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5 Armand

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Immer wieder hatte Laura d’Emprenvil beim späten Frühstück nervös ihre zierliche, mit Rubinen in Form des Familienwappens besetzte Damenuhr aus dem Gürtel gezogen und kopfschüttelnd betrachtet. Noch immer war Patrick nicht von seinem Morgenritt zurückgekehrt. Hoffentlich war ihm nichts passiert! Der neue, junge Fuchs, den er unbedingt selbst zureiten wollte, war doch noch sehr wild und ungebärdig. Am Ende ihrer Geduld, schickte sie Blanche auf sein Zimmer, die bei ihrer Rückkehr berichtete, die Vorhänge seien noch zugezogen und seine Reitstiefel unberührt. Verwirrt erhob sie sich, um selbst nachzusehen, doch schon auf der Treppe kam ihr aufgeregt Mademoiselle Dernier entgegen, einen Brief in der Hand schwenkend.

»Madame, nachdem der Reitknecht mir meldete, er warte schon seit zwei Stunden auf Ihren Sohn, habe ich mir erlaubt, in seinem Zimmer nachzusehen. Es scheint so, als habe er es überstürzt verlassen. Auf seinem Schreibtisch fand ich diesen Brief an Sie.«

Ungeduldig ergriff Laura das zusammengefaltete Papier und überflog rasch die wenigen Zeilen. Darin teilte Patrick seinen Eltern mit, dass er Valfleur verlassen habe, da er sich nicht länger als kleines Kind behandeln lassen wolle und außerdem keinesfalls sein Leben als verzopfter Landaristokrat auf seinem verstaubten Schloss zu verbringen gedenke. Auch die Nachfolge in das Amt des Vaters als Magistrat strebe er nicht an. Er wolle in die Armee eintreten – aber vorher müsse er das wahre Leben kennenlernen, nicht als Patrick d’Emprenvil, sondern als einfacher Bürger.

»Fantastereien!«, rief Laura aufgeregt. »Dieser dumme Junge!« Ihr Herz klopfte wild. Patrick war fort! Aber wohin? Es war unmöglich, dass ihr sanfter, verlässlicher und verträumter Patrick im Begriff war, gegen alles aufzubegehren, was andere junge Männer als erstrebenswert erachten würden. »Wie kommt er nur zu solchen Ideen – das Leben kennenlernen zu wollen?« Wahrscheinlich waren es Flausen, die ihm die Werke Voltaires, Diderots und Rousseaus in den Kopf gesetzt hatten, nachdem er sie in der letzten Zeit verschlungen hatte. Sie schwankte ein wenig, und alles drehte sich vor ihren Augen.

Mademoiselle Dernier ergriff ihren Arm, um sie zu stützen, doch sie stieß sie zurück. »Lassen Sie mich! Mein Sohn ist verschwunden, und Sie als Erzieherin wollen nichts bemerkt haben! Sie haben ihn all diese Bücher lesen lassen, die ihn verdorben haben!« Brüsk wandte sie sich um, ein Taschentuch an den Mund gepresst, um ein Schluchzen zu ersticken, und ließ die Gouvernante, von ihren Vorwürfen bis ins Innerste getroffen, mit Tränen in den Augen zurück.

Obwohl Mademoiselle Dernier wusste, dass die temperamentvolle und impulsive Laura ihren Ausbruch sofort wieder bereuen würde, trafen sie die Vorwürfe hart. Ihr Herz hing fast ebenso an der Familie und den Kindern wie das der Mutter; alle vertrauten ihr und liebten ihre sanfte und verständnisvolle Art.

Ihre Beziehung zu Patrick, dem Ältesten, glich eher der einer mütterlichen Freundin. Und obwohl er kaum jemals mit ihr über seine Pläne und Gedanken gesprochen hatte, ahnte sie schon seit Langem den Konflikt zwischen ihm und dem Vater. Sie konnte sein Gefühl des Eingeengtseins und der Bevormundung, dem er nicht zu entrinnen vermochte, verstehen. Da trafen zwei starke Charaktere mit verschiedenen Lebensvorstellungen zusammen, Vater und Sohn, die sich liebten, aber einander trotzdem nicht verstanden. Patrick würde seinen eigenen Weg finden müssen. Traurig und verloren stand sie eine Weile auf dem Treppenabsatz und starrte durch einen Schleier von Tränen vor sich hin. Hoffentlich würde der Junge keine Dummheiten machen!

Amélie nahm die Nachricht, ihr Bruder sei von Valfleur ausgerissen, eher gleichmütig auf. Er würde schon wiederkommen, dessen war sie sich sicher. Sie kannte ihn und seine Launen, seinen Drang, hinaus in die Welt zu reisen und etwas zu erleben, zur Genüge. Auch sie, obwohl sie ein Mädchen war, fand es unvorstellbar, für immer ein ruhiges, genügsames Leben auf dem Lande zu führen. Für sie sollte es einmal beides geben, im Winter die aufregende Stadt, mit Bällen und Festivitäten, und im Sommer den Zauber der ländlichen Natur. Mit versonnenem Gesicht saß sie auf ihrem Platz am Frühstückstisch, und ihr Blick ging durch die hohen Fenster auf die vom Tau glitzernde, besonnte kleine Wiese. Mit dem Silberlöffel klopfte sie einen Takt auf den Tisch, während sie versuchte, sich das hübsche Thema des kleinen Klavierstücks, das Arombert kürzlich vorgetragen hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Es war eine Komposition eines gewissen Monsieur Händel, der auch Arien und Opern schrieb.

