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10 Verlobung

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Der Schimmel erwies sich als unermüdliches Temperamentsbündel. Es war ein prächtiges Tier mit schönem Kopf, sanft schimmernden Augen und weichen Bewegungen der Muskeln, die unter dem glänzenden Fell spielten, aber das Pferd war kaum zugeritten. Selbst die längsten Galoppstrecken vermochten sein jugendliches Ungestüm nicht zu brechen. Die beiden Männer ließen die von Schaum bedeckten Pferde endlich an einer Lichtung anhalten, um ihnen und sich ein wenig Rast zu gönnen.

Erschöpft lehnte sich der Baron gegen einen Baumstamm. Ein stolzes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ein Teufelsbraten, dieses Ross«, murmelte er wie zu sich selber, »wetten, dass mich mit ihm so schnell niemand einholt!«

Richard nickte ihm versonnen zu; er fühlte sich an seinen Bruder Julien erinnert, der ebenfalls eine Vorliebe für Trakehner gehabt hatte. »Er braucht viel Bewegung«, sagte er mit Kennermiene, »damit er seine Schreckhaftigkeit verliert. Sonst könnte er leicht durchgehen.«

»Er soll es nur probieren«, sagte d’Emprenvil, »dann wird er merken, wer der Herr ist.«

Trotz dieser Worte tauschte der Baron, dem sämtliche Glieder wehtaten, nicht ungern sein Ross mit dem ruhigen Braunen seines jungen Freundes, der sich auf dem Rückweg alle Mühe gab, den ungebärdigen Schimmel im Zaum zu halten Die Hunde sprangen voll Eifer um sie herum, enttäuscht, diesmal nicht auf Beute zu gehen. Der morgendliche Sonnenaufgang hatte zu viel versprochen, der Himmel war bewölkt, und nur ab und zu riss die Wolkendecke auf. Endlich schien der junge Hengst besänftigt, er senkte schnaubend den Kopf, entspannte sich und beugte sich dem Willen des Reiters. Ermüdet ließen die beiden die Pferde am langen Zügel nebeneinander gehen, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Der Blick d’Emprenvils glitt über die sanften Hügel der Umgebung. Nichts in der Natur sprach davon, dass das Land von Krisen geschüttelt war. Seine Halbpächter und Tagelöhner, die keine Rücklagen mehr besaßen, würden alle in den Ruin getrieben werden, wenn sich ihre Abgabelast nicht bald senkte. Aller Hoffnungen ruhten jetzt auf den Generalständen – und auch der Baron baute darauf, dass diese Versammlung die Ketten seiner Verbannung sprengen würde.

De Montalembert ritt mit gesenktem Kopf, in Gedanken beim vorangegangenen Abend. Die ganze Nacht hatte er kaum geschlafen und sich unruhig hin und her gewälzt. Das junge Mädchen war ihm nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Wozu hatte er sich hinreißen lassen? Er vergalt die Gastfreundschaft des Hauses mit einem Vertrauensbruch. Es war besser, abzureisen und sich den Wind anderswo ein wenig um die Ohren wehen zu lassen, um sich nicht noch mehr Flausen in den Kopf zu setzen. Vielleicht würde er ins Nachbarland Deutschland reisen, das Land der Dichter, wo gerade eine neue Literaturbewegung von sich reden machte, der »Sturm und Drang«. In einer anderen Umgebung würde er mit weniger Ungeduld das Frühjahr erwarten können, das die Wende in der französischen Politik einleiten sollte und endlich auch das Ende seiner Verbannung.

Schließlich brach er das Schweigen. »Ich habe mich entschlossen, in den nächsten Tagen abzureisen, mein Lieber! Ich kann deine Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen. Ich muss fort, mir brennt es unter den Nägeln... Ich halte es einfach nicht länger aus. Nein – sag nichts«, wehrte er den Einwand des Barons ab, »es waren schöne Tage, doch... es gibt Gründe, die ich dir jetzt nicht nennen kann...«

»Gründe, welche Gründe denn? Du willst also wirklich abreisen?« D’Emprenvil verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, und zügelte das Pferd. Undenkbar, dass er, der unruhigste Geist von allen, nun allein auf dem Gut zurückbleiben sollte, ohne Gefährten und nur in Gesellschaft seiner Familie! Sollte er sich wieder einzig und allein um die Landwirtschaft kümmern, die am Boden lag, sich die endlosen Klagen der Bauern anhören? Und die bevorstehenden eintönigen Regentage ohne jemanden verbringen, mit dem er sich bei einer Partie Karten oder Schach die Zeit vertreiben konnte? »Mach, was du tun musst!«, sagte er mit finsterer Miene, einen Ton gröber als vorgesehen.

