Читать книгу Amélie - Gesamtausgabe - Nora Berger - Страница 19
12 Isabelle
ОглавлениеEs war früh dunkel geworden, und der Regen trommelte mit unverändertem, monotonem Geräusch hernieder. Rospert kam schmutzbespritzt unverrichteter Dinge von der Suche nach dem verschwundenen Mädchen zurück, seine Männer hatten jeden Busch des Grundstücks und der Umgebung bis zum Dorf durchkämmt. Der alte Gärtner schwor unter Tränen, dass er seinen Sohn seit jenem unheilvollen Vorfall nicht mehr gesehen habe.
Doch Amélie war es, die nach eingehender Suche auf Isabelles Schreibtisch einen angefangenen Abschiedsbrief fand, der wie als Lesezeichen in einem Buch steckte. Die Schwester hatte offenbar in Eile den Brief abgebrochen. »Sucht nicht nach mir und verzeiht mir«, schrieb sie in ihrer krakeligen Kinderschrift, »ich halte dieses scheinheilige Dasein nicht mehr aus! Sind nicht alle Menschen gleich, und ist nicht Armand genauso wertvoll wie ein Mensch, der seinen Titel nur durch seine Geburt erworben hat? Ich liebe ihn und kann ohne ihn nicht leben und er nicht ohne mich! Vergesst mich, wenn ich Schande über die Familie bringe, ich muss dem Geliebten folgen.«
Als sie diese Zeilen las, wurde Amélie von kalter Wut gegen Armand gepackt. Nur sie allein wusste, dass er log! Den Brief in der Hand schwenkend, sagte sie zu Madeleine: »Wie konnte Isabelle Mama das antun, jetzt, wo Christoph im Sterben liegt!« Der Satz stand im Raum wie ein trübes Gespenst, kalt, nüchtern und unausweichlich. »O nein, das wollte ich nicht sagen!«, schluchzte Amélie auf, erschrocken über das, was ihr über die Lippen gekommen war, und brach vollends in Tränen aus.
Madeleine legte ihr müde den Arm um die Schulter. »Wir alle müssen uns damit abfinden – es ist die traurige Wahrheit! Aber vielleicht geschieht noch ein Wunder.« Den Brief in der Hand, als könnte sie hinter den Zeilen noch etwas anderes lesen, saß sie gedankenversunken am großen Esszimmertisch, ohne auch nur einen Bissen anzurühren. »Sie ist doch noch so jung – ein wirkliches Kind, wie soll sie schon wissen, was Liebe ist! Mit fünfzehn Jahren!«
»Fast sechzehn«, verbesserte Amélie, die ihre Tränen schnell wieder getrocknet hatte, und nahm sich noch eine Scheibe der Fasanenpastete mit den Wachteleiern. Fast schämte sie sich, trotz der tragischen Ereignisse einen so gesunden Appetit zu haben.
Im Augenblick wachte die Amme bei dem Kleinen, denn Laura konnte sich vor Erschöpfung und Kummer nicht mehr auf den Beinen halten. Zunächst hatte sie sich geweigert, ein Schlafmittel zu nehmen, doch die Amme gab nicht nach, bis sie etwas von dem beruhigenden Trunk nahm, den sie ihr gekocht hatte. Es würde sicher noch etwas dauern, bis der Chirurg eintraf, der vielleicht noch als Einziger ein Wunder vollbringen konnte.
»Wenn nur dein Vater schon zurück wäre«, seufzte Madeleine und stützte den Kopf in die Hände, »meine Kräfte gehen allmählich auch zu Ende.«
Amélie legte die Gabel hin und stand auf. »Ich werde bei Christoph wachen – schließlich bin ich seine Schwester!«
Langsam stieg sie die Treppen hinauf bis zu Christophs Zimmer, aus dem kein Laut drang. Leise drückte sie die Klinke. In dem abgedunkelten Zimmer bot sich ihr ein Bild trügerischen Friedens. Die alte Amme saß mit herabgesunkenem Kopf auf einem Sessel am Bett, die breiten Hände, die schon so vielen Kindern auf die Welt geholfen hatten, im Schoß gefaltet. Amélies Blick wanderte über sie hinweg zu dem Bettchen, wo der Junge heftig atmend schlief, auf den |Wangen rote Flecken, die von der Blässe des eingefallenen Gesichtchens abstachen. Er schien irgendwo weit weg zu sein. Amélie fühlte einen dumpfen Druck in der Brust, der ihr langsam die Kehle zuschnürte, als sie den ehemals so munteren kleinen Kerl so reglos daliegen sah. Eine nie gekannte Angst vor etwas Unbekanntem, Drohendem, das in der Luft lag, ließ sie zurückschrecken, und sie wusste, dass sie nicht bleiben konnte.
