Читать книгу Firelove - Nola Nesbit - Страница 7
ОглавлениеDie wichtigste Eigenschaft der Masse ist ihr Drang zu wachsen.
Elias Canetti, „Masse und Macht“
We’re just holding on to nothing,
to see how long nothing lasts.
Beck, „Paper Tiger“
Prolog
In der Hand hielt er eine Spiegelscherbe, und in dem Spiegel sah er sich selbst, wie er eine Spiegelscherbe hielt, in der er sich selbst sah. Er multiplizierte sich ins Endlose. Der optische Effekt konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er gerade starb.
South Suites nannte sich Chicagos Wellness-Oase Nummer eins. Clubmitgliedschaften versprachen Exklusivität und Ungestörtheit. Er erholte sich hier von einem anstrengenden Arbeitstag. Er hatte viel Geld verdient, mehrere große Stücke traditionell gestochen. Einen Teil seines Verdienstes gab er nun für das Baden in heißem, frischem Wasser aus. Ein Luxus, den er sich gern gönnte in einer Welt, in der sauberes Wasser Mangelware war. Er liebte die japanische Badekultur. Nur hier, im South Suites, wurde sie in dieser nordamerikanischen Stadt noch wie eine exotische Pflanze gehegt und gepflegt. Aufgrund der massiven Umweltverschmutzung war das traditionelle japanische Bad zum Geschichtsmythos verkommen. Diese einfache Wohltat konnten die meisten Menschen nicht mehr bezahlen. Reines Wasser war teuer, weil es im Jahr 2035 kaum noch existierte.
Der schmale Pool lag auf dem Dach eines Hochhauses. Das Becken war menschenleer, die Wasseroberfläche glatt und ruhig. Sein nackter Körper glitt in das heiße Wasser. Er hatte sich zuvor unter der Dampfdusche akribisch gereinigt, gewaschen und geschrubbt. Darauf verwendete er die gleiche Sorgfalt wie beim Führen des Bambusstabes, mit welchem er seine Kunden tätowierte. Er war zu einer Convention in die Stadt am Michigan-Lake angereist. Sie galt weltweit als eine der größten in der Tätowierer-Szene: Alles, was mit Nadel und Farbe Rang und Namen hatte, traf sich hier. Er hatte die Veranstaltung bereits mehrere Male besucht, jeweils mit einem eigenen Stand, um seine Kunst zu verbreiten. Er war Japans bekanntester Tätowierer, der aufsteigende Stern unter den Tebori-Meistern. Seine Kunst nannte sich Irezumi. Seit Jahrhunderten brachte diese Technik Farbe auf Kohlebasis mit einem Bambusstock unter die menschliche Haut. Er erlernte seine Fertigkeiten über zehn Jahre bei einem Meister, der wiederum bei seinem Meister jahrelang Kenntnisse erwarb. Man studierte bei seinem Meister, man arbeitete für den Meister, man wurde zum Meister. Er liebte diese Kunst, ihre Geschichte, die Symbolik der Bilder und die Tatsache, dass das, was er mit ruhiger Hand, Kreativität und Kraft vollbrachte, ein Menschenleben überdauerte.
Seine Ellbogen ruhten auf den hellen Holzplanken, das absolut frische Wasser trug seinen Körper, umschmeichelte und liebkoste ihn. Der Nachthimmel war wolkenlos und klar, der Mond nur eine schmale Sichel, die auf der Seite ruhte. Er atmete tief ein und beobachtete, wie der Dampf des heißen Wassers in die Nacht aufstieg. Der Nebel verbarg, dass sich auf seinem Körper ein paar der exquisitesten Stücke der Tätowierkunst befanden. Nur an den Armen, die über dem Wasser lagen, konnte man die Farbpracht erahnen, die sein Meister auf ewig in ihn eingeritzt hatte. Nach der Tradition des Irezumi durfte nur ein einziger Meister sich auf seinem Körper verewigen. Große Kunst aus einer Hand.
Er erinnerte sich an den Schmerz, den er – alles andere wäre eine Schande gewesen – aber Jahre stoisch ertrug. Jetzt mahnten nur noch das Rot des Drachens, der sich um seine linke Schulter über den Oberarm wand, und die Flammen, die dieser spuckte, an das Blut, das die Nadeln am Ende des Bambusstabes aus seiner Haut hervorgebracht hatten. Das Rot des Blutes und des Feuers. Wenn das eine oder das andere über die Menschen kam, bestand das Resultat aus Vernichtung. Noch wartete das Bild auf Vollendung. Eine Ganzkörpertätowierung bedeutete ein Lebenswerk, und dieses war noch nicht vollbracht. Er dachte über den Krieger nach, den er auf seinem Bauch plante. Sein Meister würde diesen mit Nadeln aus seinem Oberkörper herausschnitzen wie aus einem rohen Stamm.
Er empfand sich selbst als Krieger, als ein Mann, der niemals aufgab. Als jemanden, der nach Höherem strebte. Ein gut aussehender Mann voller Lebensenergie und Kraft. Er war nicht nur beruflich erfolgreich, sondern auch privat begehrt. Bisher entzog er sich allen festen Beziehungen. Er genoss es, immer wieder neu unter den Frauen zu wählen. Sie fanden ihn schon immer attraktiv. Er war ernsthaft, strahlte Konzentration aus sowie unter der Oberfläche liegende Gewalt. Er stellte sich allen Herausforderungen, körperlichen und beruflichen. Noch verlor er keinen Kampf. Er befand sich im Zenit seiner künstlerischen Potenz. Mit achtunddreißig Jahren lag sein Leben noch vor ihm, und es würde alles überstrahlen, was er sich darunter vorgestellt hatte.
Ein Geräusch beanspruchte seine Aufmerksamkeit: Etwas klirrte laut direkt neben seinem Kopf. Leicht drehte er sich ein, machte unter Wasser einen trägen Beinschlag, um den einen Arm zu lösen. Auf dem Holz hinter ihm lagen plötzlich kleine Scherben. Er erkannte Spiegelglas. Am Dach des Spa hingen keine Spiegel. Er versuchte, zu begreifen, was geschehen war, und fasste intuitiv nach einem Stück, barg die Scherbe in der Hand. In ihr erblickte er sein Spiegelbild, als etwas ihn plötzlich unter Wasser zog. Seine Fußknöchel befanden sich in einem festen Griff. Mit einem letzten Reflex hielt er die Luft an, die seine Lungen sofort benötigten. Unmöglich, dieses Etwas abzuschütteln. Seine Augen erkannten unter Wasser nichts. Es war heiß, zu heiß, etwas in seiner Brust verkrampfte sich, als sich sein Körper sinnlos wand. Seine Finger griffen ins Leere, das Wasser floss einfach durch sie hindurch, verriet ihn, weil es ihn nicht trug, sondern verschlang. Neben seinem verzerrten Gesicht sank die Spiegelscherbe zu Boden. Wo war der Grund dieses Beckens? Er musste ihn doch längst erreichen. Sein Körper ruckte, zuckte, seine Muskeln verknoteten sich im Todeskampf. Er konnte den, der ihn ertränkte, nicht einmal sehen. Nach der Panik erahnte er die Leere, als er mit einem letzten Zug das Wasser in seine Lungen sog. Doch es kamen noch die endlosen Scherbenspiegelbilder, die ihn selbst zeigten, wie er sich verlor. Viel zu langsam folgte die Bewusstlosigkeit. Endlich berührte sein schlaffer Körper den Boden des Beckens, als sich die Wesen um ihn scharten.