Schweigend legten sie den Rest des Weges zurück.

Gerade als sie die Pferde dem Stallmeister übergaben, kam Amélie aus einer der Boxen herbeigeschlendert, ein Bündel Karotten in der Hand. Als sie de Montalembert erblickte, errötete sie über und über. Er lächelte sie unsicher an und hoffte auf ein Zeichen, dass sie ihm sein gestriges Betragen nicht länger verübelte. Es fiel ihm schwer, den Blick von ihr zu wenden. Wie hübsch ihr braunes, langes Haar, das mit einer Spange am Hinterkopf zusammengefasst war, in der Sonne glänzte. In ihrem bunten Musselinkleid kam sie ihm wie ein Bauernmädel vor; doch ihre schlichte Aufmachung im Verein mit ihrer Haltung und dem feinen Schnitt ihrer Züge bildete eine Mischung, wie er sie noch bei keiner Frau gesehen zu haben glaubte. Und doch, so überlegte er, war es vielleicht besser, er reiste ab – vor allem, um Abstand zu gewinnen und sich über seine Gefühle zu ihr klar zu werden. Das Mädchen wich seinem Blick aus, es wirkte zerstreut und vermied es, das Wort an ihn zu richten. Beiläufig tätschelte Amélie den Hals des Schimmels und antwortete wie mechanisch auf die Fragen des Vaters, ehe sie sich ihrerseits nach dem Verlauf des Ausritts erkundigte.

»Ich würde so gerne einmal mit dir ausreiten! Einmal auf die Jagd mitgehen«, bat Amélie ihn mit einschmeichelnder Stimme, »du weißt, ich kann auch schießen, du selbst hast es mir doch beigebracht!«

Verwundert sah der Baron seine Tochter an und sagte: »Auf die Jagd? Was sollen diese neuen, amazonenhaften Ideen? Du hast doch immer behauptet, du könntest niemals auf ein Tier schießen!«

»Vielleicht habe ich mich ja geändert.« Amélie hängte sich bei ihrem Vater ein, während sie den von herabgefallenen Blättern übersäten Weg zum Schloss einschlugen und der Graf etwas verdrossen zurückblieb.

Wie von einem plötzlichen Einfall gepackt, blieb sie stehen, drückte den Arm des Vaters und sagte mit unschuldigem Augenaufschlag: »Lass uns ein wenig in Ruhe plaudern, Papa, ganz wie früher! Du hast so wenig Zeit, aber wir könnten heute ein wenig spazieren gehen, über die große Allee... dann hätte ich dich eine Weile ganz für mich.«

Nicht eben erbaut von dieser Idee, brachte d’Emprenvil ein gequältes Lächeln zustande. »Wenn du meinst... Vielleicht könnten wir aber auch ein andermal... ich habe heute solche Kopfschmerzen. Oder hast du mir vielleicht etwas Bestimmtes zu sagen, du tust so geheimnisvoll?«

Amélie schüttelte den Kopf, und der Vater legte fürsorglich den Arm um sie. Ja, er nahm sich wirklich zu wenig Zeit für seine Kinder – ebenso wie für seine Frau. Er war eben kein Familienmensch, wobei er ihnen immer zu verstehen gegeben hatte, dass er für sie da war, wenn sie ihn brauchten.

Während sie den Vater interessiert über Pferde, das Verhalten des neuen Schimmels und Neuigkeiten aus Paris ausfragte und selbst munter daherplapperte, schlug Amélie einen kleinen Nebenpfad ein, eine abwechslungsreiche Abkürzung, wie sie versicherte. Sie ermahnte den Vater, leise zu sein, da sie ihm ein Vogelnest zeigen wolle.

Und als sie kurz darauf ein paar Zweige auseinanderbog und sich ihnen das Bild von Isabelle und Armand in inniger Umarmung bot, tat sie wie vor Überraschung erstarrt und unfähig zu irgendeiner Reaktion. Mit Genugtuung sah Amélie den tödlichen Schrecken in Isabelles Augen, ihre aufgelösten Zöpfe und brennend roten Wangen. Armands Züge verzerrten sich zu einer entsetzten Grimasse, er erbleichte, wich zurück und starrte den Baron wie vom Donner gerührt an.

Als d’Emprenvil sich von seiner Verblüffung erholt hatte, kannte sein Zorn keine Grenzen, er schrie und tobte, packte Armand beim Kragen, versetzte ihm Schläge und Fußtritte, schob Isabelle, die sich schützend vor ihren Geliebten stellen wollte, zur Seite. Aufgeschreckt durch den Lärm und die lauten Schreie, kam de Montalembert herbeigeeilt, da er einen Unfall oder gar Überfall befürchtete. Nachdem er die Lage überblickt hatte, versuchte er, den Baron von dem Burschen zu trennen, auf den er weiterhin blindlings einhieb, obwohl dieser sich kaum wehrte.

