Читать книгу Amelie - Nini Schlicht - Страница 11
Kapitel 6
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Adrian war die schmalen Gassen entlang gehechtet.
Er hatte sich immer wieder panisch und in vollem Lauf umgedreht, um zu wissen wie nahe ihm seine Verfolger waren. Er hatte gehofft, irgendwann eine Nische zu finden in die er verschwinden könnte. Der Schweiß perlte langsam von seiner Stirn über seine Wangen hinab. Seine Wangen glühten durch den schnellen Lauf und seine aufkommende Panik. Die Einzige Erleichterung war die kühle Luft, die ihm entgegen strömte. Irgendwann hatte er den Hafen erreicht und sprintete zu einem der Schiffe. Weit und breit war niemand zu sehen, also kletterte er an Bord eines recht kleinen Schiffes, welches zum Fischfang gebraucht wurde. Riesige Netze waren hier gespannt und er konnte auch eine Harpune sehen. Adrian brach die Tür, die unter Deck führte gewaltsam auf und verbarrikadierte sie mit einem großen Fass, das er davor rollte. Hier war er erstmal sicher. Er entdeckte einige Leinensäcke und legte sie zusammen, sodass er einen weichen Platz zum Schlafen hatte. Dort hatte er also gelegen. Vollkommen erschöpft und immer noch fassungslos durch das eben Erlebte.
Es war immer grenzwertig gewesen für ihn. All diese Pflichtveranstaltungen, zu denen er erscheinen musste. Sie waren ihm seit jeher ein Graus gewesen. Doch dieses Mal waren sie zu weit gegangen. Sie hatten dieses junge, unschuldige Mädchen gequält und sich an ihrem Schmerz ergötzt. Sie hatte geschrien wie am Spieß mit vor Angst geweiteten Augen. Ihr nackter Körper hatte gezittert und sich gewunden um den gierigen Augen ihrer Peiniger entkommen zu können. Ein Opfer hatte es jedes Mal gegeben. Doch waren es meist kranke und alte Seelen gewesen, deren Leben gelebt war. Ihnen wurde dann ihr Blut genommen bis sie den letzten Atemzug getan hatten. Doch dieses junge Mädchen musste weit mehr ertragen. Sie spielten mit ihr, erfreuten sich an ihrem Leid und nahmen nicht nur ihr Blut, sondern auch ihren Körper.
Adrian konnte es bald nicht mehr ertragen und war eingeschritten. Er zerrte die ganze Meute von dem Mädchen weg und rief ihnen zu, dass dies hier nicht richtig sei. Es wäre Barbarisch und sie sollten sofort damit aufhören. Einige der Ältesten bauten sich vor Adrian auf. Er kannte sie, denn sie standen weit über ihm in der Rangfolge und ihr eindrucksvolles Erscheinen ließ selbst den schlimmsten Rebell auf der Stelle verstummen. Calloham, das Clanoberhaupt, ergriff als Erster das Wort an Adrian: „Wie vermessen von dir, dass du glaubst hier deine Stimme erheben zu können. Du bist der Dreck, der mir unter den Schuhsohlen klebt. Du bist nur ein kleines Licht, welches bei Weitem nicht gegen unser Strahlen ankommt. Du glaubst, du könntest uns erklären, was richtig und was falsch ist? Was bist du nur für eine erbärmliche Kreatur.“
Calloham baute sich zu voller Größe vor Adrian auf. Sein langes, graues Haar, fiel ihm glatt über die Schultern und der Schwarze Mantel mit Stehkragen, verlieh ihm etwas so bedrohliches, dass Adrian augenblicklich ein Schauder über den Rücken lief.
Links und rechts flankierten ihn Rufus und Archibald, deren Erscheinung nicht weniger bedrohlich war. Rufus’ blutverschmierte Lippen zogen sich zu einem grausamen Lächeln zusammen. Seine Augen spiegelten eine derartige Wildheit und Mordlust wider, dass Adrian seinem Blick nicht lange standhalten konnte. Archibald blickte ruhig und teilnahmslos, als könnte er der ganzen Situation nichts abgewinnen. Doch man sagte ihm nach, dass er kein Gewissen hatte und seine Taten unbarmherzig und grausam waren. Adrian hatte keine Zeit mehr um etwas erwidern zu können, denn Calloham blickte wild in die Runde der Versammelten und schrie: „Ergreift ihn!“
Blitzschnell drehte Adrian sich um und stieß die hinter ihm Stehenden einfach um. Durch seine Reflexe, war er eine Sekunde schneller als die anderen und konnte davonlaufen. Sie hatten ihn durch die schmalen Gassen Englands gejagt, waren ihm dicht auf den Fersen. Wenn sie ihn in die Finger bekommen würden, hieße das wochenlange, vielleicht auch jahrelange Folter für sein Stören der heiligen Rituale.
