Читать книгу Firelove - Nola Nesbit - Страница 15
Strudel
Оглавление„Du hast ihn nie richtig gemocht.“
„Das ist nicht wahr.“
„Du hast ihn als den „Zorn Gottes“ bezeichnet.“
„Entschuldige. Aber du hast vielleicht vergessen, dass er dir mal nach dem Leben trachtete.“
„Vergangenheit, Pearl. Das ist vorbei.“
Wir sprachen über Ethan. Wir stritten seinetwegen. Zwischen uns breitete sich Stille aus. Pearl war meine älteste Freundin schon aus Studienzeiten. Sie war ein Computergenie und sie sagte immer, was sie dachte. Sie kannte mich besser als irgend jemand sonst. Über meine Beziehung zu Ethan gingen unsere Ansichten allerdings immer noch auseinander. Denn obwohl Pearl Ethan immer wie alle Mitglieder des Schwarms geschützt hatte, verurteilte sie, dass er mich gejagt und in Gefahr gebracht hatte. In ihr lehnte sich schon immer freundschaftliche Loyalität gegen den Ehrenkodex des Schwarms auf.
Wenn ich an sie dachte, überfiel mich immer noch Unwohlsein. Sie sah aus wie meine Freundin, exakt wie sie, aber sie war dennoch eine andere. Jemand lebte in ihrem Körper. Dass Pearl genau so sprach, sich genau so bewegte und verhielt wie zuvor, war das eigentlich Perfide. Da war noch etwas übrig von ihr, das über ihre körperliche Hülle hinausging, wie eine Erinnerung an die alte Pearl, aber mir gegenüber saß tatsächlich eine andere. Ein Wesen des Schwarms. Jemand, den ich gar nicht kannte, der Pearl einfach überwältigt, sogar vernichtet hatte. Der sich jedoch nun als meine Freundin tarnte. Es war verrückt und kaum zu begreifen. Und unmöglich, diesen jemand nicht zu mögen, weil mir doch niemand außer meinen Freunden blieb.
Ich benutzte gerade mein neues Mob. Pearl hatte wegen ihrer Kinder nicht oft für ein Treffen Zeit, weshalb wir häufig telefonierten. Nun unterbrach sie die Stille, die so sperrig zwischen uns lag.
„Mal drüber nachgedacht, ob er es war, der dich an Le Feu auslieferte?“
Ich war entsetzt. „Spinnst du? Das kannst du doch nicht ernsthaft meinen?“ Dass sie zögerte, zeigte mir, dass sie es nicht nur für wahrscheinlich hielt. „Pearl. Warum sollte er das tun? Mich zuerst zu retten, um damit seinen Ruf zu ruinieren, und sich nun still und heimlich gegen mich zu wenden? Das macht doch keinen Sinn.“
„Vielleicht leidet er darunter, zum Außenseiter geworden zu sein. Vielleicht ist der Druck des Volkes auf ihn zu groß. Der Schwarm zeigt sich solidarisch. Alles andere gilt als deviant.“
Ich zückte das Totschlagargument: „Er liebt mich, Pearl. Und ich liebe ihn auch.“
„Ach, scheiße, Nia! Los, hol doch die Geige raus und spiel ein trauriges Lied für dich! Ich gönne es dir ja. Aber ich habe eben meine Zweifel. Ob sich Ethan Waterman wirklich ändern kann? Vom Hai zum Putzerfisch? Mir erscheint das wie ein unmöglicher Spagat.“
Unwillentlich kicherte ich. „Zum Putzerfisch?! Mit einem derart albernen Vergleich hast du dich gerade selbst schon widerlegt.“
„Hättest du dir nicht nach all diesen Jahren einfach einen normalen Freund aussuchen können? Einen netten Jungen von nebenan?“
„Tut mir leid. Ich verkehre nur mit Milliardären. Darunter mache ich es nicht mehr.“
„Hätte ich vielleicht auch lieber mal versucht. Jetzt stehe ich hier mit Herb Kurz und seinen zwei renitenten Ablegern und frage mich, was aus mir noch werden soll.“
„Wir treffen alle unsere Entscheidungen.“
„Ich hasse es, wenn du philosophisch wirst.“
„Sieh es mal so: Dein Leben ist nicht in Gefahr“, machte ich Pearl aufmerksam.