»Amélie!« Lauras Stimme hatte einen schrillen Unterton. »Du sitzt hier ganz ruhig herum, und es berührt dich überhaupt nicht, dass dein Bruder verschwunden ist. O Gott, was soll ich nur machen. Dein Vater ist nicht da, und immer muss ich allein die Entscheidungen treffen!« Sie rang die Hände, schluchzte und lief wie eine gefangene Löwin im Zimmer hin und her.

»Mama«, antwortete Amélie ein wenig ärgerlich, »was soll Patrick denn schon passieren? Er ist erwachsen. Und offen gestanden«, fügte sie trotzig hinzu, »beneide ich ihn und wünschte, er hätte mich mitgenommen. Um Papa machst du dir doch auch keine Gedanken, wenn er fortfährt!«

»Was redest du nur daher, du dummes Kind!«, rief Laura außer sich. »Oh, was habe ich nur für Kinder aufgezogen. Ihr trampelt auf meinem Herzen herum, ohne Feingefühl, ohne den geringsten Takt...«

Der ruhigen Isabelle, die mit ihrer Puppe spielte, schnitt das Schluchzen der Mutter ins Herz. »Beruhige dich doch, Mama. Patrick weiß genau, was er tut, und ich glaube, er wird bald wiederkommen, denn nirgendwo in der Welt ist es so schön wie in Valfleur.«

Ein heftiger Tritt unter dem Tisch kam als Antwort von ihrer älteren Schwester. »Nirgendwo ist es so schön«, ahmte sie Isabelles kindlichen Ton leise nach, »du wirst es gerade wissen, du kleine Landpomeranze!«

Isabelle trat wütend zurück, traf aber nicht, da Amélie in weiser Voraussicht ihre Beine zurückgezogen hatte. Sie biss sich auf die Lippen und sandte ihrer Schwester einen wilden, drohenden Blick. »Ich hasse dich!«, zischte sie ihr kaum hörbar zu, während sie aufstand und ihre Mutter liebevoll umarmte, die zusammengesunken auf dem Kanapee saß und fieberhaft überlegte, was zu tun sei.

»Was soll ich jetzt nur anfangen?« Lauras wie immer perfekt zurechtgemachtes, leicht gepudertes Gesicht mit dem Porzellanteint zeigte Spuren ihres Kummers, die Tränen hatten die Schminke verwischt, die großen, dunklen Augen waren verquollen, und vereinzelte Strähnen ihres roten, üppigen Haars hingen ihr in Stirn und Nacken.

Isabelle kauerte sich zu ihren Füßen nieder und sah mit glücklicher Miene zu ihr hinauf. »Ich mache mir auch Sorgen um Patrick. Wo mag er nur sein?«, murmelte sie leise und streichelte ihrer Mutter die Hand.

Amélie warf ihr mit der Überheblichkeit der Älteren einen verächtlichen Blick zu. Diese dumme, weinerliche Ziege, dachte sie, sie versucht doch nur, sich bei Mama einzuschmeicheln. Sie hatte plötzlich Lust, Isabelle an den Haaren zu ziehen oder sie beiseitezuschubsen. Dann käme ihre wahre Natur durch – wie eine Furie würde sie sich wehren –, die nichts mit dem weinerlichen Gesäusel zu tun hatte, mit dem sie jetzt der Mutter in den Ohren lag.

»Mach Mama nicht noch mehr Angst, du siehst doch, wie sie sich aufregt!«, fuhr sie die Schwester an, die sie überhaupt nicht beachtete. Seufzend ließ Amélie sich in ihrer Ecke auf dem Erkerplatz nieder. Es gab keine größeren Gegensätze als Isabelle und sie, und seit sie zurückdenken konnte, waren sie immer die ärgsten Feindinnen gewesen; sie zogen sich gegenseitig an den Haaren und prügelten sich, wann immer sich die Gelegenheit bot. Isabelle versteckte Schokoladenplätzchen in ihrer Schublade, die sie genüsslich knuspernd im Bett aß, nicht im Entferntesten daran denkend, ihr auch nur eines abzugeben, sosehr sie auch bettelte. Sie bediente sich ungeniert ihrer Haarspangen und Schleifen, um sie anschließend verschwinden zu lassen; überhaupt entwickelte sie einen Kult um ihr Äußeres, der Amélie rasend machte. In letzter Zeit verbrachte sie Stunden vor dem Spiegel, kämmte ihr aschblondes, rückenlanges Haar mit nicht endender Geduld, wickelte es auf Papilloten und bestrich ihre Haut mit Pasten, die sie sich mit Zutaten aus der Küche zusammenmischte, um ihre Sommersprossen zum Verschwinden zu bringen. Sie war stolz auf ihre Magerkeit, wobei sie in Amélies Augen eher wie ein aufgeschossenes Füllen wirkte, dem es noch an Grazie mangelt und das ständig über seine zu langen Beine stolpert.

Amélie sprang auf und sagte leichthin: »Ich gehe ein wenig in den Garten!« Dieses Getue ging ihr gehörig auf die Nerven. So ein Theater, nur weil Patrick weggelaufen war, weil er einmal tun und lassen wollte, was ihm passte. Er würde schon wiederkommen. Sie konnte ihn so gut verstehen! Auch sie fühlte selbst die größte Lust dazu, auszubrechen aus dem goldenen Käfig, ein Abenteuer zu erleben und sich die aufregende Luft dort draußen um die Nase wehen zu lassen. Bald würde der eintönige, harte Winter wieder hereinbrechen, die langen, trüben Regentage, der farblose Himmel über den kahlen Bäumen und der Frost, der einen zwang, im Haus zu bleiben. Sie sog die sanfte Frühherbstluft mit dem Aroma reifer Früchte und dem würzigen Duft modrigen Holzes und feuchter Erde ein und genoss die Sonnenstrahlen, die ihre bloßen Arme liebkosten. Der Wind trug schon kühlere Luft heran, und wie immer machte er ihr Lust, mit ihm zu fliegen, zu laufen und sich die Haare von ihm durcheinanderwirbeln zu lassen. Sie lief die Wiese entlang, die von Kastanien und Lindenbäumen gesäumt war, bis zu dem kleinen Brunnen, den eine Wasser schöpfende Nymphe zierte. Das vielleicht zum letzten Mal frisch gemähte Gras roch so verlockend, dass Amélie ein Büschel aufhob und das Gesicht darin vergrub; tief atmete sie den Duft ein, der sie an ihre Kindheit erinnerte.

