Читать книгу Amelie - Nini Schlicht - Страница 8
Kapitel 3
ОглавлениеIch war also entführt worden.
Gewaltsam gepackt, betäubt und hierher verschleppt. Aber warum? Warum gerade ich?
Meine Eltern waren nicht reich, ein Lösegeld erpressen würde also herzlich wenig bringen. Es konnte sich nur um einen kranken Menschen handeln, der aus Lust und Laune junge Mädchen entführte und sie hier gefangen hielt. Um weiß Gott was mit ihnen anzustellen. Bei diesem Gedanken trat wieder die alt bekannte Panik in mir auf. Ich rieb mir meine feuchten Hände und spürte meinen Herzschlag laut an meiner Schläfen pochen. Obwohl dieser Typ, der eben hier gewesen war, nicht so aussah, als wäre er verrückt. Ganz im Gegenteil, er wirkte selbstsicher und gefasst und schien ganz genau zu wissen, was er tat. Ich hatte ihn allerdings auch nur ein einziges Mal gesehen. Wie konnte ich mir da einbilden, ihn zu kennen und einschätzen zu können. Ein Teil von mir fand ihn sogar sympathisch und irgendwie anziehend. Das hatte bestimmt etwas mit dem Stockholm Syndrom zu tun. Mein Leben hing von ihm ab, vielleicht bekam ich die nächsten Jahre niemanden außer ihn mehr zu sehen. Da entwickelte man automatisch eine krankhafte Zuneigung. Doch was auch immer als nächstes passieren würde, ich musste mir überlegen wie ich mich verhalten sollte. Ich könnte mitspielen und tun was er wollte, um ihn nicht zu provozieren. Oder ich könnte ihn ganz bewusst provozieren und aus der Reserve locken. War es bereits ganz egal was ich tat? Hatte er vielleicht schon einen genauen Plan, was er mit mir anstellen wollte? Der Druck in meinem Kopf wurde immer größer. Wenn ich überfordert war bekam ich oft Migräne. So außer Gefecht gesetzt zu sein konnte ich mir grade nicht leisten. Um mich abzulenken schlenderte ich durch den Raum. Ich betrachtete das Bücherregal. Es waren sehr alte Bücher, aber in einem guten Zustand. Bei genauerer Betrachtung stockte mir der Atem. Diese Bücher hier müssten einige Millionen wert sein. Es waren Originalausgaben. Das erkannte ich mit geschultem Auge sofort. Ich nahm ein Buch heraus und hielt die Erstauflage von Jane Eyre, geschrieben von Charlotte Bronte, aus dem Jahr 1847 in den Händen. Ich liebte diese Geschichte und hatte sie bereits zweimal gelesen. Dieses Exemplar hier kostete über elftausend Pfund. Das wusste ich, weil ich mal nach Erstausgaben meiner Lieblingsbücher gesucht hatte. Mir wurde ziemlich schnell klar, dass ich niemals in den Besitz dieser Bücher kommen würde. Doch jetzt hielt ich eines in den Händen. Andächtig strich ich über den Buchrücken. Ich blätterte es vorsichtig durch und stellte fest, dass es wirklich in einem sehr guten Zustand war. Die Seiten waren relativ fest und nicht brüchig. Sein Besitzer wusste wohl ziemlich genau, wie diese Bücher zu erhalten waren. Ich war so vertieft in das Buch, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie jemand in den Raum gekommen war. Schemenhaft nahm ich eine Gestalt aus den Augenwinkeln wahr und sprang erschrocken zurück. Das Buch hielt ich fest vor meine Brust gedrückt.
„Schsch, nicht erschrecken, ich bin es nur.“
Der Typ, Adrian war glaube ich sein Name, hob beschwichtigend seine Hände. Es hatte eine gewisse Komik, dass mein Entführer, „ich bin es nur“, sagte. Ich stand jetzt an das Bücherregal gelehnt und Jane Eyre wie ein Schutzschild vor der Brust haltend da und konnte mich nicht rühren. Adrian sah hinüber zu dem Tisch und bemerkte, dass ich etwas gegessen hatte.
„Ich hoffe der Eintopf hat dir geschmeckt. Eintöpfe sind die Spezialität meiner Köchin. Sie kreiert sie in allen Varianten.“ Er hielt Smalltalk mit mir! Mutig geworden durch die surreale Situation, fand ich meine Stimme wieder.