„Ich habe auch kein Leben mehr. Insofern ist die Diagnose obsolet.“
„Bevor du vor Selbstmitleid zerfließt, sollten wir uns mal wieder treffen. Wann hast du Zeit?“
„Ich weiß es nicht. Herb schläft abends immer vor dem Screening ein. Die Kinder könnten neben ihm das Haus anzünden, er würde es nicht merken. Ich melde mich, wenn die Giants wieder spielen. Dann bleibt Herb vielleicht lange genug wach.“
„Ach, Pearl. Sei nicht so negativ!“
„Und du, Nia, sei nicht so naiv!“
„Einverstanden“, gab ich lachend zurück. In diesem Moment schien sie mir wieder so vertraut und nah. „Übrigens. Bevor ich es vergesse: Hast du herausgefunden, wo Keno jetzt arbeitet?“
Bedauern hörte ich in Pearls Stimme, als sie verneinte. „Dein Tätowierer ist nicht aufzufinden. Seit Monaten keine Spur. Ich habe seinen Anschluss gehackt. Nichts. Keine Datenbewegungen seit Monaten, seine Homepage wie verwaist, kein Social Network verzeichnet Aktivitäten von ihm. Der Mann ist wie vom Erdboden verschluckt.“
„Aber irgendjemand muss ihn doch gesehen oder gesprochen haben.“
„Das Letzte, was ich über ihn herausfand, war, dass er auf einer Convention hier in Chicago gastierte. Er hat einen guten Namen, wurde groß angekündigt. Am ersten Tag arbeitete er dort auch. Eines seiner Bilder, die er dort stach, fand ich in einer Tattoo-Online-Zeitschrift wieder.“
„Und dann?“
„Und dann nichts. Er ist dort nicht mehr aufgetaucht.“
Ich war enttäuscht. Ich wollte, dass er den Drachen für mich entwarf und stach. So lautete die Tradition. Ich hatte meinen Meister bereits gefunden und wünschte mir, dass er weiter an meinem Körper arbeitete. Er tätowierte wirklich gut. „Oh, Mist!“
„Ja. Aber bedenke: Ich hatte nicht viel Zeit, nach ihm zu suchen. Ich bleibe dran, verfolge seinen Namen. Aber es handelt sich um die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Keno. Der Name ist nicht ungewöhnlich. Jeder könnte sich dahinter verbergen.“
Pearl war eine begnadete Hackerin. Nur das frühe Mutterdasein hatte sie daran gehindert, von der CIA postwendend rekrutiert zu werden. Sie arbeitete versiert und hartnäckig.
„Okay. Du gibst mir Bescheid, wenn du eine Spur von ihm finden solltest.“
„Natürlich, Herrin!“
Ich lachte. „Mach’s gut, du blöde Nuss. Bis dahin!“
„Bis demnächst, Nia. Wäre wirklich schön, wenn wir uns bald mal wieder sehen würden.“
Wir legten auf. Ich stimmte Pearl still zu, denn ich vermisste sie. Auch wenn sie nicht mehr die alte Pearl war. Die neue Pearl war alles, was mir geblieben war. Das neue Mob glühte kurz auf, bis es in den Standby-Modus glitt. Der rote Notfallknopf reizte mich, ihn einfach zu bedienen, nur um zu erfahren, was dann passieren würde. Vielleicht erst nichts, dann blaues Lichterzucken, Sirenengeheul, das Rattern von Rotorblättern eines Polizeihelikopters, der über mir seine Kreise zog. Scharfschützen, die auf mich zielten, Durchsagen mit dem Megafon, bis sich herausstellte, dass ich nur neugierig gewesen war.