»Charles!«, rief er. »Komm doch zu dir! Du wirst ihn umbringen. Was ist denn nur geschehen?«

Schwer atmend, mit rotem, wutverzerrtem Gesicht ließ der Baron von Armand ab. »Das, was hier geschehen ist, möchte ich selbst gerne wissen. Antworte, Isabelle! Was hast du mit diesem Taugenichts zu schaffen?«

De Montalemberts Blick fiel wie zufällig auf Amélie, die mit glühenden Augen und Wangen zusah und sich in gebührendem Abstand dicht hinter dem Vater hielt. Um ihren Mund spielte ein Lächeln, das de Montalembert rätselhafterweise triumphierend erschien. Sie beobachtete gelassen, wie ihre Schwester sich schluchzend zu dem am Boden Liegenden niederbeugte, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sie zu trösten oder gar vor dem Vater zu verteidigen, der sie erneut von dem vermeintlichen Verführer wegzerrte. Armand erhob sich jetzt, die Arme schützend vor den Kopf gelegt. Er blutete aus der Nase, die schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und offen über die Schultern, und ein wilder Ausdruck verzerrte seine schönen Züge.

Amélie wendete sich mit dem Ausdruck abgrundtiefer Verachtung von ihm ab, und als er eine flehende Geste machte und die Hände wie um Verzeihung bittend nach ihr ausstreckte, spuckte sie wenig damenhaft vor ihm aus und warf hochmütig den Kopf zurück. Amüsiert schüttelte de Montalembert als unbeteiligter Zuschauer den Kopf; vage beschlich ihn die Ahnung eines fast unglaublich scheinenden Zusammenhangs, nur um diesen Gedanken als allzu kühne Fantasie wieder beiseitezuwischen.

Isabelle, die immer noch leise vor sich hinschluchzte, stürzte sich plötzlich wie von Sinnen auf die Schwester. »Jetzt ist mir alles klar! Du warst es, du hast mich verraten!«, schrie sie, völlig außer sich. »Du bist eifersüchtig, weil er mich liebt und nicht dich! Du willst unsere Liebe zerstören, aber das wird dir nicht gelingen.« Höhnisch fügte sie hinzu: »Erzähl Papa nur, wie du ihm hinterhergelaufen bist und dich jeden Tag hinter der Hecke mit ihm getroffen hast... Armand hat es mir selbst gesagt! Gib es zu, erzähl uns nur, wie es war, wenn du mit ihm im Gras lagst! Ich hab es mit eigenen Augen gesehen. Aber diesmal ist es anders, diesmal wirst du nicht gewinnen, das sag ich dir.« Ihre Stimme überschlug sich hysterisch, und sie brach erneut in Tränen aus.

Alle Farbe wich aus Amélies Gesicht. Dass ihre Schwester so weit gehen würde, hätte sie nicht geglaubt! D’Emprenvil ließ in seiner grenzenlosen Verblüffung die Hände sinken und sah von einer zur anderen. Was war das für ein Abgrund, der sich da vor ihm auftat? Sprach Isabelle die Wahrheit? Seine unschuldigen Töchter, Kinder noch, und dieser Hergelaufene, dieser Tunichtgut, dieser mittellose Herumtreiber! Er sah seiner jüngsten Tochter forschend und fassungslos in die Augen. »Was soll das heißen? Weißt du eigentlich, was du da sagst?« Dann wandte er sich an Amélie, die noch immer wie versteinert dastand. »Amélie, antworte, ist das wahr, was Isabelle da behauptet?«

Amélie, aus ihrer Starre erwacht, stieß die Schwester energisch beiseite und rief wütend aus: »Nein, kein Wort! Glaub ihr nicht, sie lügt! Alles, was sie da sagt, ist gelogen!« Sie setzte ein überlegen scheinendes Lächeln auf und fuhr in ruhigem Ton fort: »Papa, ich schwöre dir, sie will nur von sich ablenken und die Schuld auf mich schieben. Das ist alles lächerlich und völlig erfunden. Ich kann es dir beweisen.« So, als müsste sie nachdenken, wie sie es dem Vater am schonendsten beibringen könnte, machte sie eine kleine Pause und sah dann in die Runde, wobei ihr Blick an dem etwas abseits stehenden de Montalembert hängen blieb. Plötzlich streckte sie mit einer sehnsuchtsvollen Geste beide Hände nach ihm aus. »Er allein weiß die Wahrheit!« Damit stürzte sie auf den völlig Verblüfften zu, schlang ihm die Arme um den Hals und schmiegte sich an seine Brust. »Es ist deshalb nicht wahr, weil mein Herz schon vergeben ist. Wir wollten es ja noch geheim halten, nicht wahr, Liebster... aber jetzt muss es heraus. Richard und ich, wir haben uns heimlich verlobt. Heute Abend wollte er mit dir sprechen, Papa, aber ich wusste ja, du würdest einverstanden sein!« Schmachtend, aber insgeheim flehentlich, blickte sie de Montalembert tief in die Augen und warf über die Schulter zum Vater hin: »Siehst du jetzt, wie dreist sie lügt!« Ohne dass der Überrumpelte Widerstand leisten konnte oder gar wusste, wie ihm geschah, presste sie ihre Lippen auf die seinen.

