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13 Ein Traum zerrinnt
ОглавлениеDie Kraft des lang anhaltenden Frostes war endlich gebrochen; eine milde Sonne warf ihre wärmenden Strahlen auf die dürre Erde, die erstarrt und tot schien, erfroren in einer langen, dunklen Periode. Von Isabelle gab es noch immer kein Lebenszeichen, und Laura fürchtete, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Sie war nun fest davon überzeugt, zwei Kinder verloren zu haben, und untätig saß sie oft stundenlang vor ihrem Schreibtisch, ohne auch nur eine Zeile zu schreiben; vor ihr der zweite, unvollendete Roman, Clorinde, der ihr plötzlich wie leeres Geschwätz erschien, genauso wie die Stöße trockener Depeschen, die ihr der ungeduldige Desmoulins sandte, der sich seiner Muse beraubt sah.
Im kleinen Salon brannte trotz des milden Wetters ein Feuer im offenen Kamin. Davor stand einladend ein üppig gedeckter Tisch mit Kuchen und Konfekt, wie um einen vergessen zu lassen, dass überall im Lande der Brotpreis unerschwingliche Höhen erklommen hatte. Laura saß geistesabwesend vor ihrer Tasse Schokolade, rührte darin herum und zerkrümelte achtlos ein Stück Gebäck zwischen den Fingern. Ihre Schönheit glich einer zarten Blüte, die dem Welken nahe war.
Madeleine, ein Buch in der Hand, warf ihr ab und zu einen prüfenden Blick zu. »Sie müssen etwas essen, Madame«, drängte sie die in Gedanken Versunkene. Laura blickte auf, schien jedoch mit dem leeren Blick ihrer dunklen Augen durch sie hindurchzusehen.
Patrick hatte sich von seinem Dienst in Paris wegen des Todes seines Bruders für eine Weile freimachen können. Die Rückkehr nach Valfleur war jedoch schwer gewesen. Christophs Tod lag bedrückend auf seiner Brust, denn es war der erste Verlust in seinem Leben, den er ertragen musste. Seine Mutter umarmend, war auch er in Tränen ausgebrochen, und sie hatten gemeinsam geweint, bevor er voller Trauer das Grab seines kleinen Bruders aufsuchte.
Jetzt saß er ihr in seiner schmucken Uniform gegenüber, dessen enge Hosen und kurze Jacke seine schlanke Figur zur Geltung brachte. Seine Schultern waren breiter geworden und seine regelmäßigen olivfarbenen Gesichtszüge, umrahmt von seinen fast schwarzen Locken, die er manchmal offen herabhängen ließ, waren geprägt von einer griechisch anmutenden Feinheit, die ihn unter allen seinen Kameraden hervorstechen ließ. Ohne es zu wollen, zog seine Erscheinung alle Blicke auf sich. Mit einer lässigen Geste ergriff er die kleine Silberkanne und schenkte seiner Mutter nach.
»Iss doch, Mama«, bat er sie mit einem ermunternden Lächeln. Gerade diesem seltenen Lächeln, mit dem er früher, wenn er etwas angestellt hatte, stillschweigend um Verzeihung gebeten hatte, konnte seine Mutter nie widerstehen.
Damals hatte sie immer ausgerufen, ihm einen Kuss auf die Wange drückend: »Oh, du schlimmes Kind, du weißt ganz genau, wie du die Frauen bezirzen kannst!«
Jetzt waren es nicht nur die Frauen, die er betörte. Der Graf von Artois, der in dem Ruf stand, dass er sich nicht nur zu Frauen hingezogen fühle, ließ sich in letzter Zeit auffallend häufig blicken, um seine Leibgarde zu kontrollieren, wobei er lange bei dem neuen, jungen Offizier verweilte, um mit ihm über die verschiedensten Dinge zu plaudern. Seine Kameraden betrachteten ihn mit Neid, doch Patrick amüsierte und schmeichelte es, dass er mit seinen äußerlichen Attributen Herzen gewinnen konnte. Aber das waren Dinge, die er niemals seiner Mutter gegenüber erwähnte.