Ich schalt mich für meine pubertäre Fantasie, verzichtete auf das riskante Experiment, steckte das Mob in meine Tasche und sah mich um: Chicago, Mittwochmorgen, viel Verkehr.
Vor mir materialisierten sich die Zeichen auf dem Schild. Langsam bildeten sie ein Wort: South Suites Rehab & Spa. Ich starrte schon seit geraumer Zeit darauf. Blöder Name, dachte ich zum wiederholten Mal. Und: Jetzt geh da rein! Ethan hatte mir ein Versprechen abgenommen. Nun durfte ich nicht kneifen.
„Hi! Ich habe einen Termin.“ Ich musste einen Weg zurückgelegt haben, aber ich erinnerte mich nicht daran. Plötzlich stand ich an der Rezeption. Ein junger Mann, hübsch mit gegeltem Undercut, strahlte mich an, behauptete, alles zu wissen, er würde sich nun persönlich um mich kümmern. Ich lächelte meinerseits und versuchte, mein Herzklopfen zu ignorieren. Die Situation war neu für mich. Ich reichte ihm mein Mob, was ihn prompt zu der Bemerkung „schickes Teil“ animierte. Er glich meine Daten ab und speiste sie in das System des Hauses ein. Danach stand er auf und bedeutete mir mitzukommen. Ich folgte ihm und bewunderte die Innenausstattung. Die Einrichtung glich der eines japanischen Tempels. Nun verstand ich, warum es Ethan hier gefiel. „Ist das echtes Holz?“, fragte ich den jungen Mann, der sich nun als „Chris“ vorstellte.
„Ja“, nickte Chris. „Keine Ahnung, wo es so etwas sonst noch gibt.“
Der PET-Regen zerstörte Wald und Felder gnadenlos mit seinen Giften und Schwermetallen. Denn niemand konnte einen ganzen Wald überdachen. Bäume trugen auch keine Schutzkleidung.
Ich berührte den kleinen Pavillon, der inmitten des riesigen Raums aufgestellt war. Meine Fingerspitzen ertasteten ehrfurchtsvoll die Maserung des alten Holzes. Einen Splitter hätte ich mir als Andenken behalten. Aber das Holz war völlig glatt.
Goldene Dekorationen leuchteten an den Wänden. Götterfiguren, die mir nichts sagten, thronten über dem sportlichen Treiben. Tönerne Vasen und Leuchten aus Stein säumten die Ränder des Saales. Rot und Gold drängten sich optisch in den Vordergrund. Überall standen Fitnessgeräte, Liegen, lagen bunte Matten. Patienten waren dort ausgestreckt, wurden massiert, trainiert, übten sich in Geschicklichkeit, Ausdauer und Kraft. Tageslicht drang durch breite Lichtschächte ein, die den Abschluss der hohen Wände bildeten.
„Wir pflegen eine offene Atmosphäre. Wenn du Diskretion bevorzugst, gibt es noch abgetrennte Behandlungskabinen.“
Ich war derart überfordert von der Gesamtsituation, dem Chic der Anlage, von Chris’ Offenheit und Freundlichkeit, dass ich nur dümmlich lächelte. Was ich wollte, wo und wie, war mir plötzlich nicht mehr klar. Als wüsste er, was ich nicht formulieren konnte, bat er mich, auf einer Liege Platz zu nehmen, wo ich mit den Beinen baumelnd auf sein Stichwort wartete. Etwas weiter neben uns stöhnte ein Mann, dessen Arm eine Physiotherapeutin offensichtlich gerade überdehnte.
Chris nahm auf einem Drehschemel neben mir Platz und strahlte mich schon wieder an. „Dann zeig mir mal deine Hand.“
Gehorsam hielt ich sie ihm hin. Dass er sie berührte, drehte und betastete, machte mich leicht nervös. So direkt angefasst zu werden, war plötzlich sehr persönlich und privat. Auf sein Geheiß streckte ich meine Hand und ballte sie zur Faust. Ich beantwortete jede seiner Fragen, wann ich Schmerzen hätte, wie stark, was ich bisher dagegen unternommen hätte. Ich gestand, dass es da nicht viel zu berichten gäbe.