Adrian verfügte über stark ausgeprägte Reflexe und war sehr schnell und wendig. So war er ihnen letztendlich auch entkommen. Hier auf diesem Schiff, eingehüllt in den Leinensack, wurde ihm klar, dass er England verlassen musste. Sie würden nach ihm suchen, ihm diesen Eingriff nicht verzeihen. Die Ältesten bestanden auf ihre Rituale und auf die Anwesenheit aller Zugehörigen. Daher war es den Clanmitgliedern nicht gestatten, woanders als in England zu wohnen. Hier fanden die Feste statt und hier war auch der Sitz der Obersten seines Clans. Doch nach dieser Nacht würde Adrian nicht mehr an solchen Festen teilnehmen können. Eigentlich kam ihm das alles ganz recht, denn er hatte bereits seit längerer Zeit ganz andere Pläne. Er wollte unabhängig leben und diese Pflichtveranstaltungen kamen ihm nur in die Quere und er verachtete die Ältesten für ihre Taten. Er wollte nach Schottland ziehen. Er musste nach Schottland ziehen und England verlassen.
Eine Wahrsagerin hatte ihm einmal gesagt, dass sie dort geboren werden würde. Sie, seine Seelenverwandte, nach der er schon so lange suchte. Im Grunde fand er solche Hexen, die einem die Zukunft voraussagten, immer albern. Doch diese eine konnte ihm Dinge sagen, die niemand sonst wissen konnte. Sie wusste genau, seit wie vielen Jahren er bereits auf der Erde lebte und sie kannte viele private Details aus seinem Leben. Sie sagte ihm, dass seine Auserwählte und das Gegenstück zu seiner Seele, an einem 14. Dezember um 3.13 Uhr geboren werden würde. Allerdings konnte sie ihm weder das Jahr noch den genauen Ort nennen. Sie sagte ihm nur, dass es Schottland sein würde. Adrian hatte immer daran geglaubt, dass es eine zweite Seele auf dieser Erde geben würde, welche mit seiner verbunden war.
Er hatte von Platons Fabel der zwei Kugelmenschen gehört und diese verinnerlicht. Die Fabel besagte, dass in alten Zeiten die Menschen kugelförmig waren. Sie hatten zwei Gesichter und jeweils vier Arme und vier Beine. Das machte sie sehr stark und so vollkommen, dass sie die freundlichsten und glücklichsten Wesen auf der Erde waren. Doch Zeus und die anderen Götter befürchteten, dass ihnen die Menschen zu ähnlich wären und ihnen somit auch nicht mehr die gebührende Verehrung zuteilwerden ließen. So beschlossen sie, die Menschen zu zerteilen und auf der ganzen Erde zu zerstreuen, damit die Hälften nicht wieder zueinander finden konnten. Sie brachten großes Leid unter die Menschheit, denn jede Hälfte suchte verzweifelt nach ihrem Gegenstück. Adrian hatte seit jeher seine andere Hälfte gesucht. Die Wahrsagerin hatte seine Sehnsucht nur noch unterstrichen. Die Sehnsucht aus seiner Einsamkeit entfliehen zu können. Der Glaube, dass es da jemanden gab, der für ihn bestimmt war. Das alles hatte ihn den Plan schmieden lassen, sich eine Unterkunft in Schottland zu suchen. Er wollte fortan dort leben und jede Geburt, an jenem Tag im Dezember beobachten um sie zu finden. Diejenige, die an einem 14. Dezember um 3.13 Uhr geboren werden würde.
Bei Anbruch des Tages würde er sich als blinder Passagier in die Eisenbahn auf der Waverley Line schmuggeln und nach Schottland reisen.