Wie ein Wirbelwind stürmte Amélie in die beschauliche Szenerie, einen Brief in der Hand schwenkend. Noch atemlos brach sie sich ein Stückchen Kuchen ab, steckte es in den Mund und sagte mit vollen Backen: »Richard hat geschrieben. Er hat einen so wunderbaren Stil. Ich werde euch den Brief vorlesen!«
Patrick, der sich gerade an das verwaist stehende Cembalo, das er vorzüglich zu spielen verstand, gesetzt hatte, runzelte die Stirn und sagte in dem gönnerhaften Ton, den er seiner kleinen Schwester gegenüber gern anschlug: »Nicht nötig, wir kennen all deine Neuigkeiten zur Genüge.«
Amélie achtete nicht auf ihn und begann laut: »›Meine liebe Amélie, obwohl ich meinen letzten Brief an dich erst abgesandt habe, drängt es mich, dir noch weitere Nachrichten zukommen zu lassen.‹« Sie machte eine kurze Pause und blickte abwartend in die Runde. Da keine andere Reaktion kam, als dass die Mutter ihr ermutigend, aber zerstreut zunickte, fuhr sie fort. »›Die Gewohnheit, meine Gedanken nunmehr mit dir zu teilen, beginnt mir immer mehr Freude zu machen.‹«
»Wenn er wüsste, dass er seine Gedanken nicht nur mit dir, sondern auch mit uns teilt, wäre er wohl nicht so erfreut«, warf Patrick spöttisch ein und schrieb ungerührt etwas auf sein Notenblatt, während er ein paar Takte dazu anschlug.
»Lass sie doch!« Laura war aus ihrer Teilnahmslosigkeit erwacht und warf Patrick einen vorwurfsvollen Blick zu. »Lies weiter, Kind, ich möchte hören, was er schreibt.«
»›Obwohl meine Zeit hier völlig ausgefüllt ist und ich mit Akten bis in die Nacht hinein beschäftigt bin, habe ich das Bedürfnis, dir, dort draußen in Valfleur, wo du glücklicherweise vor allen Widrigkeiten hier geschützt bist, zumindest eine kleine Ahnung von dem zu geben, was täglich um mich herum geschieht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es mit der Moral in dieser Stadt zusehends abwärts geht. Der Pöbel hat sich erhoben und verwechselt Recht mit Gewalt und Freiheit mit Zügellosigkeit. Wie wird es werden, wenn der dritte Stand sein gefordertes Wahlrecht erhält? Das Parlament hat sich bisher mehrheitlich geweigert, es werden jedoch immer mehr Stimmen aus den eigenen Reihen laut, deren Vernunft durch das Feuer des Umsturzes verzehrt wird. Aber meine Liebste, ich merke, ich bedränge dich mit Klagen, stattdessen wollte ich dir von anderen Dingen schreiben – wie oft hat sich dein entzückendes Antlitz mit den funkelnden dunklen Augen zwischen meine Papiere gestohlen und mich versunken innehalten lassen! Wie sehr die Erinnerung...‹« Patricks spöttisches Auflachen unterbrach Amélie: »Nein, wie romantisch, lies nur weiter, jetzt wird es erst interessant!«
Sie faltete beleidigt den Brief zusammen. »Ich finde das gar nicht lächerlich. Du bist nur neidisch.« Sie warf dem Bruder einen wütenden Blick zu.