Er fing an, Ring- und Mittelfinger zu massieren. „Und wie ist das passiert?“
Ich stotterte und versuchte, mich auf das Mindestmaß an Informationen zu beschränken: „Ein Unfall, eher schon ein Überfall.“
„Wer hat die Finger gerichtet?“
Leise erklärte ich: „Ethan Waterman.“
Chris sah plötzlich auf. In seinem Blick lag Erstaunen und Bewunderung. „Das erklärt, warum du noch nicht viel früher zu uns kommen musstest. Es sieht nach guter Arbeit aus.“
So wie er es sagte, machte es mich verlegen. Ethan war offensichtlich ein As in jeder Disziplin.
„Er kommt schon lange nicht mehr hierher. Dann geht es ihm sicherlich gut“, bemerkte Chris.
„Das hat er wohl euch zu verdanken.“
„Wir geben unser Bestes.“ Er lächelte. Er konnte nicht älter als Ende zwanzig sein. Sich mit ihm zu unterhalten, war wie ein Besuch in einer heilen, jungen Welt.
„Und das Handgelenk?“
Ich antwortete mit: „Autsch!“, auf seinen Versuch, das Gelenk zu beugen und zu drehen.
„Daran sollten wir zuerst arbeiten, es mobilisieren, denn es ist noch sehr bewegungseingeschränkt, fast gesperrt.“
Eingeschränkt. Gesperrt. Ich stimmte zu. Was sollte ich sonst tun? Wenn er mir vorgeschlagen hätte, Purzelbäume zu schlagen, hätte ich es vermutlich auch getan. Ich wurde zum Schaf, wenn jemand sich für mein Befinden interessierte.
Nachdem ich einen Teil meiner Kleidung abgelegt hatte, bewegte Chris meinen gesamten Körper, zog an Armen, Beinen, an meinen Füßen. Jeder saß oder lag hier im T-Shirt herum. Auf meine Frage, was seine Behandlung mit meiner Hand zu tun habe, wies er nur darauf hin, dass der Körper eine Einheit sei. Er arbeite nicht nur lokal.
„Aha.“ Ich tat, als würde ich verstehen, was er sagte. Während er an mir knetete wie an einem Kuchenteig, versuchte ich meine Umgebung zu beobachten. Die meisten Patienten schienen sich mit ähnlichen Kleinigkeiten wie ich herumzuschlagen. Eingeklemmte Wirbel, verkürzte Bänder, Schulterschmerzen. Ich vernahm nur Fetzen von Gesprächen. Die Kommunikation verlief sehr leise und diskret. Aber es gab auch schwere Fälle, die zu beobachten ich mich kaum traute. Zwei Patienten im Rollstuhl, zusammengesunken, kaum bewegungsfähig. Einer davon versuchte mit Unterstützung einer Physiotherapeutin an einer Gehhilfe zu laufen. Jeder Schritt ein Kampf. Sein Gesicht war schief, gekennzeichnet von Anstrengung. Ich sah weg, weil ich mich schämte, überhaupt dabei zuzusehen. Plötzlich erschien mir meine blockierte Hand wie ein kleiner Schnupfen. Es kam mir überflüssig vor, überhaupt hier zu sein.
Chris unterbrach meine Gedanken: „Hier sind ein Ball und ein Theraband.“ Ich betrachtet die Spielzeuge, die einen Hund oder eine Katze vermutlich mit großer Vorfreude erfüllt hätten, mich aber nur skeptisch stimmten. Ich lauschte Chris’ Vortrag über Eigenverantwortung und Durchhaltevermögen. Seine Anweisungen, was ich mit Ball und Band zu tun hatte, wiederholte ich gehorsam wie ein Papagei.
Gerade im Begriff mich zu erheben, verlangte er von mir: „… bitte ich dich, eine Etage höher in den Spa-Bereich zu gehen und dort den heißen Pool zu nutzen. Unter Wasser führst du ein paar dieser Bewegungen durch. Du wirst merken, dass es durch die Hitze viel besser geht. Dein ganzer Körper entspannt dabei.“
Ein Pool. Wasser. Auf keinen Fall! Ich schüttelte vehement den Kopf.