Auf Zehenspitzen schlich sie hinaus, doch an der Tür riss sie ein Schmerzenschrei zurück, der ihr durch Leib und Seele drang. Der Kleine war erwacht, und seine spitzen Schreie gingen in ein greinendes Weinen über. Im Zimmer begann ein erregtes Hin und Her, und Madeleine stürzte, ebenso wie ihre Mutter, die dieser Ton aus der Betäubung gerissen hatte, an ihr vorbei ins Zimmer. Beklommen blieb sie noch eine Weile auf dem Treppenabsatz stehen. Sollte sie wieder hineingehen? Sie wollte doch wachen – doch gleichzeitig hatte sie das Gefühl, nicht helfen zu können, diese Grausamkeit nicht mit ansehen zu können, die das Leben einem so unschuldigen Kind antat. Tränen stürzten ihr aus den Augen, und sie warf sich auf ihr Bett und zog sich die Decke über den Kopf, als könnte sie alles Elend aussperren, welches das Haus befallen hatte.
So vergingen qualvolle Tage, in denen die schöne Laura d’Emprenvil zu einem Schatten ihrer selbst abmagerte. Der Baron war in der Nacht noch mit einem Chirurgen aus Paris eingetroffen, der einen letzten, verzweifelten Eingriff versuchte. Man hoffte... doch es kam die unvermeidliche Stunde, in der der kleine Christoph stumm und wie schlafend in seinem Bettchen lag. Ein Schreckenstag, an dem das Haus von den Klageschreien und dem nicht aufhören wollenden Schluchzen Lauras widerhallte, die sich nicht in das grausame Schicksal ergeben wollte.
Charles d’Emprenvil war selbst niedergeschmettert vom Tod seines Kindes, seines kleinen Lieblings und Sonnenscheins. Doch was ihn noch zusätzlich ins Mark traf, war die Flucht seiner Tochter mit dem Tunichtgut, den er zu milde behandelt zu haben glaubte. Eine Weile fürchtete er fast um den Verstand seiner Frau, der das Verschwinden Isabelles nach dem langen, schrecklichen Leiden ihres kleinen Kindes über alle Kräfte ging. Doktor Tourmon verordnete ihr starke Drogen, um sie ruhig zu stellen, und sie verfiel in eine seltsame, abwesende Starre.
Wenn man nur eine Spur von Isabelle finden könnte! Das würde sie vielleicht aufrichten, ihr neuen Mut geben. Doch das Mädchen war, ebenso wie der unselige Armand, wie vom Erdboden verschluckt. Es gab nicht den geringsten Hinweis, wo sie sich aufhalten könnten, und d’Emprenvil suchte selbst Tage und Nächte die Umgebung ab, spielte alle seine Verbindungen aus und drohte denjenigen mit strengen Strafen, die das Paar beherbergen sollten, ohne ihn zu benachrichtigen. In seinem Innern kochte es, seit er die Schublade, in der er ein paar hundert Franken aufbewahrt hatte, leer gefunden hatte – ausgeraubt von der eigenen Tochter.
Der alte Gärtner und Armands Vater, der sich in seinem Leben nie etwas hatte zuschulden kommen lassen, verkroch sich aus Angst und Scham in seinem Häuschen und verfluchte seinen missratenen Sprössling, in den er einst so große Hoffnungen gesetzt hatte.
Amélie schlich in Haus und Garten umher und fühlte sich traurig und überflüssig; sie wünschte sich Richard herbei, dem sie lange Briefe schrieb und an dessen Hals sie sich am liebsten geworfen hätte, um ihren Kummer zu ersticken. Ihre Hochzeit schien in weite Ferne gerückt, niemand sprach in diesen traurigen Tagen davon. Eine lähmende Starre war über das Schloss gefallen, selbst die Nachrichten aus Paris hatten plötzlich alle Bedeutung verloren.