Dem Baron verschlug es die Sprache, er starrte wie aus allen Wolken gerissen von einem zum andern und schwieg ratlos, als müsste er das Unverständliche und Irrwitzige, das so unvermutet auf ihn eingestürmt war, zuerst einmal begreifen. Schließlich hellte sich seine verwirrte Miene ein wenig auf. »Potz Blitz und Wolkenbruch! Du und Richard? Das ist wahrlich eine Überraschung, davon hatte ich ja wirklich nicht die geringste Ahnung! Aber halt. Das kommt mir alles ein wenig zu schnell, obwohl...!« Er trat, ihn kritisch musternd, auf seinen Freund zu und sah ihm in die Augen. »Richard, du hast mir gegenüber ja nicht einmal eine Andeutung gemacht! Heute Morgen, als wir von Amélie sprachen, sagtest du doch, sie sei beinahe noch ein Kind. Und außerdem wolltest du doch abreisen!« De Montalembert wich seinem Blick aus und schwieg betreten. »Zum Teufel auch, was auch immer ihr da ausgeheckt habt... Ich bin natürlich völlig... sagen wir einmal... unvorbereitet! Ich gebe zu, manchmal habe ich mit dem Gedanken gespielt, dass ihr beide vielleicht ein Paar abgeben würdet! Ich sollte euch wirklich böse sein, solche Geheimnisse vor mir zu haben!« Für einen Moment vergaß er ganz die peinliche Situation, trat auf den Freund zu und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schultern, während Amélie der Schwester, die von dieser plötzlichen Wendung aller ihrer Waffen beraubt, hinter dem Rücken des Vaters die Zunge herausstreckte. »Sei’s drum! Ich hätte mir allerdings einen besseren Moment für diese Enthüllung gewünscht als diesen! Wir werden später darüber reden. Jetzt erst einmal zu diesem missratenen Wesen!«

Der Baron packte Isabelle und schüttelte sie, von neu aufflammendem Jähzorn ergriffen: »Deine Lügen werden dir nicht viel helfen, du verzogenes, frühreifes Kind! Ein solcher Skandal, eine solche Schande! Du weißt ja nicht, was du tust! Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester, der du so leichtfertig die Schuld zuschieben wolltest! Aber ich werde dir schon Manieren beibringen, und diese Geschichte da, die sollst du mir büßen! Die Ehre der Familie in den Schmutz zu ziehen! Ins Kloster mit dir, das wäre das Beste. Sich herumtreiben, lügen, all das wird man dir dort gehörig austreiben!«

»Charles«, de Montalembert, der sich selbst von seiner Überraschung noch nicht ganz erholt hatte, legte begütigend die Hand auf seinen Arm, »beruhige dich! Das sind doch Kinderstreiche. Vielleicht wird sich alles als harmlos aufklären.«

»Harmlos, das nenne ich keineswegs harmlos! Was stehst du noch da herum, scher dich weg!«, fuhr er den von den Schlägen und all den erstaunlichen Enthüllungen noch ganz benommen dastehenden Armand an. »Verschwinde, Bursche, bevor ich mich ganz vergesse – aber wir sprechen uns noch! Das wirst du noch bitter bereuen... dass du es wagen konntest, meine Tochter anzurühren...«

De Montalembert ergriff seinen Arm. »Charles, ich bitte dich...« Er, der die Unwirklichkeit seiner merkwürdigen Lage kaum begriff, fühlte sich noch dazu in die Rolle des Schlichters gedrängt. Er fragte sich, ob er nicht besser gleich die freche Lüge der kleinen Amélie entlarven sollte. Doch das hätte die Situation allerdings noch mehr verschärft und alles komplizierter gemacht. Er zögerte und suchte ihre Augen, doch sie wich seinem Blick hartnäckig aus. Also folgte er dem Baron, der seine Tochter Isabelle, die verwirrt und stumpfsinnig vor sich hinstarrte, in Richtung Haus zerrte. Es würde immer noch Zeit sein, die Wahrheit zu sagen.