»Nein, bitte keinen Streit«, mischte sich Laura ein und fasste sich an die Schläfen, »ihr seid doch keine kleinen Kinder mehr!«
Amélie entfernte sich mit ihrem Brief, den sie sowieso nicht weiter vorgelesen hätte, und überflog die folgenden Zeilen zum dritten Mal. Wie schön seine Worte klangen... »Ich sehne mich danach, dich bald wieder in die Arme zu schließen und zu küssen, so wie beim ersten Mal, als ich dich eigentlich nur zum Spaß küsste, um mich für deine Kratzbürstigkeit zu revanchieren. Diesen Augenblick werde ich nie vergessen...« Amélie sog seine zärtlichen Worte ein, die aus jenen Romanen zu stammen schienen, die sie einst heimlich verschlungen hatte, Worte, die jetzt in der Wirklichkeit eine ganz andere Bedeutung annahmen. Das, was für sie wie ein Spiel begonnen hatte, war Ernst geworden; sie hatte sich unsterblich in Richard de Montalembert verliebt. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um ihn als idealen Mann, als Partner und Geliebten, den sie in seiner Abwesenheit mit allen Eigenschaften eines erträumten Märchenprinzen ausstattete. Seine Briefe entzündeten ihre Fantasie aufs Neue, und sie gab jedem Blick, jeder Umarmung, jeder Geste des vergangenen Zusammenseins eine heimliche Bedeutung. Träumerisch ließ sie den Brief sinken. Wann würde sie ihn endlich wiedersehen?
Madeleine zog fröstelnd den Schal enger um die Schultern und legte das Buch auf den Tisch. Der Wunsch, noch einmal einen Blick auf das prunkvolle Schmuckstück zu werfen, das sie wie eine Reliquie aufbewahrte, überkam sie mit unwiderstehlicher Heftigkeit. Sie erhob sich mit einer flüchtigen Entschuldigung und ging langsam über den Flur die Treppe hinauf, als hätte sie etwas vergessen. Unerklärliches Herzklopfen, als täte sie etwas Verbotenes, überkam sie, als sie leise die Klinke zu ihrem Zimmer drückte. Doch die Tür war nur angelehnt, und als sie eintrat, sah sie im Dämmerlicht des Zimmers eine dunkle Gestalt in der Nähe des Fensters in ihrem Sessel kauern. Sie konnte den Aufschrei nicht mehr unterdrücken, der über ihre Lippen kam, als sie in dem vermeintlichen Einbrecher Isabelle erkannte, die schmerzlich vermisste Ausreißerin!
»Isabelle!«, rief sie leise und eilte klopfenden Herzens zu ihr. »Oh, du dummes Kind! Du bist es! Gott sei Dank, du bist zurück!« Erleichtert und mit Tränen in den Augen schloss sie das Mädchen in die Arme, und ein Schwall Fragen floss über ihre Lippen. »Ist alles in Ordnung, meine Kleine? Bist du heil und gesund?« Prüfend hielt sie das Mädchen ein wenig von sich weg. »Wo warst du nur so lange? Aber ich wusste, du würdest wiederkommen! Was haben wir um dich ausgestanden! Deine Mutter ist fast daran zerbrochen! Sag doch etwas, Liebes! Geht es dir gut?«
Isabelle antwortete nicht, sie hing wie kraftlos an ihrer Brust und schien erstarrt und ohne Leben.
»Lass dich ansehen, mein Kind, ich kann es gar nicht glauben, dass du wieder hier bist!« Die Gouvernante ließ sie wieder in den Sessel gleiten, zog die Vorhänge zur Seite und sah dem Mädchen ins Gesicht.
Doch Isabelle drehte den Kopf zur Seite und verzog das Gesicht, als habe sie Angst vor dem Licht und einem prüfenden Blick. Es war Madeleine nicht entgangen, wie abgemagert und heruntergekommen sie aussah, wie riesengroß und umschattet die ängstlichen Augen unter dem zerzausten Haarschopf hervorblickten und in welch schmutzigem und zerrissenem Zustand ihre Kleidung war.