»Nicht wahr, dieses Aroma von Kräutern und Gräsern ist herrlich. Man sollte es in einen Flakon bannen können – dann hätte man das wundervollste Parfum der Welt«, sagte eine tiefe, sonore Stimme hinter ihrem Rücken.

Amélie fuhr zusammen, ließ das Gras fallen und drehte sich herum. Sie schaute in ein braun gebranntes, schmales Männergesicht mit unglaublich blauen, vor Lebenslust blitzenden Augen. Augen wie der Sommerhimmel, fuhr es ihr unwillkürlich durch den Kopf, doch dann riss sie sich zusammen und sagte kühl und belehrend: »Es riecht ganz gut, aber man kann es wohl nicht mit Jasmin-, Rosen- oder Fliederdüften vergleichen. Das sind die wahren Königinnen der Düfte.«

Es kam keine Antwort, und so schlenderte sie ein paar Schritte weiter, während der junge Mann in einer einfachen, aufgekrempelten Baumwollhose ihr, auf seine Sense gelehnt, mit einem versonnenen Blick nachsah; ein gewisser Trotz lag darin, der seine heiteren Züge nach den hochmütigen Worten Amélies ein wenig verdunkelte. Er setzte seine Arbeit fort, bemerkte aber aus den Augenwinkeln, dass das Mädchen aus dem Schloss ihn beobachtete, während sie scheinbar unbeteiligt davonschlenderte.

Er war wirklich ein ungewöhnlich hübscher Junge, dessen wild gelockte schwarze Haare im Nacken zusammengebunden waren und dessen nackter, brauner Oberkörper in der Sonne glänzte. Glich er nicht ein wenig dem steinernen Apoll im Gartenpavillon? Neugierig geworden, sich ab und zu bückend, um Blumen zu pflücken, näherte sich Amélie erneut und rief: »Wer sind Sie eigentlich? Ich habe Sie noch nie hier im Park gesehen und trotzdem kommen Sie mir irgendwie bekannt vor.«

Der Bursche stützte sich auf den Griff seiner Sense und beschattete mit der anderen Hand die Augen, während er Amélie lächelnd ansah. »Erkennen Sie mich nicht? Dabei gab es eine Zeit, in der wir beide oft miteinander spielten. Und ich gestehe, dass ich Sie manchmal an den Zöpfen gezogen habe, wenn es niemand sah.«

»Ah, Sie waren das!«, rief Amélie mit gespieltem Ärger aus. »Ich hasste es, wenn man mich an den Haaren zog. Das taten immer nur ungezogene, kleine Jungen.«

»Dann erlauben Sie, dass ich mich jetzt dafür entschuldige. Übrigens, ich bin Armand Placard, der Sohn des Gärtners Vincent.« Er warf seine Sense ins Gras, tat ein paar Schritte auf sie zu und machte eine drollige, übertriebene Verbeugung, über die Amélie laut lachen musste. Eine Spur zu galant für einen Gärtnerburschen, ergriff er ihre Hand, die ihm das Mädchen überrascht überließ, und drückte einen formvollendeten Kuss darauf.

Verwirrt sah Amélie in seine ein wenig spöttisch glitzernden Augen und zog die Hand rasch zurück, während sie sich bemühte, ihre Verlegenheit zu überspielen. »Ja, ja, ich erinnere mich dunkel – aber damals war ich ja noch ein Kind«, sagte sie betont damenhaft und versuchte, an Armand vorbeizublicken, der sie irgendwie verunsicherte. In keiner Weise glich er mehr dem frechen, kleinen Burschen, der so laut lachte, wenn er sie wieder einmal mit einer zappelnden Spinne in die Flucht geschlagen hatte; der sie in dunklen Ecken des Parks beim Spielen erschreckte und der es wagte, sie schnell an den Haaren zu ziehen und dann davonzulaufen.

»Sie waren schrecklich«, murmelte Amélie und wich seinen Augen aus. Obwohl sie versuchte, sich betont gleichgültig zu geben, musste sie ihn immer wieder ansehen. Aus dem schmutzigen, ständig zu Streichen aufgelegten Jungen war ein unverschämt gut aussehender Mann geworden, der, hochgewachsen und mit einem muskulösen Körperbau, ebenmäßigen Zügen und eindrucksvollen Augen, fast jede Frau dahinschmelzen lassen würde. An seiner selbstbewussten Miene sah man deutlich, dass er die Wirkung seines Charmes schon mehrmals erprobt hatte. Er lachte sie unbeschwert an und ließ dabei ebenmäßige weiße Zähne aufblitzen, dann strich er sich mit einer lässigen Bewegung die schwarzen Locken aus der Stirn, die sogleich wieder auf die dieselbe Stelle zurückfielen.

»Sie sind wunderschön geworden, kleine Amélie«, sagte er mit zärtlicher Stimme, die das Mädchen wie eine verbotene Liebkosung empfand.