D’Emprenvil war außer sich; der Tag, der so angenehm begonnen hatte, brachte wirklich die seltsamsten Überraschungen! Zuerst dieser Eklat und dann auch noch die Eröffnung einer heimlichen Verlobung! Dabei hatte Richard ihm doch gerade erst erklärt, er wolle abreisen! Da kenne sich einer überhaupt noch aus! Doch was ihn am meisten aufregte, war das skandalöse Benehmen Isabelles. Wie konnte seine Tochter, sein Fleisch und Blut, sich nur so weit vergessen! War denn alle Erziehung, alle Ermahnung vergeblich gewesen? Und ausgerechnet dieser Armand, den er selbst hergeholt hatte, um seinem alten Vater einen Gefallen zu tun! Was würde Laura dazu sagen?

Einzig und allein der Gedanke an die Verbindung de Montalemberts mit Amélie stimmte ihn milder und ließ die abscheuliche Szene vom Morgen ein wenig in den Hintergrund treten. Laura würde sich sicherlich freuen, wenn sie diese Neuigkeit vernahm; er musste es ihr so bald wie möglich berichten. Schon öfter hatte sie ganz nebenbei eine Andeutung gemacht, dass ihr der liebenswerte und höfliche Parlamentsrat als der ideale Schwiegersohn erscheine! Alles in allem konnte auch er sich keinen besseren Ehemann als den jungen, reichen Grafen für seine Tochter vorstellen, ein Mann, der noch dazu seine volle Sympathie und seine Freundschaft besaß und mit Sicherheit einer glänzenden Zukunft entgegensah.

Isabelle schlich mit gesenktem Kopf und verweinten Augen an ihm vorbei. »Du bleibst auf deinem Zimmer, bis ich dich rufe. Überlege dir gut, was du zu dieser Geschichte zu sagen hast. Du hast uns alle unendlich blamiert!«, herrschte er seine Tochter an, die aufschluchzend die Tür zuknallte und den Schlüssel herumdrehte. Wo steckte nur seine Frau? Er musste ihr doch die Neuigkeit mitteilen! Mit lauter Stimme rief er nach ihr. Das Speisezimmer war leer. Wo waren sie nur alle? Das Haus schien still, verlassen und wie ausgestorben. Er scheuchte das Stubenmädchen, das verlegen von einem Schwatz aus der Küche kam, hinaus. Auf der Treppe stieß er beinahe mit dem Doktor zusammen, dessen ernste Miene nichts Gutes verhieß.

»Dr. Tourmon, Sie hier? So früh? Ist etwas passiert?«

»Vorläufig«, erwiderte der Arzt beschwichtigend, »besteht kein Grund zu größerer Besorgnis. So wie es aussieht, hat Ihr Sohn ganz einfach Windpocken. Das plötzliche Fieber scheint mir allerdings bedenklich.«

»Wer? Was sagen Sie da? Christoph hat Fieber? Das wusste ich gar nicht. Noch eine schlechte Nachricht an diesem Morgen! Dieser Tag fängt wirklich gut an!«, rief der Baron unmutig aus, und seine Stirn legte sich in ärgerliche Falten.

»Hören Sie«, rief er dem Doktor nach, der schon im Begriff war, hinauszueilen, »wenn ich mich an meine eigene Kindheit erinnere, so waren doch Windpocken wirklich nichts Schlimmes, nicht wahr, Doktor?« Der Arzt blickte ihn nur schulterzuckend an und verabschiedete sich, vage eine Beschwichtigung murmelnd.

D’Emprenvil, gleich zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte die Treppe hinauf. Alle Probleme waren nichtig geworden über der Sorge, dass es dem kleinen, sonnigen Kerl, seinem Christoph, nicht gut gehen könnte. Er riss die Tür zum Kinderzimmer auf und war mit einem Satz am Bett des Kleinen. Laura saß, noch nicht angekleidet, auf einem Stuhl und hielt dem schlafenden Kind die Hand, während Mademoiselle Dernier, die feuchten Kompressen auf seiner Stirn wechselte.

Laura sah auf und versuchte ein Lächeln, während sie leise flüsterte: »Es ist nicht so schlimm, das Fieber wird sicher bald fallen.«

Der Kleine wälzte sich herum und jammerte leise vor sich hin. Seine Bäckchen waren feuerrot, die blonden Locken kringelten sich feucht und dunkel auf der Stirn, und rote Pusteln verunstalteten seine zarte Haut. Als er seinen Vater erkannte, streckte er die Ärmchen nach ihm aus. D’Emprenvil hob ihn hoch und nahm ihn auf den Arm.