»Wie siehst du nur aus«, entfuhr es ihr kopfschüttelnd, »sag doch etwas, du bist doch nicht krank?«
Isabelle schüttelte nur müde und erschöpft den Kopf und blickte apathisch ins Leere. Als Madeleine sich umwandte, um die Tür zu schließen, erblickte sie im Türrahmen Laura, die wohl von ihrem lauten Schrei alarmiert, hinaufgekommen war und jetzt totenbleich auf die Tochter starrte.
»Isabelle!« Nur dies einzige Wort entrang sich Lauras Lippen, bevor sie der Tochter entgegenstürzte und sie an sich presste. Das Mädchen blieb zunächst starr und unbeweglich, bevor sie sich leicht an die Schulter ihrer Mutter lehnte, die in Tränen ausbrach. Schließlich fasste sich Laura und richtete sich auf, um die so lang Vermisste in Augenschein zu nehmen. »Oh, mein Liebling, dass du nur wieder da bist! Ich bin so glücklich, dass ich dich wiederhabe! Nein, sag nichts, du brauchst uns nichts zu erklären, du bist da, und das ist das Wichtigste! Mein Kind, wie siehst du nur aus! Wie eine verhungerte Straßenkatze! Aber wir werden dich wieder aufpäppeln – du wirst ein Bad nehmen... O Gott, ich kann es gar nicht fassen! Alles wird so sein wie früher, beunruhige dich nicht!«
Isabelle sah sie an wie eine Fremde, als hätte sie kein Wort vernommen, doch dann flüsterte sie kaum hörbar: »Christoph, ist es wahr, dass... dass er tot ist?«
Laura wich zurück, als hätte man eine Wunde in ihr berührt, und schlug die Hände vor die Augen.
Als wäre nun ein Damm in ihr gebrochen, warf Isabelle die Arme um die Mutter und schluchzte an ihrer Brust: »Verzeih mir, Mama, ich wollte dich doch nicht allein lassen, ich konnte doch nicht wissen, dass er...«
Madeleine, die sich im Hintergrund gehalten hatte, ließ Mutter und Tochter allein und ging hinunter, um Anweisungen für ein heißes Bad und ein Abendessen mit einer kräftigen Suppe zu geben.
Später, als die Heimgekehrte in sich zusammengesunken in der Wanne saß und sich von der Gouvernante wie ein kleines Kind waschen und pflegen ließ, wurde sich Madeleine des ganzen Ausmaßes des Leids bewusst, welches das verwöhnte, zarte Mädchen vermutlich ertragen haben musste. Ihr fast skelettartig abgemagerter, noch sehr kindlicher Körper wies überall blaue Flecke und Schrammen auf, und in gleichmütiger Abstumpfung ließ sie die Waschung über sich ergehen. Erst als sie geborgen in Decken gehüllt auf dem Sofa lag, schien sich ihr Schock in einem Schüttelfrost Bahn zu brechen, der bald von einem Fieber abgelöst wurde, das rasch in gefährliche Höhen stieg.
Laura saß erneut am Bett eines ihrer Kinder und bangte um den Verstand Isabelles. Doch ihr eigener Gesundheitszustand erlaubte keine neuen Aufregungen, und so nahm Madeleine ihren Platz ein und schlang beruhigend die Arme um die schmale, vom Fieber glühende Gestalt. So verharrte sie und lauschte den Wortfetzen, die das Mädchen in einer Art Fieberfantasie hervorstieß. Es waren unzusammenhängende Anklagen, ein Gefühlswirrwarr von Enttäuschung und Wut, von dem sie kaum ein Wort verstand. Doch Isabelle war zurück, das war das Wichtigste, und alles Weitere würde sich finden.