„Ist das jetzt dein Ernst, dass du mir von den Spezialitäten deiner Köchin erzählst? Als wären wir hier in einem Hotel und ich hätte all inclusive gebucht.“ Ich sog erschrocken die Luft ein. Die Frage, ob ich mitspielen oder rebellieren sollte stellte sich nun nicht mehr. Aus Angst vor seiner Reaktion, trat ich noch einen Schritt zurück. Sein Blick erhellte sich, er schmunzelte über meine Worte. Doch im nächsten Augenblick sah er mich gequält und entschuldigend an.
„Amelie, es tut mir so schrecklich leid. Ich wollte dich nicht so erschrecken, aber ich dachte ich bringe dich erstmal hier bei mir in Sicherheit.“
So nannte er das also. In Sicherheit gebracht. Gewaltsam entführt und in Sicherheit gebracht, waren ja bekanntlich ein und dasselbe. Ich unterdrückte ein hysterisches Lachen und stieß dabei laut die Luft durch meine Nase aus. Doch bis auf diesen Laut fiel mir nichts weiter ein, was ich hätte sagen können. Es dauerte eine ganze Weile, in der wir uns nur betreten ansahen. Dann kam er ein paar Schritte auf mich zu.
„Ich will dir alles erklären, das verspreche ich dir. Aber was hältst du davon, wenn ich dir erstmal das Schloss zeige? Ein paar Räume weiter befindet sich ein Bad, falls du dich frisch machen willst.“
Tja, warum nicht? Machen wir also eine Schlossbesichtigung. In mir breitete sich eine gewisse Resignation aus. Die ganze Situation war so surreal, dass ich nicht mehr wusste, ob sie überhaupt passiert war. Ich stellte das Buch zurück ins Regal und nickte ihm zu. Adrian ging voran und ich folgte ihm durch die Tür neben dem Kamin. Wir kamen auf einen langen Flur. Es hingen Gemälde von ausschließlich ernst schauenden Menschen an der Wand. Mehrere Ritterrüstungen standen ganz traditionell den Flur entlang und ich kam mir vor, wie in einem mittelalterlichen Film. Wir liefen auf einem roten Teppich mit goldenen Stickereien darauf. Adrian hatte den Mantel, den er bei unserem ersten Treffen noch getragen hatte, ausgezogen. Das Hemd hing ihm locker um seinen Körper und man konnte genau erkennen, dass er muskulös war. Nicht übertrieben wie diese Sportfanatiker, sondern eher natürlich muskulös. Er ging langsam vor mir her, ohne sich umzudrehen. Ich hätte einen Fluchtversuch starten können. Anscheinend zog er diese Möglichkeit nicht in Betracht. Oder er wusste, dass ich nirgendwo hinkonnte, weil das ganze Schloss abgeriegelt war? Ich war jedenfalls ohnehin viel zu unsicher, um an eine Flucht zu denken. Ich musste mir erstmal einen Überblick verschaffen, wo ich überhaupt war. Am Ende des Flures angekommen drehte Adrian sich zu mir um. „Hinter dieser Tür befindet sich ein Bad. Du kannst dich hier frisch machen, wenn du willst. Ich komme dann später wieder und zeige dir den Rest des Schlosses.“
Er zeigte auf eine Tür, die genauso aussah wie alle anderen Türen auf diesem Flur. Sie bestand aus massivem Holz und war Eisenbeschlagen. Ich öffnete sie und drehte mich noch einmal um, bevor ich hindurchgehen wollte. Adrian lächelte mir zu, drehte sich dann um und ging. Er ließ mich tatsächlich
alleine, anstatt vor der Tür zu warten. Sollte ich jetzt versuchen zu fliehen? Ich blieb unsicher im Türrahmen stehen, mit der Hand auf der eisernen Flügelklinke. Da ich wirklich mal dringend musste und mich auch frisch machen wollte, betrat ich das Bad. Es war ein großer Raum in dessen Mitte eine Badewanne stand. Die Badewanne stand auf geschwungenen Füßen und ließ mich an die Filme über Prinzessinnen denken, die sich in eben solchen Badewannen von Bediensteten den Rücken schrubben ließen. Ich überlegte einmal mehr, ob ich nicht doch in die Vergangenheit gereist war, bevor ich mich an dem Waschbecken aus dunklem Stein frisch machte.