Auf Chris’ Stirn zogen Falten auf. „Was ist?“
Was sollte ich ihm antworten? Dass ich Wasser schrecklich fand und mich lieber im Trockenen aufhielt? Dass ich Angst hatte, in einem Swimmingpool zu ertrinken? Dass ich Übung darin hatte?
„Das geht nicht. Auf keinen Fall.“
„Warum?“, fragte Chris.
„Ich …, also ich habe nicht mehr viel Zeit.“ Ich stotterte, und was ich da faselte, klang nicht sehr überzeugend.
„Nur eine Viertelstunde“, beschwichtigte mich Chris. „Wenn du wirklich Fortschritte machen willst, solltest du diesen kleinen Einsatz bringen.“
Diesen kleinen Einsatz. Der Druck, den er ausübte, war subtil und dennoch klar. „Kann ich meine Hand nicht einfach ins Waschbecken halten?“ Ein kläglicher Versuch, mich diplomatisch vor dem Unvermeidlichen zu drücken.
Chris schüttelte den Kopf. „Den ganzen Körper, habe ich doch gesagt. Nia. Der Pool ist eine wahre Luxusanlage. Das Wasser ist sauber, gefiltert. Du solltest dir das nicht entgehen lassen.“
Ich konnte Chris schlecht sagen, dass ich diesen Luxus ständig vor der Haustür meines Freundes hatte. Er hätte zu Recht ein arrogantes, neureiches Arschloch in mir vermutet. Nicht in diesen Pool zu steigen, war gleichbedeutend damit, ein kostenloses Champagner-Frühstück abzulehnen. Ich dachte an das neue Mob, die Notfalltaste, und daran, dass ich es nur noch aus der Tasche holen musste.
Meine weiteren Ablehnungsversuche überging Chris höflich. Halb schob er mich, halb zog er mich. „Nimm deine Tasche einfach mit! Nackt baden im Pool ist erlaubt und sogar erwünscht. Handtücher findest du oben.“ Schon komplimentierte er mich vor sich her.
Meine Hand zuckte zu meiner Tasche hin, ergriff sie schnell. Ich folgte ihm bis zum Treppenaufgang. Ich durfte Ethan nicht davon erzählen. Er würde mir eine Riesenszene machen, auf die ich nur antworten konnte, dass er mich schließlich gezwungen hatte, diesen Ort überhaupt aufzusuchen. Wir passierten schwitzende, stöhnende Menschen, nickten freundlich, sagten nichts. Oben angekommen erkannte ich, dass die Anlage ruhig war und völlig leer.
„Glück gehabt“, bemerkte Chris. „Du hast den Pool für dich allein. Viel Spaß! Wir sehen uns dann gleich unten wieder.“ Womit er verschwand, nicht ohne mir noch zuzuzwinkern.
Ich sah mich um und bewunderte das japanische Bad. Es sah wie eine originale Anlage aus. Ich kannte Japan nicht, genau so wenig wie seine Bäder. Aber die Optik hier bestach durch Klarheit und Einfachheit, was mich schwer beeindruckte. Über mir leuchtete die Sonne im Zenit. Es gab auch ein riesiges Verdeck, aber niemand hatte es zugezogen. Heute war ein schöner Tag und mit PET-Regen nicht zu rechnen. In der Luft lag der Duft von Frische und Frühling. Kurz dachte ich darüber nach, mich einfach vor dem Unvermeidlichen zu drücken. Ein Bad reizte mich nicht. In mir erwachte ein alter Fluchtinstinkt. Ich zögerte, ich schwankte hin und her: Ethan wollte, das ich mich hier behandeln ließ, und wollte es gleichzeitig nicht: Er würde es nie erlauben, dass ich unbewacht ins Wasser ging. Ich mochte nicht baden, nicht für meine Hand und nicht für mich. Ich hasste Wasser. Ich konnte nur beim Trinken und Waschen nicht darauf verzichten. Aber ich wollte vor Chris und Ethan Kooperationsbereitschaft beweisen, wollte eine gute Freundin, eine engagierte Patientin sein.