Der Baron, durch eine Eildepesche alarmiert, war sofort nach Valfleur zurückgekehrt, um seine Tochter zwar mit gemischten Gefühlen, aber doch voller Erleichterung in die Arme zu schließen. Dann allerdings, in der typischen Art seines impulsiven Temperaments, konnte er es nicht lassen, mit dem verängstigten und noch immer arg geschwächten Mädchen hart ins Gericht zu gehen. »Gnade Gott diesem Burschen, der dir das angetan hat!«, rief er aus und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. »Ich werde ihn aufspüren, wo immer er sich verborgen hält, diesen Halunken!«
Isabelle ließ die strenge Strafpredigt ohne erkennbare Regung über sich ergehen. Der Vater wollte nicht wissen, wie es ihr ergangen war, und weigerte sich im Übrigen, die näheren Einzelheiten der abenteuerlichen Flucht zu erfahren. Es koche ihm die Galle dabei über, sagte er, denn nicht nur die anderen schienen sein sanguinisches Temperament, das bei jeder Gelegenheit durchbrechen konnte, zu fürchten, sondern auch er selbst.
Nur für die Ohren ihrer Mutter und der geduldigen Madeleine bestimmt, floss nach und nach die Beichte über den Verlauf der Flucht über die Lippen des sonst so verschlossenen Mädchens. Es war, als müsste sie sich einen Weg durch den Schutt und die Trümmer einer zusammengefallenen Illusion brechen.
Armand war nicht der wundervolle Prinz ihrer Träume, den sie in ihrer ersten Verliebtheit in ihm sah, nicht der aufrechte Revolutionär, der für das Gute kämpfte – nein, aller Glanz war schon nach kurzer Zeit von ihm abgeblättert, bis er als der dastand, der er wirklich war. Ein leichtsinniger Bursche, durchtrieben, aber charmant, wenn es galt, etwas zu gewinnen; brutal und gemein, wenn er in die Enge getrieben wurde. Kein Revolutionär, sondern ein Mitläufer, der sich die Ideen der Gleichheit nur seines eigenen Vorteils wegen zu eigen machte.
Stockend berichtete sie, wie sie sich anfangs bei Armands weitläufigen Verwandten in der Normandie versteckt hatten, unzufriedenen, mürrischen Bauersleuten, die sie mit Argwohn betrachteten und ihnen jeden Bissen missgönnten. Es war ihr ja alles recht gewesen, nur um bei dem Geliebten zu sein. Doch das Geld, das sie aus der Schublade gestohlen hatte, war bald aufgezehrt, verspielt, vertan. Schließlich mussten sie weiterziehen, denn die Bauersleute weigerten sich, ohne Bezahlung das karge Essen mit ihnen zu teilen. Sie übernachteten frierend in Scheunen und Ställen. Doch Armand zog oft los und kam wunderbarerweise mit Schinken, Brot oder Käse wieder. Dann tafelten sie fürstlich und tranken auch Wein dazu, der Isabelle wärmte und so berauschte, dass sie zu fragen vergaß, wo alles herkam. Nur allmählich ahnte sie, dass Armand den Proviant ganz einfach gestohlen hatte. Sie zogen über Land, um nach Paris zu gehen, wo sie, wie Armand sagte, ein neues Leben anfangen würden. Doch bis dahin wollten sie aus Angst vor Isabelles Eltern eine Weile untertauchen. Leider fehlte es an allen Enden und Ecken an Geld. Eine Zeit lang verweilten sie in der Nähe von Pleimûr, einem ärmlichen Marktflecken, wo sie bei einem angeblich alten Freund Armands unterkommen konnten, einem schmierigen, verschlagenen Gesellen mit verfaulten Zähnen und einem widerlichen Grinsen, mit dem er das Mädchen auf seltsame Art von oben bis unten fixierte.
