashörner, Rehe und Meerschweinchen. Alle würden sich vertragen und dort friedlich miteinander leben. Es würden nur liebevolle und glückliche Menschen dort sein, mit denen ich mich sofort verstehen würde. Es wäre wie ein Heimkehren. Damals wollte ich gar nicht mehr aus dem Wald kommen, weil mich die Realität abschreckte. Ich wollte dortbleiben, in meinem Tagtraum, der mir so real vorkam. Auch heute noch sehnte ich mich nach diesem Ort. Doch mit den Jahren fiel es mir immer schwerer, mich hineinzuträumen. Vor allem in letzter Zeit, weil alles so stressig war. Es wäre einfach wundervoll, wenn ich durch die Tür im Wald gehen und alles hinter mir lassen könnte. Ich war durchaus zufrieden mit meinem Leben aber manchmal dachte ich, dass es doch noch mehr geben musste. Mehr als wir uns vorstellen können. Magie, fremde Wesen und übernatürliches. Meine Eltern würden jetzt sagen: „Du liest zu viel Fantasy, Amelie, daher kommen all die Hirngespinste.“ Ich las tatsächlich viel und auch oft Fantasygeschichten. Aber wer konnte einem mit Gewissheit sagen, dass es wirklich nicht mehr gab als alles was wir bereits kannten? Niemand konnte das. Ich glaubte fest daran. So musste es einfach sein, sonst wäre das Leben doch furchtbar langweilig.

Während meines Spaziergangs durch den Wald, hatte ich es auch tatsächlich geschafft meine Gedanken weitestgehend abzustellen. Ich genoss die gegenwärtige Situation und atmete die frische Waldluft ein.

Gedankenverloren wanderte ich immer tiefer in den Wald hinein, als ich plötzlich ein Geräusch hörte. Es klang als würde jemand hier sein. Das Knacken der kleinen und morschen Äste, die abseits der Wege auf dem Waldboden lagen, verriet mir, dass jemand im Unterholz war. Ich drehte mich mehrmals im Kreis, doch ich konnte niemanden sehen. Da ich der totale Angsthase war, lief ich nun schneller und ärgerte mich selbst über meine Panik. Es sollte doch ein entspannter Spaziergang werden und jetzt spielten mir meine empfindlichen Nerven einen Streich und ich bildete mir ein, jemand verfolgte mich. Als ich wieder auf den breiten Waldweg einbog, der Hauptroute durch den Wald, fühlte ich mich gleich sicherer. Mein Herz schlug ruhiger und ich atmete tief durch. Wären meine Sinne in diesem Moment noch so geschärft gewesen wie zuvor, wäre mir die Anwesenheit der Person unmittelbar hinter mir wohl aufgefallen. Doch ich war zu sehr damit beschäftigt, meine Atmung zu beruhigen und wägte mich in der Sicherheit der meist gut besuchten Hauptroute des Waldes. Ich wollte gerade wieder losmarschieren, als mich jemand von hinten packte und mir ein Tuch auf Mund und Nase drückte. Ich atmete einen durchdringenden und dennoch süßlichen Geruch ein. Eine Zeit lang versuchte ich mich mit aller Kraft zu befreien und strampelte und trat um mich. Doch der harte Griff, der mich festhielt blieb unnachgiebig. Dann wurde mir wahnsinnig schwindelig und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Umgebung verschwamm und wich einem allumfassenden Nebel, der mich einhüllte und tief hinab sinken ließ in ein bodenloses Tal.

Amelie

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