Hey. Ich redete mir gut zu. Es war nur ein Pool, ein Wasserbecken. Kein Mensch weit und breit. Was sollte schon passieren? Der leichte Wind trieb ein paar weiße Wolkenfetzen vor sich her.
Verstohlen sah ich mich um, bevor ich meine Kleider auszog, die ich zusammen mit meiner Tasche an einen schlichten Holzhaken hängte. Ich fühlte mich sicher, denn Ethans Notfallgeschenk wartete ganz in meiner Nähe. Doch bevor ich in die Tasche greifen konnte, um nach dem Mob zu suchen, hörte ich hinter mir Geräusche. Jemand kam die Treppe hinauf. Nackt zuckte ich hin und her. Der Pool schien plötzlich sehr attraktiv, um meinen bloßen Körper zu verbergen. Ich setzte mich auf den Rand, testete die Temperatur mit den Zehenspitzen. Das Wasser wirkte angenehm warm. Etwas zwang mich, zurückzuschauen. Über meiner Schulter erblickte ich ihn: Der schwer behinderte Mann, den ich unten bei seinen Gehversuchen beobachtet hatte, kam gerade oben am Geländer an. Für einen Moment sahen wir uns in die Augen. Seine waren mandelförmig und dunkelbraun. Eines davon wirkte wie leblos, weil das Lid schräg darüber hing. Auch ein Mundwinkel war schief, als zöge ihn die Schwerkraft Richtung Boden. Der Mann atmete schwer vor Anstrengung, stemmte sich an der Krücke hoch, ein Bein zog er nach.
Irgendetwas klingelte in meinem Kopf, aber es war mir peinlich, noch länger hinzusehen, wie er sich bei jeder Bewegung quälte. Weil ich seinen Blick weiterhin auf mir spürte, glitt ich ins Wasser. Warm umhüllte es mich. Dafür, dass ich eigentlich eine solche Abneigung dagegen hatte, fand ich es ziemlich angenehm. Als ich begann, meine Hand nach Chris’ Anweisungen zu bewegen, stiegen plötzlich Blasen um mich herum auf. Ein Whirlpool, dachte ich verwirrt. Das musste mir entgangen sein. Es passte gar nicht zum Ambiente. Ein Hinweisschild hatte ich ebenfalls nicht gesehen. Vielleicht gab es eine Zeitschaltuhr, die das Becken in ein Sprudelbad verwandelte. Der Wirbel um mich herum wurde stärker, ich hörte eine Stimme, konnte aber im lauten Geblubber nichts verstehen. Meine Hände griffen nach dem Beckenrand. Eine düstere Vorahnung zwang mich, diesen Ort schnell zu verlassen. Ich erblickte den Mann mit den asiatischen Zügen, der sich auf mich zubewegte und etwas rief.
„Was?“, schrie ich zurück. Das Wasser toste, es zog an mir. Aus dem Whirlpool war ein Mahlstrom geworden. Mich am Rand hochzuziehen wurde merklich schwer. Plötzlich kam in mir Panik auf. Nicht schon wieder!, flehte ich innerlich. Mein Körper lag jetzt schräg im Wasser, so stark war der Sog. Etwas in meinem rechten Handgelenk knackste. Es war einfach noch nicht stark genug, um mich zu halten. Warum hatte ich mich nicht früher darum gekümmert? Lange würde ich mich nicht mehr an den Beckenrand klammern können, auch wenn ich meine Fingerkuppen in jede kleinste Vertiefung krampfte.
Der Mann ging vor mir zu Boden – es war beängstigend mit anzusehen. Er streckte seinen Arm mit der Krücke vor, die nun über den Rand des Pools ragte. Mühsam robbte er nach vorn.
