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16 Verhängnisvolle Liebschaft

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Der Baron stand am Fenster und sog genießerisch den Rauch seiner brasilianischen Zigarre ein, einer neuen Marke aus Übersee, die er beim Spezereienhändler Marinaud im Palais Royale erstanden hatte. Müßig beobachtete er das Leben in der Rue St. Antoine, die trotz der kühlen Witterung und des feinen Regens von Händlern, Straßenverkäufern und Passanten belebt war. Es war ein Viertel, in das er früher selten gekommen war, die Wohnstatt der kleinen Leute, der Handwerker und Gewerbetreibenden, unweit des massigen Gefängnisses der Bastille, die in der Ferne ihre mächtigen Türme wie eine Drohung aufragen ließ.

Der kleine Raum, den er gemietet hatte, war einfach, aber gemütlich. Er wandte sich um, und sein Blick ging über das breite Bett, das den größten Teil des Zimmers einnahm und auf dem zerwühlt und in völliger Unordnung Röcke, Spitzendessous, Strümpfe und ein Korsett neben einem Tablett mit Austernschalen lagen. Eine halb geleerte Flasche Wein war auf den Boden gefallen. Zwischen den Daunenkissen konnte man inmitten einer Fülle blonder Locken ein zartes Gesichtchen erkennen, das unschuldig in all dem Chaos schlummerte. Der Baron warf seine Zigarre mit einem entschlossenen Schwung hinaus auf die Straße und schloss das Fenster mit einem absichtlich lauten Geräusch, sodass die junge Frau in den Federn hochschreckte und nach der Bettdecke griff.

»Oh«, rief sie aus, streckte sich und gähnte ungeniert, während sie die weiße, mit zahlreichen Ringen geschmückte Hand geziert vor den Mund hielt, »ich glaube, ich bin wirklich ein wenig eingeschlafen! Das macht der Ball gestern bei der Königin, bei dem es so spät wurde.«

D’Emprenvil, mit ein paar Schritten an ihrer Seite, schloss sie in die Arme. »Ich will dich nicht drängen, Liebste, aber es ist schon vier Uhr. Dein Mann wird dich bereits ungeduldig erwarten.«

Die hübsche junge Frau machte sich los, schüttelte ihre langen Locken und hielt einen Handspiegel vors Gesicht. »Wie hast du mich wieder zugerichtet, du Wilder! Zur Strafe musst du nun meine Zofe spielen.«

D’Emprenvil hatte schon das Korsett ergriffen und versuchte, die herabhängenden Bänder zu ordnen. »Wieso musst du so etwas Kompliziertes tragen, das hast du doch gar nicht nötig!«

»Was verstehen Männer schon von Mode, komm, hilf mir lieber!«, sagte sie kichernd und stieg in den weiten, rüschenbesetzten Rock, nachdem sie in Windeseile ein paar bauschige Unterröcke übereinandergezogen hatte.

Es war wirklich nicht so einfach, alles musste nach einer bestimmten Reihenfolge geschehen, und der Baron konnte sich nicht enthalten, seine Geliebte hin und wieder auf ein verführerisches Stückchen Haut, den Rücken oder das Dekolleté zu küssen.

»Wenn du so weitermachst, werden wir nie fertig werden!« Yolande zupfte die Spitzen am Ausschnitt ihres hellblauen Seidenkleids zurecht und legte vor dem Spiegel ihren pelzbesetzten Schal um. Mit ein paar Handgriffen ordnete sie ihre Locken, steckte sie fest und setzte sich den Hut auf, ein großes, mit Straußenfedern besetztes Modell, von dem hinten ein Fuchsschwanz herabhing. Sie sah einfach entzückend aus; dennoch murrte sie, indem sie kritisch eine offene Naht in Taillenhöhe betrachtete: »Ah, alles zusammengeflickt und völlig aus der Mode! Hier, sieh doch!« Sie zog an der Schleife, die am Ausschnitt befestigt war, und hielt ein Stück des ausgefransten Bands in der Hand. »Das ist doch skandalös, dass ich so herumlaufen muss. Und hier der Hut! Ich habe ihn schon dreimal umarbeiten lassen. Man trägt ihn jetzt viel höher und mit Straußenfedern und Vögeln dekoriert. Diese lumpigen Pfauenfedern haben ja völlig ihre Farbe verloren.«

D’Emprenvil betrachtete erstaunt die junge Frau, die sich unzufrieden vor dem Spiegel drehte und wendete.