»Bitte nicht, Charles«, protestierte Laura, »er wird sich erkälten. Er muss liegen, du darfst ihn nicht aufregen.«

Der Baron legte das fieberheiße Kind zurück auf die Kissen, was Christoph mit ohrenbetäubendem Geschrei beantwortete. D’Emprenvil war aufgefallen, dass der Kleine ein wenig seltsam die Augen verdrehte und ihn mit einem leichten Schielen ansah. Er schwieg, nahm sich aber vor, mit Dr. Tourmon darüber zu sprechen. Die Gouvernante ließ den Lieblingskasperl des Kindes über die Bettdecke hüpfen und versuchte, beruhigend auf ihn einzuwirken, bis er wieder in einen dämmernden Halbschlummer fiel.

D’Emprenvil nahm Laura am Arm und zog sie mit bedeutungsvollem Blick hinaus, doch draußen auf dem Flur zögerte er; sollte er sie jetzt auch noch mit Isabelle und ihren Eskapaden belasten? Er musterte sie, ihre ungeschminkten Züge wirkten müde und resigniert, und mit einem Schlag sah sie älter aus als sonst.

Doch Laura kannte ihren Mann zu gut, um nicht das unruhige Flackern in seinen Augen zu bemerken. »Gibt es noch etwas, das du mir sagen möchtest, Charles?«, fragte sie mit forschendem Blick.

Der Baron schwankte unschlüssig, aber dann musste es einfach aus ihm heraus. »Ich möchte dich in dieser Stunde nicht zusätzlich beunruhigen, meine Liebe, du hast Sorgen mit dem Kleinen, doch in diesem Falle...« Er holte tief Luft. »Also zuerst die gute Nachricht. Amélie und Richard haben sich verlobt!«

Laura schüttelte ungläubig den Kopf, doch dann lächelte sie. »Amélie und Richard... ist das wirklich wahr? Das ist wirklich eine Neuigkeit, mit der ich am allerwenigsten gerechnet hätte. Aber es ist mehr, als ich zu hoffen wagte. Ich muss gestehen, dass ich schon einmal daran dachte, dass er der ideale Mann für sie sein könnte!«

D’Emprenvil nickte zufrieden. »Ja, das denke ich auch, er ist ein wunderbarer Mensch, in sich ruhend, selbstbewusst und außerdem vermögend und von gutem Namen. Amélie hat einen Glückstreffer gezogen.« Doch dann seufzte er auf. »Und die schlechte Nachricht ist etwas ganz Unglaubliches, nämlich dass ich Isabelle in flagranti mit dem verdammten Gärtnersohn, diesem geschniegelten Schönling und Nichtsnutz Armand erwischt habe. Du warst es doch, die ihn einstellen wollte, und das hast du nun davon! Der arme Student, der alle Talente hat, aber kein Geld, um sie zu nützen!«

Laura stieß einen leisen Entsetzensschrei aus: »Das ist doch unmöglich... Isabelle ist noch ein Kind, sie spielt doch noch mit Puppen... ich kann es nicht glauben! Meine Tochter und dieser, dieser... Sohn eines Gärtners! Vielleicht sind sich die beiden nur zufällig begegnet!«

»Zufällig«, der Baron lachte kurz und trocken auf, »glaube mir, die Situation war eindeutig. Sie lagen sich buchstäblich in den Armen. Ich werde diesen Burschen niederschießen wie einen räudigen Hund, wenn ich ihn noch einmal in Isabelles Nähe sehe!« Er knirschte mit den Zähnen und machte eine drohende Geste.

»Halt!«, rief Laura ängstlich, »du wirst nichts Unüberlegtes tun! Ich werde mit Isabelle reden – nicht dass sie noch eine weitere Dummheit begeht! Sie ist in einem Alter, in dem sie nicht weiß, was sie tut.« Erregt rieb sie sich ihre schmerzenden Schläfen, die eine Migräneattacke ankündigten.

»Komm mir nur nicht mit Romeo und Julia!«, sagte der Baron auffahrend. »Sie weiß genau, was sie tut! Du bist zu weich mit den Mädchen, lässt sie tun und lassen, was sie wollen...«

»Bitte jetzt keine Vorwürfe«, unterbrach ihn Laura mit Tränen in den Augen. »Du bist ja nie da, und wann hast du dich jemals um die Erziehung gekümmert?«

An seinem wunden Punkt getroffen, starrte d’Emprenvil sie für einen Moment sprachlos an, ehe er sich abrupt umdrehte und die Treppe hinabstürmte. Ja, sie hatte recht – auch jetzt war es so, am liebsten würde er alles hinwerfen und abreisen. Im Grunde seines Herzens verabscheute er all diesen häuslichen, kleinlichen Zank. Krankheiten und Familienprobleme hatten ihn schon immer geängstigt und in die Flucht geschlagen. Doch jetzt konnte er sie nicht einfach fliehen und in der Stadt abwarten, bis sich alles von selbst geregelt hatte!