Als man Christoph in der gefrorenen Erde begraben hatte, schien es, als wollte Laura ihrem Kind bald folgen. Sie weigerte sich zu essen, verließ kaum ihr Zimmer und wollte mit niemandem reden, selbst mit ihrem Mann nicht. Der Baron hatte sie noch nie so trostlos gesehen. Er tat sein Möglichstes, um sie ein wenig aufzuheitern, doch schließlich musste er sich eingestehen, dass ihn die Trauer in dem stillen Haus, umgeben von der leblos scheinenden Natur, selbst zu lähmen schien. Ein Gefühl der Wehrlosigkeit gegen eine unsichtbare Macht packte ihn, stand wie ein Gespenst hinter ihm, und er wusste, dass er sich in seine Arbeit stürzen musste, um zu vergessen und seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben, wenn er nicht untergehen wollte.
Ein überraschendes Lebenszeichen von Isabelle, durch einen Unbekannten am Tor abgegeben, enthielt die dürren Worte, dass man nicht nach ihr suchen solle, da es ihr gut gehe und sie lieber für die Rechte der Armen kämpfe, als bei Menschen zu bleiben, die glaubten, allein durch ihre Geburt mehr wert zu sein als andere. Sie liebe ihre Eltern und wünsche ihnen nichtsdestotrotz alles Gute. Laura war durch diese Worte aufs Neue niedergeschmettert; der Geist Armands klang aus ihnen, denn der Gedanke an ihre sanfte, sogar schüchterne Tochter als Revolutionärin war für sie einfach unvorstellbar.
Der Baron fluchte, als er die wenigen Zeilen las, und knüllte den Brief zusammen. »Dieses missratene, schreckliche Kind!«, rief er empört aus. »Wenn ich diesen Kerl noch einmal in die Hände kriege, der ihr das antut, der sie zu diesen Dummheiten anstiftet!«
Laura lehnte den Kopf müde gegen seine Schulter. »Wenn sie nur gesund zurückkommt!«, seufzte sie.
D’Emprenvil strich seiner Frau zärtlich übers Haar und presste sie an sich. »Komm mit mir nach Paris«, flüsterte er, »das wird dich auf andere Gedanken bringen. Ich habe Angst um dich!«
Doch Laura schüttelte den Kopf, sie wollte in der Nähe von Christophs Grab bleiben, das sie jeden Tag aufsuchte. »Nein, Charles, ich muss hier sein, wenn Isabelle zurückkommt. Ich fühle, dass sie mich braucht, wenn sie auch fern ist.«
D’Emprenvil ging und packte schweigend seine Sachen. Er wusste, er würde Laura nicht umstimmen können. Bevor er abreiste, ließ er Madeleine zu sich rufen, die Bescheidene, Unermüdliche, zu der er von Anfang an, da sie im Hause war, eine echte und tiefe Zuneigung empfand, die weit über das Maß hinausging, das man einem Dienstboten entgegenbringt. Gerade in der letzten Zeit der aufopfernden Pflege des kleinen Christoph in unzähligen durchwachten Nächten war es ihm wieder klar geworden, wie wichtig diese Frau für seine Familie war. Er hatte das Bedürfnis, etwas für sie zu tun, ihre scheue, stille Art zu belohnen, mit der sie mit ganzem Herzen ihre Pflicht erfüllte. Als sie eintrat, war sie blass und schlug die Augen nieder, doch als er sie freundlich ansprach, huschte eine flüchtige Röte wie ein Schatten über ihre Züge.
»Mademoiselle«, sagte er, »ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken und ausdrücken soll, was es mir bedeutet hat...«
»Nein«, unterbrach ihn Madeleine, »ich möchte keinen Dank, ich habe nur getan, was ich fühlte, ich habe ihn sehr lieb gehabt, so als sei er mein eigenes Kind...« Ihre Stimme erstarb, sie wandte ihm den Rücken zu, und ihre Schultern bebten in stummem Schmerz.