»Sieh nur, diese abgenutzten Stiefel!« Sie streckte ihren entzückenden kleinen Fuß in dem weißseidenen Strumpf aus und bemühte sich, ihn in den blauen Stoffstiefel zu zwängen, der in der Tat ziemlich ausgetreten war und dessen Sohlen schäbige Löcher aufwiesen.

»Eine Gräfin von Polignac wird doch wohl genügend Geld für ihre Garderobe haben!«, versuchte der Baron zu scherzen und warf einen heimlichen Blick auf seine Uhr.

»Oh, da täuschst du dich! Dieser Geizhals! Es fehlt an allen Ecken und Enden«, schimpfte Yolande und schnürte die Schleife in ihrer Taille fest zusammen. »Hier, so hilf mir doch. Zieh, so fest du kannst! Wenn das so weitergeht, muss ich bald auch auf die Straße gehen und protestieren, dass wir kein Brot mehr haben. Seit Jules auch noch Schulden gemacht hat, sind wir völlig am Boden. Hätte ich ihn doch nicht geheiratet! Diesen völlig verarmten Grafen, der mir alles Mögliche versprochen hat!« Ihrem bestickten Beutelchen entnahm sie eine Puderquaste und fuhr sich flüchtig damit über das Gesicht. Ihre kindlich hellblauen Augen mit den langen Wimpern füllten sich mit Tränen. »Wie soll ich der Königin nur entgegentreten? Wenn du wüsstest, wie hoheitsvoll, wie elegant, wie schön sie ist, welche Sorgfalt sie auf ihre Kleidung, ihre Frisur legt! Einfach wundervoll sieht sie aus. Und gestern hat sie mir vor allen Leuten ihre Sympathie bekundet und sich lange mit mir unterhalten. Alle waren neidisch! Aber wenn ich so aussehe, schäme ich mich unter all den prächtig angezogenen Hofleuten!«

D’Emprenvil lächelte und fasste sie um die Taille. »Aber wenn es nur das ist, Chérie! Ich finde zwar, du siehst bezaubernd aus und bist die schönste Frau in ganz Paris... aber du sollst heute Abend in der Loge der Königin ihr an Eleganz nicht nachstehen.« Aus seiner Rocktasche nahm er eine Brieftasche, die er ihr in die Hand drückte. »Hier, nimm dir daraus, was du brauchst, und gib mir den Rest beim nächsten Mal zurück.«

Yolande flog ihm mit einem entzückten Aufschrei um den Hals. »Oh, Charles, ich liebe dich, du bist so großzügig, so einmalig... das werde ich dir nie vergessen!« Wie ein Bauernmädchen steckte sie die Börse unter ihre Röcke. »Du wirst mich nicht wiedererkennen! Werden wir uns in dieser Woche noch einmal sehen?«

Der Baron murmelte eine ausweichende Antwort. Er war mit Arbeit überlastet, Sitzung folgte auf Sitzung, und die Vorbereitungen zu den Generalständen, die Beschwerdeschriften aus allen Regionen, die sich zu unlesbaren Mengen türmten, bereiteten ihm Kopfschmerzen. Aber immer wieder verlockend wartete zu seiner Entspannung das kleine Zimmer mitten im Marais, wie man im Volksmund sagte, dem entlegensten Viertel in Paris, wo ihn niemand vermutete und wo die kleinen Leute verdrossen der unbekannten Kutsche nachsahen.

In letzter Zeit war es allerdings vorgekommen, dass man ihn erkannte, offen die Fäuste hinter ihm ballte und Flüche ausstieß. Immer wieder musste er neue Umwege in Kauf nehmen, durch die kleinen, engen Gassen des finsteren Stadtteils, in das sich alle Ausgegrenzten – die Juden, die Armen, die Obdachlosen – geflüchtet hatten, um in den Torbogen früherer Paläste zu nächtigen und Unterkunft zu finden. Früher hatte der Baron sich unter ihnen bewegt, als sei er einer von ihnen, ohne die geringste Furcht und voller Unbekümmertheit – und diese Ausstrahlung hatte ihn bisher auf wundersame Weise vor Raub und Überfall geschützt. Aber in letzter Zeit war die Stimmung gegen ihn umgeschlagen: Vom Revolutionär, der dem Absolutismus des Königs offen Widerstand leistete, war er zum angeblichen Mitläufer geworden. Aufgrund von Gerüchten, die Mitglieder der Hofpartei streuten: D’Emprenvil wusste, dass er sich vorsehen musste!