Laura rüttelte an der Klinke von Isabelles Zimmer, doch das Mädchen hatte die Tür von innen verschlossen. Leise rief sie den Namen ihrer Tochter, ohne dass auch nur ein Laut nach draußen drang, und so verlegte sie sich aufs Bitten: »Isabelle, mach doch auf! Wir müssen über alles reden. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Das ist sicher alles ein Missverständnis – du weißt, dein Vater sieht immer gleich das Schlimmste. Komm, mein kleines Mädchen, öffne die Tür!«

Ihr Ton war sanft und verständnisvoll gewesen, doch plötzlich schrie Isabelle von der anderen Seite mit sich überschlagender Stimme: »Lasst mich in Ruhe! Ich hasse euch alle!«

Das Krachen mit dem ein gegen die Tür geworfener Gegenstand zerbrach, ließ Laura erschrocken zurückweichen: Das war die Reaktion ihrer Tochter auf ihre freundliche Bitte? Ihre sanfte, kleine Isabelle? Hinter ihr, aus dem Kinderzimmer, klang gedämpft das Wimmern und Weinen Christophs, dessen hohe Töne ihre Nerven durchschnitten und in ihrem schmerzenden Kopf widerhallten. Ihr schwindelte, und sie musste sich an der Türklinke festhalten. Ein eisiges Frösteln kroch wie eine bedrohliche Vorahnung durch ihre Glieder bis zu ihrem Herzen, das sich in der Urangst aller Mütter vor etwas Unabwendbarem, Unbekanntem zusammenzog. Resignierend ließ sie die Klinke los und ging ins Kinderzimmer zurück. Isabelle würde vielleicht selbst wieder zur Vernunft kommen. Jetzt war es wichtiger, sich um den Kleinen zu kümmern, der sich unruhig in seinem Bettchen hin und her warf und die kühlenden Kompressen, die Mademoiselle Dernier ihm auflegen wollte, ungeduldig wegriss. Als Laura ihn auf die Arme nehmen wollte, verdrehte er die Augen und schrie, als schmerze ihn die Berührung, und sie spürte voll Entsetzen, dass sein kleiner Körper wieder stärker vor Fieber glühte.

Im Salon standen Amélie und de Montalembert etwas unschlüssig herum. Beide waren sie verlegen, und jeder glaubte, die Gedanken des anderen lesen zu können. Oben, aus dem Zimmer von Isabelle, ertönte ein wütender Lärm: Der Baron hatte beinahe die Tür eingetreten, bis Isabelle dann doch widerwillig aufschloss. Jetzt erschien er, das Mädchen hinter sich herziehend, auf der Schwelle.

»Hier«, rief er und gab der Unwilligen einen Schubs, »hier, sie möchte dir etwas sagen, Amélie! Dieses verstockte Wesen bringt mich noch zur Raserei!«

Isabelle stand totenbleich und mit zerzausten Haaren in der Tür zum Salon und starrte vor sich hin. Mit fast tonloser Stimme sagte sie: »Amélie ist nur eifersüchtig! Ich habe nichts Böses getan. Etwas anderes habe ich nicht zu sagen, außer dass ich Armand liebe, und er liebt mich auch. Ihr könnt mich nicht zwingen, mich von ihm zu trennen!«

»Und ob wir das können! Kindereien!«, schrie der Baron außer sich. »Das sind doch alles nur Dummheiten! Du hast Hausarrest! Und dieser unverschämte Kerl muss auf der Stelle verschwinden!« Er warf sich auf einen Stuhl und raufte sich die Haare. »Dieser Unsinn wird dir vergehen, wenn du erst im Kloster bist! Womit habe ich das verdient, eine solch schwachsinnige Tochter zu haben? Sich in ihrem Alter mit diesem nichtsnutzigen Kerl herumzutreiben! Marsch, geh wieder auf dein Zimmer und lass dich ohne Erlaubnis nicht mehr hier draußen blicken!«

»Aber Charles«, sagte de Montalembert begütigend. Das Mädchen tat ihm leid, das sich die Lippen blutig biss und dessen Augen vor Leidenschaft glühten, »lass ihr doch Zeit. Sie ist noch so jung und hält dieses Gefühl für die große Liebe. Dieser Kerl hat ihr völlig den Kopf verdreht. Sie wird schon einsehen, dass es eine Dummheit ist.«