Isabelle fasste vom ersten Augenblick an einen unüberwindbaren Widerwillen und Misstrauen gegen diesen um einige Jahre älteren Freund. Doch Armand schien ihn zu mögen, und die beiden blieben oft bis in die Nacht hinein verschwunden, während Isabelle allein und weinend in der schmutzigen Kammer vor einem schlecht zu heizenden Ofen hockte und sich an die Illusion klammerte, Armand liebe sie so sehr, dass er ihretwegen in diese schreckliche Situation geraten war. Eines Tages kamen die beiden, schwankend und nach Schnaps riechend, mit einer Geldtasche heim, die sie lachend in der Luft schwenkten, sich gegenseitig zubrüllend, dass sie damit nach Paris gehen würden, um für die Revolution zu kämpfen! Ein schlimmer Verdacht keimte in Isabelle auf, und sie blickte ernüchtert in Armands unrasiertes, vom Wein aufgedunsenes Gesicht, das nichts mehr gemein hatte mit dem des schönen Piraten, der ihr Herz in Valfleur sofort erobert hatte. Dies hier war ein Fremder, ein unbekanntes Wesen, vor dem ihr grauste, als er sie umarmen wollte. Ihre Ablehnung, ihn zu küssen, machte ihn zornig. Er stieß sie zu Boden und schlug auf sie ein, wobei er ihr Verwünschungen und Beleidigungen entgegenschleuderte, die sie schaudern ließen. Von diesem Moment an hatte sie nur noch den einen Gedanken: Flucht, fort aus diesem feuchten Rattenloch, fort von diesem ihr völlig fremden Mann, dem brutalen, gemeinen Armand, den sie nicht wiedererkannte.
Doch ihre Pläne lösten sich in Luft auf, als Armand sich am nächsten Tag entschuldigte, sie mit zärtlichen Worten bezauberte und mit seiner ganzen Verführungskraft wieder in die Wolken einer trunkenen Verliebtheit stürzte. Wenn sie erst in Paris seien, schwor er, fange ein neues Leben an! Er habe dort Beziehungen, doch noch fehle es an genügend Geld. Wenn sie ihm helfen würde, wäre das Ganze ein Kinderspiel und man könne auf der Stelle abreisen. Ihre Eltern seien doch reich genug, und eine Mitgift stehe ihm schließlich zu. Ihr Vater würde wahrscheinlich freiwillig keinen Sou herausrücken, weil er, Armand, nicht standesgemäß sei. Sie allein wisse vielleicht, wo man Geld und Wertsachen versteckt halte, und müsse ihm nur sagen, wo er suchen solle. Isabelle schüttelte entsetzt den Kopf und weigerte sich hartnäckig. Sie sollte ihre Eltern bestehlen! Welch perverse Idee! Doch dann wiederholten sich die unglücklichen Szenen erneut, und wenn sie es wagte, ihm zu widersprechen, schlug er wie blind auf sie ein.
An dieser Stelle machte Isabelle eine Pause, ihre Kehle war heiser, und sie konnte kaum weitersprechen. Laura stieß einen mühsam unterdrückten Seufzer aus, sie hätte dem Mädchen am liebsten Einhalt geboten, ließ sie aber fortfahren, da es ihr ein Bedürfnis war, sich ihre Seele zu erleichtern.
Als sich auch noch der angebliche Freund Armands an sie heranmachen wollte, war sie in wilder Panik geflüchtet. Zwei, drei Tage lang irrte sie umher, versteckte sich wieder in Heuschobern, in der ständigen Furcht, Armand auf der Suche nach ihr zu begegnen. Doch schließlich las sie ein mitleidiger Bauer auf der Straße auf, nahm das völlig geschwächte Mädchen mit zu sich nach Hause. An der feinen, mit Monogramm bestickten Wäsche und dem zarten Seidenstoff des schmutzstarrenden, zerrissenen Kleides erkannte seine gewitzte Frau sogleich, dass es sich wohl lohnen würde, einen größeren Umweg in Kauf zu nehmen, um die Kleine zu ihren Eltern zurückzubringen. Valfleur! Der Name des Schlosses klang so wohltönend in den Ohren! Das könnte eine gute Belohnung wert sein, die in diesen mageren Zeiten wie gerufen kam! Schon am nächsten Tag machte sich der Bauer im Morgengrauen auf dem wackligen Karren, vor den er einen struppigen Gaul spannte, auf den Weg nach Valfleur.