Yolande legte die Arme um seinen Hals und glättete ihm die zerfurchte Stirn. »Woran denkst du schon wieder, Liebster? Ich habe schon jetzt Sehnsucht, dich wiederzusehen. Denk dir, ich habe bei Molinier ein so herrlich zartes Musselinkleid gesehen, weißt du, eines jener duftigen Gebilde, welche die Königin in Mode gebracht hat. Es ist schneeweiß, mit vielen Spitzen, ganz eng in der Taille und mit einer großen Schleife – und dazu ein Hut, ganz einfach, mit Blüten und Federn... und einen Pelzumhang brauchte ich, ein Cape, schwarz...!«

D’Emprenvil hörte nur mit halbem Ohr zu, während sie neben ihm immer weiterplauderte. Er sah auf die Seine hinab, während die Kutsche über die Brücke auf die Ile de la Cité rollte. Es war noch hell, aber leichte Nebelschwaden lagen schon über dem Fluss. Eine schwache Brise wehte über der Stadt, die einen Duft barg, der die Leichtigkeit des kommenden Sommers erahnen ließ. Tief in der Erde, in Büschen und Bäumen, Gräsern und Blumen drängte er unaufhaltsam zum Blühen und Wachsen und sandte seine unsichtbaren Vorboten aus. Der Baron öffnete das Fenster und rief dem Kutscher zu, er möge ihn am Parlamentsgebäude absetzen. Ein winkendes Spitzentuch grüßte ihn aus der Kutsche, die mit knarrenden Rädern erneut anrollte.

De Montalembert erwartete ihn ungeduldig mit einem Stapel Akten unter dem Arm vor dem großen Portal, während er zerstreut den Gruß der Vorübereilenden erwiderte. Er war ein wenig blass, und während die beiden über den Hof schritten, brach es hastig aus ihm hervor: »Es ist doch hoffentlich nur ein Gerücht, dass deine Tochter Isabelle demnächst den Flugblattbeschmierer Desmoulins heiraten wird?«

D’Emprenvil verzog keine Miene und wiegte nur bedenklich den Kopf. »Hmmh, er ist ein Journalist, nicht ohne Talent. Ich persönlich kann natürlich auch keine besonderen Qualitäten an ihm entdecken, aber du weißt ja, meine Frau hat sehr viel Sympathie für ihn und Isabelle...«

»Man sagt ihm übrigens sehr enge Beziehungen zu der Familie Duplessis nach. Kennst du sie?«

Sie waren im Sitzungssaal angekommen und nahmen in dem von Stimmengewirr erfüllten Raum ihre Plätze ein. D’Emprenvil lächelte gezwungen. »Nie gehört! Lass uns bei Gelegenheit darüber reden. Es gibt da einiges, was ich zu dieser dir seltsam scheinenden Verbindung sagen muss.« Er ordnete seine Papiere und legte die Akten auf das Pult.

»Aber du weißt vielleicht nicht, dass Lucile Duplessis als Desmoulins‘ Verlobte gilt?« De Montalembert sah ihn fragend an. Als das Klopfen des Vorsitzenden ertönte, flüsterte er: »Ich möchte deine Familie, die bald die meine sein wird, nur vor einem großen Fehler bewahren. Dinierst du heute Abend mit mir? Wir könnten in Ruhe darüber reden, und ich würde dir schon seit Langem gern die Umbauten zeigen, die ich vorgenommen habe!«

D’Emprenvil nickte nachdenklich und lehnte sich in die harte Bank zurück. Er hatte wahrlich keine Lust, dieses Thema erneut zu erörtern. Natürlich wusste er, dass Desmoulins keine Partie für Isabelle war! Aber er hatte ja keine große Wahl, die Zeit drängte. Gerade an diesem Abend lockte eine Einladung in die Oper, und er war eigentlich nicht in der Stimmung, über diese unliebsame Geschichte mit de Montalembert zu diskutieren. Aber seiner kleinen Amélie zuliebe würde er Richard ins Vertrauen ziehen müssen; und für Richard als Schwiegersohn würde er auf zehn Desmoulins verzichten. Wenn sein Ruf wirklich so schlecht war, müsste man doch einen anderen finden! Isabelle war schließlich immer noch eine ausgezeichnete Partie!