D’Emprenvil war erschüttert. Auch er musste schweigen, seine Augen wurden feucht und seine Kehle schnürte sich zusammen. »Kümmern Sie sich um meine Frau«, sagte er und sah sie bittend an, »wenn ich fort bin! Ich vertraue sie Ihrer Fürsorge an. Sie ist nicht so stark, wie sie sich gibt, sie ist niedergeschlagen und gesundheitlich geschwächt. Auch Amélie, das arme Kind! Sie kann ja nichts dafür, dass wegen der Trauerfrist ihre Hochzeit verschoben werden muss! Trösten Sie sie, sorgen Sie für meine Familie! All das liegt nun völlig in Ihren Händen, meine Liebe! Ich verlasse mich ganz auf Sie!«
Er beugte sich über seinen Schreibtisch und wühlte in einer Schublade, wie um die Rührung zu verbergen, die ihn übermannt hatte. Madeleine antwortete nicht, sie nickte nur, und ihre Mundwinkel zuckten. Nach einem kurzen Schweigen trat er auf sie zu, legte sanft die Arme um ihre Schultern und drehte sie leicht zu sich herum, um ihr in die Augen zu sehen. »Mademoiselle Dernier, nein, Madeleine, wenn ich Sie so nennen darf, ich finde nicht die Worte, um Ihnen zu sagen, wie viel Dank ich Ihnen schulde!« Er zog sie enger an sich und ergriff überschwänglich ihre Hände, auf die er einen Kuss drückte. »Schon lange wollte ich Ihnen sagen, dass Sie für mich mehr sind als nur die Erzieherin meiner Kinder. Sie sind die Seele des Hauses und gehören einfach zur Familie, das ist mir jetzt erst richtig bewusst geworden!«
Madeleine wollte protestieren, doch sie spürte den Druck seiner Hand und die Spur seiner Lippen, die ein brennendes Mal zu hinterlassen schien. Verzaubert sah sie in seine Augen, die mit einem zärtlichen und dankbaren Ausdruck auf ihr ruhten. Sie wagte nicht, sich zu rühren, um diesen Moment, an den sie sich ewig erinnern wollte, nicht zu zerstören. Sie achtete kaum mehr auf die Worte des Barons, der ihr seine Dankbarkeit in schönen, wohl gesetzten Worten ausdrückte; vielmehr berauschte sie sich an seiner Stimme, dem Klang seiner Worte, seiner Nähe. Immer wieder hörte sie den zärtlichen Satz: »Sie sind für mich mehr...«, der in ihr ein triumphierendes Glücksgefühl auslöste, wie sie es noch nie in ihrem Leben empfunden hatte. Der sanfte Druck seiner Hand sandte brennende Wellen durch ihren Körper, und es wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie ihn nicht nur verehrte, sondern liebte, mit allen Fasern ihres Herzens und ihres Körpers. Es fehlte nicht viel, und sie hätte ihm die Arme um den Hals geschlungen und ihm stammelnd ihre Liebe gestanden. Noch als er bereits den Raum verlassen hatte, stand sie wie in Trance auf derselben Stelle und nahm erst nach einer geraumen Weile wahr, dass er ihr etwas in die Hand gedrückt hatte.
Es war ein kleines Kästchen, in Seidenpapier gehüllt. Sie öffnete es, und auf blauem Samt lag eine kostbare Brosche vor ihr, ein gefasster Smaragd, umgeben von flammenden Rubinen und einem Kranz kleinerer Brillanten. In einem ersten Impuls wollte sie das teure Geschenk zurückweisen, ihm nachlaufen und ihm diese Kostbarkeit zurückgeben, von der sie glaubte, sie nicht wirklich verdient zu haben. Das, was sie für sein Kind getan hatte, war so, als wenn sie es für ihr eigenes getan hätte, es bedurfte keiner Belohnung. Ihre ganze Mühe und Pflege waren letztendlich ja in grausamer Weise umsonst gewesen. Das Glitzern der Steine zog ihren Blick erneut an. Noch niemals hatte sie ein solches Schmuckstück aus der Nähe gesehen, geschweige denn, besessen. Seine Worte klangen in ihr nach: »Sie sind mehr für mich... erst jetzt richtig bewusst...« Ihr Herz klopfte mit einem Male bis zum Zerspringen, und sie trat ans Fenster, riss es auf. Die Winterluft kühlte ihre heißen Wangen, und sie atmete eine Weile tief mit geschlossenen Augen. Unten im Hof klappte der Schlag der schlichten Reisekutsche zu. Durch das Fenster sah sie noch schemenhaft die Umrisse des Barons, bevor die Räder anrollten, und bald war nur noch das Klappern der Pferdehufe zu vernehmen, um schließlich von der weichen Erde der Allee verschluckt zu werden. Madeleine spürte Tränen auf ihren Wangen und kämpfte gegen den Aufruhr ihrer Gefühle. Sie wusste, dass sie sie in Zukunft tief in ihrem Innern verschließen musste.