Dort konnte der gute Mann sich die Hände reiben, denn Rospert, der Verwalter, entließ ihn nicht, ohne ihn großzügig zu beschenken und mit Lebensmitteln für seine Familie einzudecken. So viel hatte er wahrlich nicht erwartet, als er Stunden später gut gelaunt dem mageren Braunen zuschnalzte. Der hatte sich inzwischen an dem üppigen Futter im Stall des Barons den Bauch so rund gefressen hatte, dass seine herausstehenden Rippen zu seinem vollen Wanst einen seltsamen Kontrast bildeten und er sich nur in mühsamem Trott vorwärts bewegen konnte.
Isabelle schwieg und lehnte den Kopf erschöpft an die Sessellehne. Es war totenstill im Raum, und man hörte nur das Geräusch der unablässig tickenden Wanduhr. Laura saß wie gelähmt mit zusammengepressten Lippen aufrecht in ihrem Sessel und sah an ihrer Tochter vorbei ins Leere.
Madeleine hob zaghaft die Hand und strich dem Mädchen übers Haar. »Es ist vorbei, mein Kind. Denk nicht mehr daran, eines Tages wirst du es vergessen haben. Jetzt ruh dich aus.« Als sei nichts geschehen, nahm sie mit zitternden Fingern die Stickerei wieder auf, die ihren Händen entglitten war.
Eine Weile sagte niemand ein weiteres Wort, doch dann konnte Laura sich nicht enthalten, bitter hervorzustoßen: »Wie konntest du nur? Wie konntest du uns das antun? Mein Kind! Mein kleines Mädchen! Was habe ich alles für dich getan, welche Erziehung habe ich dir zuteil werden lassen! Es war alles umsonst.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte auf. Sie spürte, dass sie ihrer Tochter diesen Ungehorsam, der ihr wie ihr eigenes Versagen erschien, nie verzeihen könnte.
Isabelle war aschfahl geworden, und ihre schmalen Lippen pressten sich zusammen. »Vielleicht wäre es dir lieber, ich wäre tot!«, brach es aus ihr heraus. Die Erinnerung an die erlittene Schmach, die verachtungsvolle Art, mit der ihr Vater sich von ihr zurückgezogen hatte, die harten Vorwürfe der Mutter überwältigten sie, und das Gefühl einer untilgbaren Schuld schnürte ihr das Herz zusammen. Ihr war, als gefriere ihr Blut zu Eis, ihre Schläfen hämmerten, und sie sank ohnmächtig zu Boden.
Laura und Mademoiselle Dernier sprangen fast gleichzeitig auf, und Laura umfasste Isabelle mit einem hysterischen Aufschrei und tätschelte ihr angstvoll die Wangen. Als Isabelle die Augen wieder aufschlug, flüsterte sie: »Liebling, hör mich an, ich habe dir doch verziehen, es wird alles gut werden!« Warum hatte sie ihr nur Vorwürfe gemacht?
Isabelle sah ihre Mutter mit kaltem, starrem Blick an. Niemand verstand sie, das hätte sie vorher wissen sollen. »Es gibt nichts zu verzeihen. Ich liebe Armand trotzdem, das ist das Schlimmste...« Sie wandte den Kopf ab und stöhnte auf. »Ich werde ihn immer lieben und gleichzeitig hassen; vielleicht waren es doch nur die Umstände, die ihn gezwungen haben, so zu handeln!«
Als sei nichts Außergewöhnliches geschehen, ging man in den folgenden Wochen zum Alltag über und vermied tunlichst, Isabelles Flucht auch nur noch zu erwähnen. Man strich diesen Vorfall einfach aus dem Gedächtnis, so als hätte er gar nicht stattgefunden. Es war eine Dummheit, eine Jugendsünde gewesen, die in den besten Familien vorkommt. Besser, man sprach nicht mehr darüber.