Sie wich zurück, und das Blut schoss ihr ins Gesicht. Noch nie hatte es jemand gewagt, ihr so etwas zu sagen und sie in eine solche Verlegenheit zu stürzen. »So ein Blödsinn...«, stammelte sie und verstummte. Wütend suchte sie nach einer frechen Entgegnung, doch zu ihrem großen Ärger fiel ihr rein gar nichts ein. Ein dummer Gärtnerbursche, schoss es ihr durch den Kopf, wird mich doch nicht aus der Fassung bringen! »Ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten«, sagte sie schließlich so kühl sie es vermochte und drehte sich hoch erhobenen Hauptes auf dem Absatz um, um möglichst unbeteiligt weiterzuschlendern. Innerlich jedoch kochte sie vor Wut, weil es ihm gelungen war, sie so in Verwirrung zu bringen, obwohl sie sonst nie um eine Antwort verlegen war. Schließlich war sie jetzt kein kleines Mädchen mehr, das man so mir nichts, dir nichts einschüchtern konnte. Rasch schlug sie den kleinen Pfad zwischen den Bäumen ein und lief wie von Furien gehetzt durch das Buschwerk bis zu ihrer kleinen Lichtung. Dort warf sie sich atemlos auf den Rücken und starrte in das schattige Blattwerk der Bäume.

Bei halb zugezogenen Vorhängen, die das gleißende Sonnenlicht aussperrten und den Raum in diffuses, grünes Dämmerlicht tauchten, beendete Mademoiselle Dernier mit bedrücktem Herzen die Mathematikstunde. Obwohl ihre Gedanken ständig um Patrick kreisten, hatte sie ernsthaft versucht, Isabelle algebraische Formeln näherzubringen. Dabei machte das Mädchen keinen Hehl daraus, dass es den ungewöhnlich heißen Altweibersommertag, der schon in den frühen Morgenstunden alle Beschäftigungen im Haus erschlaffen ließ, lieber anderweitig verbracht hätte.

Auch der kleine Christoph wollte keinen Mittagsschlaf halten; er saß unruhig in seinem Stühlchen und war nicht so zufrieden wie sonst, wenn er Zeichen und Figuren auf ein Blatt Papier kritzeln durfte. Unruhig rutschte er auf seinem Platz herum, ließ seinen Bleistift ständig fallen und verlangte, dass die Gouvernante ihn aufhob und ihn für seine Kunstwerke lobte. Die Schwüle und Abgeschiedenheit des Zimmers drohte, sie zu ersticken, und sie schob den Vorhang beiseite, um das Fenster zu öffnen. Mit einem sehnsüchtigen Blick auf die farbenfrohe Welt dort draußen ergriff sie eines der dicken Bücher aus dem Regal, um nach dem anstrengenden Mathematikunterricht noch ein wenig aus einem Buch vorzulesen, das historische Begebenheiten in romanhafter Form darstellte.

Isabelle kuschelte sich sogleich erleichtert mit angezogenen Beinen in einen bequemen Sessel, während Christoph, der zwar kaum etwas verstand, aber den Wohllaut und Klang von Mademoiselle Derniers Stimme liebte, auf ihren Schoß kletterte. Die Erzieherin war jedoch nicht ganz bei der Sache, ihre sonst so lebendige Stimme klang zerstreut, und die Kinder langweilten sich bald. Die Vorwürfe Lauras, sie habe nicht genügend auf Patrick aufgepasst, klangen unheilvoll in ihr nach. Je nach Laune behandelte Madame d’Emprenvil sie mal wie eine Vertraute oder gar Freundin – dann war sie wieder hochmütig, schroff und zurechtweisend und ließ sie den Standesunterschied spüren, manchmal sogar, wenn Freunde oder Gäste im Hause waren.

Ganz anders der Baron; er war stets charmant, freundlich und verständnisvoll. Der Gedanke an ihn gab ihrem Herzen einen Stich, und sie unterdrückte einen Seufzer. Sie sehnte sich nach seiner Rückkehr aus Paris, wenn er temperamentvoll und mit neuen Nachrichten aus der Hauptstadt erfüllt, seine Bonmots und Geschichten zum Besten gab. Vom ersten Tag an war sie seinem unwiderstehlichen Charme verfallen. Nicht, dass er ihr jemals den Hof gemacht hätte, er war ihr gegenüber einfach nur höflich und liebenswürdig. Ohne ein Wort zu wechseln, waren sie bisweilen einer Meinung – ein Augenaufschlag, den sie hinübersandte und den er mit einem angedeuteten Lächeln erwiderte, ein fragendes Heben seiner Augenbrauen oder auch nur ein Blick oder eine vage Handbewegung in ihre Richtung. War es denn nur Einbildung und Fantasie, mit der sie seine Miene und Gebärden deutete oder die Art, mit der er ihr tief in die Augen sah? Oder war es der gleiche forschende Blick, mit dem er die Köchin ansah, wenn er sie für eine ausgefallene Speise lobte? Sie setzte den Kleinen, der ihr zu schwer wurde und der nach seinem Teddybären verlangte, wieder in den Kinderstuhl. Ihre Hände blätterten in dem dicken Band, unschlüssig, welche Geschichte sie als Nächstes wählen sollte, während sie wieder in ihre Träumereien verfiel.

Sie bemerkte nicht, dass Isabelle sie schon eine Weile schweigend beobachtete, neugierig und aufmerksam. Ihr Ausruf: »Mademoiselle, woran denken Sie?«, ließ sie in die Wirklichkeit zurückschrecken. Christoph war fest eingeschlummert, der Bär zu Boden gefallen, und die Zeichenstifte lagen am Boden verstreut. Mit einem friedlichen Ausdruck lehnte er zusammengesunken in seinem Stühlchen, ein zerknülltes Papier fest in den kleinen Fäusten. Madeleine legte einen Finger an den Mund, so als wäre sie nur Christophs wegen verstummt, um ihn nicht zu wecken.