Der Tag war kühl und stürmisch gewesen, und der Wind peitschte unablässig Ströme von Regen ans Fenster. Amélie fröstelte und zündete eine neue Kerze an – im Zimmer war es dunkel, als wäre der Abend bereits hereingebrochen. Das Mädchen beugte sich tiefer über den Brief, den es gerade begonnen hatte, und füllte mit seiner schönen, geschwungenen Schrift die blauen Blätter. Alles, was sie erlebte, dachte und fühlte, vertraute sie diesen Briefen an Richard an, als wäre es ihr Tagebuch. Sie fragte ihn um Rat und öffnete ihm ganz ihre Seele. Das war ihr sehr wichtig; nicht umsonst war sie von Rousseaus Roman Julie, der eine neue Form der Ehe pries, so begeistert gewesen und hatte das Buch mehrmals gelesen.

Amélie zerknüllte ein Blatt, auf dem sie die Tinte verwischt hatte, und warf es in den Papierkorb. Sie sah den draußen ziehenden Nebelschwaden nach und stützte den Kopf in die Hände. Worte blieben eben doch nur Worte, und sie drückten so wenig von dem aus, was sie wirklich empfand.

Währenddessen stürzte sich Laura in die Vorbereitungen der Hochzeit, um nicht nachdenken zu müssen. Sie sollte heimlich und in kleinem Kreis stattfinden – eine reine Formalität, der man den Anschein einer längeren Beziehung gab.

Desmoulins hielt sich mit süßsaurer Miene für eine Weile auf dem Gut auf, um sich dem Mädchen, das er demnächst heiraten sollte, ein wenig zu nähern. Alles in ihm wehrte sich dagegen, dieses junge und ihm offen seine Verachtung zeigende Geschöpf zu ehelichen, doch der Gedanke des mittellosen Mannes an die Mitgift, die ihm in Aussicht gestellt wurde und die diejenige von Lucile Duplessis weit überstieg, war einfach zu verlockend.

In der Zwischenzeit arbeitete Desmoulins voller Eifer an seinem Blatt und schickte die einzelnen Ausgaben per Express nach Paris. Außerdem verfasste er heimlich eine große Menge neuer Flugblätter, die sich hauptsächlich mit dem neuesten Klatsch aus dem Königshaus, unseriösen Gerüchten über die Beziehungen Marie Antoinettes zu angeblichen neuen Liebhabern und ihren immensen Ausgaben für ihre Günstlinge befassten. Er hatte bemerkt, wie vor ihm auch schon andere Schriftsteller, darunter Laclos und Beaumarchais, dass diese Halbwahrheiten mehr als alles andere die Leute interessierten und ihm den größeren Gewinn brachten.

Laura hatte für ihren zukünftigen Schwiegersohn fürsorglich den kleinen Pavillon mit Büchern, Regalen und einem zweiten Schreibtisch ausstatten lassen, damit er ungestört arbeiten konnte. Sie selbst verbrachte ebenfalls viel Zeit dort, um ihm, wie sie sagte, bei Abschriften und Recherchen behilflich zu sein. Doch in Wahrheit war sie es, die seinen Entwürfen den Schliff gab: Seinen Gedanken verlieh sie Klarheit, und zu groben Formulierungen nahm sie auf raffinierte Weise die Spitze, sodass man nur noch zwischen den Zeilen ahnte, was gemeint war.

Laura, fasziniert von der Idee der Gleichheit, dem Rousseau’schen Gedanken des Glücks in der Einfachheit der Lebensform, warf sich mit Feuereifer auf Desmoulins‘ theoretischen Entwurf eines neuen Staatsgefüges. Seit sie Rousseaus Gesellschaftsvertrag gelesen hatte, war es ihr völlig klar, dass das Jahrhundert, in dem sie lebte, einer Erneuerung bedurfte. Mit keinem anderen als mit Desmoulins konnte sie so gut diskutieren, er war ihr Aufklärer, und sie sog alles, was er sagte, begierig in sich auf, um es dann zu Papier zu bringen.