D’Emprenvil goss sich ein Glas Cognac ein und stürzte ihn in einem Zug hinunter. »Es macht mich rasend, dass ich, festgenagelt in diesem Hause, zusehen muss, wie meine Tochter sich mit fünfzehn Jahren dem nächstbesten hergelaufenen Hanswurst an den Hals wirft!« De Montalembert machte eine wegwerfende Handbewegung. Nach einem tiefen Atemzug und einem Blick auf Amélie fuhr d’Emprenvil mit sanfterer Stimme fort: »Umso mehr bin ich froh, dass ich wenigstens eine vernünftige Tochter habe. Ich muss mich entschuldigen, denn niemand redet von euch, von eurer Verlobung! Ich kann euch gar nicht sagen, wie ich mich freue...«, er umarmte herzlich den Freund, »... so etwas hätte ich ja gar nicht zu hoffen gewagt! Mein Liebling«, sagte er gerührt an Amélie gewandt, »ich bin sicher, du hast eine großartige Wahl getroffen.« Er küsste sie und drückte sie fest an sich. Forschend sah er ihr in die Augen, die einen rätselhaften, ein wenig flackernden Ausdruck hatten und den seinen auswichen. »Du siehst gar nicht glücklich aus, mein Kind«, sagte er mit fragender Miene und hob ihr Kinn hoch, »du bist ein wenig blass.«

»Die Aufregung, Papa«, beeilte sich Amélie zu sagen, »und die falsche Beschuldigung Isabelles, all das war ein wenig viel.«

De Montalembert kam ihr unerwartet zu Hilfe. Er legte den Arm um ihre Schultern, obwohl sie unmerklich unter dieser Berührung zusammenzuckte, und sagte scherzhaft: »Entschuldige, Charles, dass ich nicht früher und so wie es sich gehört um deine Tochter angehalten habe. Aber es ging alles so schnell, und unsere Verlobung kam durch diese etwas... merkwürdige Situation ein wenig überraschend und im falschen Augenblick heraus. Aber sei es drum, hiermit bitte ich dich ganz offiziell um Amélies Hand. Ich könnte mir keine liebreizendere Braut vorstellen...« Er brach ab, denn Amélie hatte ihm einen so finsteren Blick zugeworfen, dass er darin nichts Liebreizendes erkennen konnte. Bereute sie ihren Schritt? Er war gespannt, wie weit sie die Komödie noch spielen würde.

D’Emprenvil sah verwundert von einem zum anderen, aber er kannte seine älteste Tochter – sie war ein etwas zwiespältiges Wesen, spröde und gefühlvoll zugleich. De Montalemberts gelassene Art, sein überlegenes Lächeln, die zarte Geste, mit der er ihr übers Haar strich, wie um eine widerspenstige Katze zu bändigen, beruhigten ihn.

Amélie, im Bemühen, sich einen glücklichen Anschein zu geben, schmiegte sich ein wenig widerwillig an die Brust ihres Verlobten, der doch fast ein Fremder für sie war. Was hatte sie getan? Noch war es Zeit, alles als einen Irrtum, als einen lustigen Spaß aufzuklären! Doch dann würde es doch herauskommen, die Wahrheit, die sie lieber verschweigen würde.

De Montalembert hielt Amélie in den Armen und fühlte die ganze Unwirklichkeit der Situation. Ihm war es, als sei er Schauspieler in einem unbekannten Stück, in einer Rolle, deren Text er nicht kannte und deren Schicksal ungewiss war. Normalerweise hätte eine solch plumpe Art der Überrumplung seinen ganzen Widerstand hervorgerufen; aber jetzt fühlte er sich ganz im Gegenteil durch das raffinierte Manöver des kleinen Biestes in seinem Arm amüsiert. Nicht im Entferntesten hatte er ans Heiraten gedacht – aber dieses rätselhafte Wesen reizte ihn und machte ihn neugierig darauf, wie sie dieses Spiel weiterführen wollte, das sie in Szene gesetzt hatte. Es war ihm nicht entgangen, dass, so wie sie über Armand triumphiert hatte, gekränkter Stolz im Spiel war, verletzte Gefühle und Liebeskummer. Doch all das schreckte ihn nicht ab, sondern reizte ihn sogar. Mit einem Mal war ein Gedanke an die Oberfläche gedrungen, der bisher allenfalls im Unterbewusstsein geschwelt hatte, nämlich dass er sich Amélie sehr gut als seine Frau vorstellen konnte. Er blickte sie neugierig an: Wie hübsch ihre dunklen Augen funkeln konnten, wenn sie ärgerlich war, und mit welch graziöser Geste sie ihr volles Haar zurückwarf, das so schwer zu bändigen war wie sie selbst! Ja, er wollte sie haben, er würde sie erobern, was immer sie im Schilde führte!

Amélie - Gesamtausgabe

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