Zu Isabelle gewandt, ihren Blick jedoch meidend, sagte sie leise: »Ich glaube, eine kleine Pause täte uns allen ganz gut. Wir setzen den Unterricht in einer halben Stunde fort – bis dahin habe ich auch eine Geschichte ausgewählt.«

Isabelle verzog die Mundwinkel. »Wie Sie wünschen, Mademoiselle.« Mit aufreizender Langsamkeit ordnete sie ihre Bücher, strich ihr Kleid glatt und nestelte an ihrer Haarschleife, bevor sie das Zimmer verließ. Madeleine seufzte hörbar, zog die Vorhänge beiseite und öffnete das Fenster, hinter dem der sonnige Tag unwiderstehlich lockte. Wie schön wäre es, über ihre Zeit so frei verfügen zu können wie Laura d’Emprenvil, die sie gerade unter dem Lindenbaum den schmalen Kiesweg entlanggehen sah.

Es war ein Anblick, der einem Gemälde von Boucher glich. Das pastellfarbene, grün gestreifte Seidenkleid mit den weisen Baumwollrüschen an Ärmeln und Dekolleté betonte ihre schmale Gestalt und zerbrechliche Taille. Ein bestickter Sonnenschirm, den sie anmutig in der Hand hielt, beschattete ihr zartes Gesicht mit den feinen Zügen, dessen Transparenz durch reichlichen Gebrauch hellen Puders noch hervorgehoben wurde. Ihr rotes Haar war der Mode entsprechend hoch aufgesteckt, und nur den Nacken und die Schläfen umspielten ein paar kecke Löckchen. Neben ihr schritt die eher schmächtige Gestalt Camille Desmoulins, der, kurz zuvor angekommen, mit ernster Miene und weit ausholenden Gebärden auf sie einredete. Laura schien ihm aufmerksam zuzuhören. Plötzlich ergriff der Journalist kühn ihre Hand und drückte einen leidenschaftlichen Kuss darauf.

Madeleine wich vom Fenster zurück, als hätte sie etwas Unanständiges beobachtet. Eine Empfindung fast wie Eifersucht wallte in ihr auf. Warum musste sie nur immer Zuschauerin sein? War das ihre Rolle im Leben? Warum hatte jene dort unten den Mann, den sie, Madeleine, sich erträumte, und noch dazu die Gabe, andere in ihren Bann zu ziehen, die sie verehrten und bewunderten, die sie um sich versammelte wie eine Königin ihren Hof? Tränen traten ihr in die Augen, und sie senkte beschämt den Kopf. Wie konnte sie sich nur zu solch niederen Gedanken hinreißen lassen? War jene Frau nicht großzügig, offen und bisweilen wie eine Freundin zu ihr? Hatte sie sich nicht immer gesagt, dass es wichtiger sei, zu lieben, als geliebt zu werden? Man schätzte sie; und Amélie, Isabelle, Christoph und Patrick liebten sie sogar, jeder auf seine Art. Und Patrick – sah sie ihn nicht ein bisschen auch als ihren Sohn? Früher, als Kind, war er manchmal zu ihr gekommen, wenn alle anderen ihn nicht verstanden, um den Kopf kummervoll in ihren Röcken zu vergraben. Dann musste sie ihn trösten, und er hatte mit seinem engelhaften Augenaufschlag zu ihr aufgesehen, sich die Tränen trocknend. Doch jetzt machte ihr sein Verschwinden Angst. Wo steckte er jetzt in diesem Moment, wie mochte es ihm gehen? Vielleicht hatte Desmoulins irgendwelche Nachrichten über seinen Aufenthalt aus Paris mitgebracht? Sicher hatten sich Madame d’Emprenvil und der Journalist darüber unterhalten. Es konnte der Grund dafür sein, dass er so aufgeregt und intensiv auf Laura eingeredet hatte. Dumpfe Spannung hielt ihr Herz umklammert, wenn sie an den Jungen dachte, der kein Kind mehr war, aber auch noch kein Mann. Was konnte ihm in diesen unruhigen Zeiten alles zustoßen! Das Herz schlug ihr mit einem Mal bis zum Hals, und ihre Hände zitterten.

Sie würde den Unterricht nicht fortsetzen können, ohne sich bei Madame d’Emprenvil erkundigt zu haben, ob es etwas Neues gebe. Sie rief nach Marie, dem Kindermädchen, die Christoph vorsichtig auf den Arm nahm. Als sie das Haus verließ, schlug ihr die unnatürliche spätsommerliche Hitze ins Gesicht, schwer und mit herbstlichen Blumendüften durchtränkt. Zögernd wandte sie sich in Richtung des kleinen Pavillons, ihre Schritte knirschten leise auf dem schmalen Kiesweg. Laura und Desmoulins waren ihren Blicken entschwunden, sie schienen von den Bäumen und deren Schatten verschluckt. Vielleicht hatten die beiden als Schutz vor der Hitze den Pavillon aufgesucht.

Madeleine fand ihn still in der Sonne liegend, und sie wollte gerade umkehren, als sie von drinnen Stimmen hörte. Zaghaft spähte sie durch die halb offene Tür und klopfte leise. Niemand antwortete, und sie öffnete die Tür ein wenig weiter. Wie versteinert blieb sie auf der Schwelle stehen. Das Bild, das sich ihr bot, ließ sie den Mund wieder schließen, den sie schon zu einer Frage geöffnet hatte: Laura lag in den Armen Desmoulins‘, der sie umschlungen hielt. Es sah nicht so aus, als ob sie sich ernsthaft gegen den Kuss wehrte, den der Journalist ihr rauben wollte. Sie bemerkten nicht, wie die Gouvernante die Tür behutsam wieder schloss und versuchte, sich so leise wie möglich zu entfernen. Doch der Schlüssel, der außen an der Tür steckte, löste sich und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden. Madeleine flüchtete einige Schritte über den Kiesweg, als hätte sie etwas Verbotenes getan.