Die Strömung war unerbittlich, in der Mitte des Pools bildete sich ein Loch, um das sich das Wasser drehte, als flösse es in einen Abfluss hinein. Ich verstand nicht, was hier passierte. Es war wie in einem meiner schlechten Träume. Meine rechte Hand gab nach, mittlerweile schrie ich laut, Wasser drang in meinen Mund. Nur eine Hand hielt mich noch an dem rettenden Rand. An ihr blinkte Ethans goldener Ring. Hilflos sah ich den Asiaten an, dessen Blick mich starr fixierte und mich festhielt wie ein unsichtbares Band. Mein Kopf zog ein Register nach dem anderen: Woher kannte ich diesen Mann? Noch ein Stück weiter brachte er seinen Körper nach vorn, die Gehhilfe aus Metall ragte in das tosende Wasser hinein.
Ich merkte, wie meine Kräfte schwanden. „Hilfe!“, rief ich mit letzter Verzweiflung, als meine linke Hand nachgab.
Ich würde sterben. Die Panik packte mich mit einer Gewissheit, die klar und unumstößlich wie die zehn Gebote war. Schon zweimal war ich dem Tod durch Ertrinken entkommen. Nun gab es kein Entrinnen mehr. Hoffnungslosigkeit ließ mich schwächer werden. Ich musste aufgeben. Ein weiteres Mal konnte ich nicht überleben. Etwas zog mich hinab, um mich herum nur unzählige Blasen, ein wilder Strudel Sauerstoff ohne Kontur, ohne Oben, ohne Unten, ohne etwas, das für mich erkennbar war. Ich würde Wasser einatmen, endlich alles loslassen, nur damit das hier ein Ende fände. Mein Widerstand war gebrochen. Hilflos griff ich ins Wasser, bis meine Finger auf Widerstand stießen, etwas Hartes fühlten und sich daran krallten. Um mich herum toste es. Außer der Wand aus Luftblasen war nichts auszumachen. Ich hielt die Luft an, bis ich merkte, wie etwas an der Stange zog, an deren glatter Oberfläche ich aber nur weiter nach unten rutschte. Durch das Wasser glitten meine Handflächen über das Metall.
Ich zwang mich, nicht einzuatmen, obwohl ich Luft brauchte und alles in mir nach einem Atemzug schrie. Meine Rechte tastete nach dem Rohr. Plötzlich spürte ich den Poolrand an meinen Fingerknöcheln. Weiter konnte ich nicht an dem Metall hinunterrutschen. Ein Gummistopfen bremste meinen Niedergang. Ich krallte mich fest, heiß brannte der Sauerstoffmangel in meiner Brust und in meiner Kehle. Noch immer riss der Wasserstrom an mir. Doch ich spürte, dass etwas meinen Körper zum Beckenrand hin bewegte. Ein Stück weiter schürfte ich mir die Finger und Unterarme auf, aber mein Kopf ragte endlich über das Wasser. Ich holte verzweifelt Luft, kurz bevor meine Lungen zu platzen drohten. Jemand zog meinen Körper Stück für Stück heraus. Als meine Brust den Beckenrand berührte, hievte ich mit letzter Kraft ein Bein hinauf. Der Rest meines Körpers folgte wie von allein. Das Wasser hatte nun keine Macht mehr über mich. Keuchend robbte ich über die Holzplanken, nur weg vom Pool, der wie ein Hexenkessel zu kochen schien.
Einen Meter weiter lag der Mann ausgesteckt, der meine Rettung verantwortete. In der linken Hand hielt er die Krücke, mit der er mich herausgezogen hatte. Zumindest eine Seite seines kranken Körpers musste erstaunliche Kräfte besitzen. Auch er atmete stoßweise, schien völlig erschöpft.
„Danke“, stieß ich hervor.
Die Worte aus seinem Mund klangen kaum verständlich, er formulierte bruchstückhaft und verschwommen. Aber ein Wort verstand ich sofort, weil es mein Name war.
Erst als ich mich fragte, woher er das wissen konnte, fiel mir endlich ein, dass ich den Mann tatsächlich kannte.