Nur ein paar Augenblicke später stand Laura d’Emprenvil mit erhitzten Wangen und leicht zerzausten roten Locken in der Tür. Als sie die Gouvernante erblickte, zog sie die schöne Stirn in unmutsvolle Falten und setzte eine hochmütige Miene auf. »Was machen Sie hier?«, rief sie mit leicht schriller Stimme. »Sie wissen doch, dass ich im Pavillon ungestört arbeiten möchte!«

Hinter ihr tauchte Desmoulins mit einem Dossier und Federkiel auf, und die beiden tauschten einen Blick, während er sich beeilte, eine überflüssige Erklärung abzugeben. »Es geht um das neue Volksblatt, das ich demnächst herausbringen möchte. Ich habe es zur Ansicht mitgebracht. Madame mit ihrem hervorragenden Stilgefühl...«

»Was gibt es denn?«, unterbrach Laura ihn ungeduldig und sah die Gouvernante streng an.

»Madame...«, stammelte Madeleine atemlos, sie hatte ganz vergessen, dass sie Patricks wegen gekommen war. »Die Unterrichtsstunden am Nachmittag, diese Hitze... die Kinder sind so müde und auch ein wenig blass. Amélie hat sich gar nicht blicken lassen...«

»Ja, ja...«, Laura strich sich ärgerlich die gelösten roten Locken zurück und nestelte an den Spitzen ihres Ausschnitts. »...und deswegen kommen Sie mir nachgelaufen? Machen Sie es so, wie Sie es für richtig halten, ich kann mich doch nicht um alles kümmern...« Als sie das gekränkte Gesicht der Erzieherin bemerkte, mäßigte sie ihren scharfen Ton. »Ich vertraue Ihnen in dieser Hinsicht voll und ganz. Nur lassen Sie mich jetzt damit in Frieden, ich habe andere Sorgen.« Damit kehrte sie in den Pavillon zurück und schloss nachdrücklich die Tür. Der Gedanke an Mademoiselle Dernier verursachte ihr Unbehagen. Was hatte sie gesehen? Immer musste sie ihr nachspionieren und wie ein Schatten auf leisen Sohlen plötzlich auftauchen, wo man sie nicht brauchte. Ihre übertriebene Empfindsamkeit rief in ihr ständig ein schlechtes Gewissen hervor. Obwohl sie sicher auf ihre Diskretion zählen konnte, war an ihrem Wesen etwas, das sie reizte und sie manchmal zu heftigen Reaktionen zwang.

Sie stieß Desmoulins, der sie aufs Neue an sich ziehen wollte, heftig zurück. »Hören Sie auf mit diesen Dummheiten, Sie sehen ja, was ich davon habe!« Mit strenger Miene setzte sie sich an ihren kleinen Schreibtisch und sah in das Dossier mit den zerknitterten Blättern, die ungeordnet darin lagen. Ihr Gesicht erhellte sich ein wenig, und sie lächelte, als sie den Inhalt flüchtig überflog. »Das ist nicht schlecht«, sagte sie nach einer Weile nachdenklich, »aber zu trocken. Das wird kein Mensch, bis auf eine Handvoll Intellektuelle, lesen. Aber Ihr Aufruf soll ja das Volk erreichen... Sie sind sein Berater, ja der Freund, warum nicht – ami du peuple, der Freund des Volkes –, warum nennen Sie Ihre Zeitung nicht so, ja, ›Volksfreund‹, ganz einfach. Und dann muss alles viel einfacher formuliert werden, vielleicht so...« Sie kritzelte eifrig und korrigierte eine ganze Passage. »›Göttliche Vorsehung! Ich werfe mich vor dir nieder, indem ich mit Abscheu auf die Könige hinabsehe...! Ich sage ihnen: Wer seid Ihr? Was habt Ihr getan für das Glück der Menschen? Ab jetzt müssen die Völker in ihren Versammlungen selber Gesetze machen und ihr Glück begründen!‹«

Desmoulins lauschte aufgeregt. Wie recht sie doch hatte! Warum war er nicht schon eher darauf gekommen! »Sie sind ein Engel!«, stieß er mit leuchtenden Augen hervor, als er den Text las, »genau so muss es sein! Wenn Sie mir... es ist vielleicht unverschämt..., aber ich bitte ja nur um kleine Korrekturen, vielleicht sehen Sie einmal in Ruhe das ganze Manuskript durch...«

»Das Ganze? Unmöglich«, empörte sich Laura, »ich habe wirklich andere Sorgen...« Sie hielt inne und dachte nach. »Es sei denn, Sie tun mir ebenfalls einen Gefallen, dann wäre ich einverstanden!«

»Alles, was Sie wünschen – ich liege Ihnen zu Füßen, das wissen Sie!«

»Mein Sohn Patrick, er ist wahrscheinlich in Paris und streunt dort herum. Ich mache mir solche Sorgen. Vielleicht können Sie ihn finden. Er ist nach einem Streit mit seinem Vater einfach verschwunden. Ich bitte Sie, Sie haben doch gewisse Beziehungen in Paris, Sie kennen die Stadt! An Geld soll es nicht fehlen.«

»Aber ich...«, begann Desmoulins mit einer abwehrenden Gebärde, »ich glaube nicht, dass gerade ich der Richtige wäre... Ihr Mann könnte sicherlich eher etwas erreichen.«

»Mein Mann wäre außer sich, wenn er von Patricks Verschwinden erführe, er würde übereilte Schritte tun, aber Sie...«

Laura sah mit verführerischem Lächeln zu ihm auf, sodass ihm plötzlich die Worte fehlten, und er presste sie an sich, berauscht von dem Duft ihres Parfums, ihrer Haut, ihrer Stimme und der Aussicht, sie womöglich ganz zu besitzen. »Sie helfen mir, und ich helfe Ihnen«, raunte er leise in ihr Ohr und küsste zärtlich ihren Nacken.

Laura stieß ihn halbherzig von sich. »Gehen Sie, ich kann Sie jetzt nicht umarmen, ich bin zu aufgeregt... Wenn Sie Patrick und seinen Freund Auguste gefunden haben, können Sie alles von mir verlangen. Ich beschwöre Sie, finden Sie ihn! Und jetzt lassen Sie mich allein!«

Desmoulins strich sich glättend über die brillantineglänzenden, störrischen Haare und rückte sich die Kragenbinde zurecht. Ausgerechnet er sollte diesen ihm von Herzen unsympathischen, aufgeblasenen und frechen Burschen, der ihn wie ein Stück Dreck behandelt hatte, in Paris aufspüren und ihn seiner Familie wieder zuführen! Wie sollte er ihn finden in diesem Schmelztiegel Paris? Es wäre leichter, eine Nadel in einem Heuhaufen zu finden! Aber Lauras wegen würde er alles tun... sie erhitzte sein Blut, er liebte sie und musste sie haben! Ihr zuliebe konnte er diese Bitte nicht abschlagen, nicht zuletzt im Hinblick auf ihr Talent, Schlagzeilen zu formulieren, die seine eher trockenen Berichte in zündende Aufrufe verwandelten. »Ich reise gleich heute zurück, wenn Sie es wünschen, und hoffe, mich bald mit Neuigkeiten melden zu können. Es wird nicht einfach sein, die beiden Ausreißer in dieser großen Stadt zu finden; aber ich werde alles versuchen, was in meiner Macht steht.«

Laura atmete erleichtert auf und sah ihm mit einer Mischung aus Dankbarkeit und gespielter weiblicher Hilflosigkeit tief in die Augen. »Ich wusste, welchen Freund ich in Ihnen haben würde.« Sie beugte sich vor und streifte mit den Lippen sanft seine Wangen.

Desmoulins schwindelte vor Verlangen, sie in die Arme zu reißen. »Nicht nur einen Freund...«, stieß er hervor, »viel mehr, wenn Sie es wünschen...«

Laura trat geschickt einen Schritt zurück, um seinem glühenden Blick und seinem heißen Atem auszuweichen. Tränen traten ihr in die Augen, und sie schluchzte leise: »Wenn Sie wüssten, wie verzweifelt ich bin! Beweisen Sie mir Ihre Freundschaft! Bringen Sie mir meinen Sohn zurück. Ich flehe Sie an. Ich habe Vertrauen zu Ihnen.«

Desmoulins verbeugte sich linkisch, verärgert über seine Schüchternheit, die ihn hinderte, ihr seine Liebe zu gestehen, und stammelte eindringlich: »Sie wissen, dass ich es nur für Sie tue, wenn ich nur hoffen dürfte, dass meine... Sympathie zu Ihnen nicht einseitig wäre...«

Er wagte es, erneut seinen Arm um ihre Taille zu legen, doch Laura wich ihm mit einer leichten Drehung aus. »Wir werden sehen, lieber Camille, was das Schicksal uns bringt. Heute bin ich zu aufgewühlt für eine Antwort. Gehen Sie, lassen Sie mich jetzt allein!«

»Ich melde mich, sobald ich etwas in Erfahrung bringen konnte. Leben Sie wohl.«

Laura atmete erleichtert auf, als er endlich den Pavillon verlassen hatte. Leicht lenkbar, aber ein wenig anstrengend, der junge Mann, dachte sie, doch er würde eine große Zukunft haben, dessen war sie sich sicher.

Amélie war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um sich Sorgen um ihren Bruder zu machen. Ohnehin war sie überzeugt, dass er sich in Paris durchschlagen würde. Träge saß sie auf ihrer alten Kinderschaukel zwischen den Birken, abseits der Wiese und wippte sanft, von der Wärme der Mittagssonne eingelullt. In der Nacht hatte sie einen merkwürdigen Traum gehabt: Apoll war von seinem Steinsockel gestiegen und hatte ihr die Hand küssen wollen. Als er aber den Kopf hob, hatte sie in die Züge des Gärtnersohns geblickt, in den er sich verwandelt hatte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, wenn sie sich das süße Gefühl ins Gedächtnis rief, das sie durchschauerte, als er sie berührte, und an den Kuss, der noch jetzt auf ihrer Hand wie in ihrem Herzen brannte. Sie schloss die Augen, legte den Kopf zurück und schaukelte sanft hin und her, als eine Stimme, die direkt aus ihren Träumen zu kommen schien, ganz nah an ihrem Ohr sagte: »Wie nett, dass Sie mich besuchen kommen. Ich dachte erst, Sie mögen mich überhaupt nicht.«

Amélie fuhr herum und sah sich ihrem Wirklichkeit gewordenen Traumbild gegenüber. Eine verräterische Röte überzog ihr Gesicht, und sie fühlte sich ertappt. »Sie, besuchen? Ich denke gar nicht daran. Ich sitze oft auf dieser Schaukel, um ein wenig... nachzudenken. Außerdem muss ich sowieso gleich wieder ins Haus, ich fürchte, ich habe meinen Unterricht versäumt.« Sie sprang von der Schaukel und wollte, verlegen wie sie mit einem Mal war, davonrennen.

Doch mit zwei schnellen Schritten war Armand bei ihr und nahm, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, ihren Arm. »Gehen Sie nicht! Ich habe auf Sie gewartet!« Fasziniert von dem eindringlichen Blick, der ernst und ein wenig traurig schien, blieb Amélie wie gebannt stehen. »Bleiben Sie doch noch eine Weile. Ich habe mich so gefreut, als ich Sie sah – ja, ich habe mir heimlich gewünscht, Sie zu treffen.« Verwirrt machte Amélie sich los, zögerte aber und blickte zu Boden. Sie wusste selbst nicht, was sie noch festhielt, aber der junge Mann fuhr fort: »Ich wollte Ihnen etwas zeigen, etwas, das als Kind für mich sehr wichtig war und das mir auch heute noch sehr viel bedeutet.«

Seine Stimme klang tief und bewegt, und Amélie fragte nach einer kleinen Pause, so leichthin sie es vermochte: »Nun, was ist es? Was kann das schon sein?«

Geheimnisvoll legte er den Finger an den Mund und sah das Mädchen mit einem spitzbübischen Ausdruck in den Augen an, von dem ihr ganz schwindlig wurde. »Kommen Sie mit, selbst auf die Gefahr hin, dass Sie mich danach auslachen, will ich es Ihnen zeigen.« Er nahm wieder ihre Hand und zog sie mit sich fort. Amélie, sonst so widerspenstig, ließ sich mit klopfendem Herzen die Allee entlangführen, dann folgten sie über den kleinen Pfad der Mauer, die nach ein paar Metern in einer dichten Weißdornhecke verschwand. Armand blieb stehen, um Atem zu schöpfen, und sah Amélie aufs Neue mit diesem seltsamen Blick an, in dem ein gewisses Funkeln lag, das ihr ein eigenartiges Prickeln in der Magengrube verursachte. Unvermittelt hob er die Hand, um ihr mit zärtlicher Geste eine Locke, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht zu streichen.

Amélie wich ein Stück zurück und versuchte, seinen Blicken mit einem frechen, gleichgültigen Ausdruck zu begegnen. Ärgerlich stellte sie fest, dass eine ungewohnte Verwirrung ihr wieder Röte ins Gesicht trieb, sodass sie in gespielter Erschöpfung sagte: »Wie weit ist es noch? Ich habe keine Lust, bei dieser Hitze zwischen den Sträuchern herumzulaufen.«

Statt zu antworten, folgte Armand zielstrebig dem enger werdenden Pfad, während Amélie zögernd nachkam. Schließlich bückte er sich und machte sich an einem Vorsprung der Mauer zu schaffen; er kratzte und rüttelte an den grauen Steinen, bis endlich einer nachgab. Aus dem Loch nahm Armand ein dunkles, schimmeliges Stück Holz heraus, das sich als schmutziges Kästchen erwies, aus dem er ein verblasstes, feuchtes Stück Stoff zog. Triumphierend hielt er es Amélie entgegen, die angewidert einen Schritt zurücktrat.

»Was ist denn das für ein ekliger Fetzen? Den wollten Sie mir zeigen?«

In Armands Zügen malte sich eine gewisse Verlegenheit, und er murmelte: »Ja, natürlich, aber ich wusste, Sie würden es nicht verstehen. Es ist... es ist Ihr Halstuch. Erkennen Sie es nicht? Ich hatte es Ihnen entwendet, das ist wahr, doch damals war es das Kostbarste, was ich besaß. Wie oft habe ich als Junge träumend dagesessen und den Duft dieses Tuches eingesogen – an das kleine Mädchen denkend, meine Schlossprinzessin, die mich nicht einmal ansehen wollte, mich, den unscheinbaren Gärtnersohn.«

Amélie hob geschmeichelt die Brauen. »Aber das stimmt doch gar nicht, Sie haben mich immer geärgert und erschreckt.« Er war in mich verliebt, durchfuhr es sie triumphierend, und sie suchte in seinen Zügen die Spuren eines vergangenen Schmerzes. »Ich mochte Sie nicht und fand es abscheulich, dass Sie mir immer auflauerten«, sagte sie kühl.

»Sie lebten in einer anderen Welt«, sagte er leise, »so hoch über mir...«

Es schien Amélie, als verdunkelten sich seine Augen vor Kummer und wurden feucht. Eine Welle des Mitleids überflutete sie, und sie streckte die Hand aus, wie um ihn zu trösten. Ohne zu wissen, wie ihr geschah, zog er sie an sich, und sie fand sich an seiner Brust wieder. Ein seltsames Wohlgefühl, mit Verwirrung gemischt, das dem ihres Traumes ähnelte, hielt sie davon ab, sich zu wehren. Wie eine glühende Flamme durchfuhr es ihren Körper, als sie Armands Lippen spürte, die sich ungestüm auf die ihren pressten. Mit aller Kraft versuchte sie, ihn von sich zu stoßen, aber der junge Mann ließ sie erst nach einer Weile los, so unvermittelt, dass sie taumelte.

Unbeweglich sah er ihr nach, wie sie mit erhitztem Gesicht und zerzaustem Haar in blinder Hast den verwachsenen Pfad zurücklief. Ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen: »Bis morgen, um die gleiche Zeit!«, rief er mit einem sehnsuchtsvollen Unterton; doch das junge Mädchen warf keinen Blick zurück. Dennoch glänzte es triumphierend in Armands Augen auf. Mit einem heftigen Fußtritt schob er den Stein beiseite und schleuderte das Kästchen achtlos über die Mauer.

Amélie - Gesamtausgabe

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