Wenn es regnete, das Wetter zu kühl war und der Nordwind am Dach des Pavillons rüttelte, zogen sich Laura und Desmoulins in die Bibliothek zurück. Manchmal leistete ihnen Amélie, die ebenfalls gerne in den alten Folianten stöberte, dort Gesellschaft und steckte voller Neugier die Nase in die neue Zeitung Desmoulins‘. Obwohl sie sich mehr für die Wirklichkeit und weniger für Konzepte neuer Staatsformen interessierte, amüsierten sie die neuesten pikanten Gerüchte, fand sie Gefallen an den Theaterkritiken und Anekdoten aus der Hauptstadt, mit denen Desmoulins sein Blatt würzte. Gern versuchte sie, Desmoulins in Streitgespräche zu verwickeln, in dem sie ihn irritierte und ihm widersprach, bis er, um nicht grob zu werden, seine Sachen zusammenraffte und flüchtete.

In der engen Zusammenarbeit, in der Laura und Desmoulins das Frühjahr verbrachten, hatte es sich letztendlich wie von selbst ergeben, dass der Journalist den letzten Widerstand Lauras überwand. Nicht, dass sie ihn leidenschaftlich geliebt hätte, davon war sie weit entfernt. Doch seine beharrliche Glut, seine fast hörige Anhänglichkeit rissen sie in gewissen Stunden mit und ließen sie all die Widrigkeiten des Alltags und auch die lange Abwesenheit ihres Gemahls vergessen. In seinen Armen fühlte sie sich mit einer Leidenschaft von einem jungen Mann begehrt, die ihr schmeichelte und sie manchmal sogar erschreckte. Und dieser Mann sollte ihr Schwiegersohn werden? Laura fühlte immer mehr die Unmöglichkeit einer solchen Verbindung und schob vorerst den Gedanken beiseite.

Währenddessen blieb Isabelle ganze Tage im Bett unter dem Vorwand, es gehe ihr nicht gut, und ließ sich von Mademoiselle Dernier umsorgen. Die Gouvernante ertappte sie schließlich, wie sie sich nach dem Essen, bei dem man misstrauisch beobachtet hatte, was sie zu sich nahm, den Finger in den Hals steckte und sich erbrach. Es schien, als wollte sie sich selbst umbringen oder aber verhindern, dass das Kind in ihr wuchs. Sie magerte auf erschreckende Weise ab, und nur die kleine kugelrunde Ausbuchtung, die sie unter weiten Blusen versteckte, wies auf ihren Zustand hin. Doktor Tourmon war am Ende seiner Weisheit und prophezeite ein schlimmes Ende, wenn das widerspenstige Mädchen nicht endlich Vernunft annahm und regelmäßig aß.

Der Baron beschloss schließlich, auf Drängen Lauras, seiner Tochter den Kopf geradezurücken. Er fühlte sich in der Rolle des vernünftigen, strengen Vaters äußerst unbehaglich und platzte schon am ersten Abend seiner Ankunft beim Diner, als Isabelle ihm gegenübersaß und keinen Bissen anrührte, heraus: »Ja, zum Teufel, warum isst du denn nicht? Sag mir nicht, dass du immer noch diesem Mistkerl nachtrauerst, der dich beinahe umgebracht hat. Er war nicht den Strick um seinen Hals wert!«

Isabelle antwortete nicht, sie sah auf ihren Teller, doch man merkte ihr an, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete.

D’Emprenvil sprang impulsiv auf und fasste ihr unters Kinn, um sie genauer anzusehen. Er mäßigte seinen Ton, als er fortfuhr: »Du brauchst frische Luft, Bewegung, neuen Lebensmut, mein Kind! Ich bemühe mich ja, deinen Fehltritt zu vergessen – aber du musst auch das Deine dazu tun!«

Isabelle wandte traurig den Kopf zur Seite und sah den Vater nicht an. Sein Bemühen um Verständnis schmerzte sie mehr als seine Wutausbrüche. Sie konnte selbst nicht mehr verstehen, was sie getan hatte, und alles erschien ihr in einem so fernen Licht, als hatte sie nur einen fürchterlichen Traum gehabt. Plötzlich stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: »Eines werde ich jedenfalls nicht tun! Ich werde Camille Desmoulins niemals heiraten! Ich kann es nicht! Ich sage es heute vor ihm und vor dir, bevor ihr euch weitere Illusionen macht. Lieber stürze ich mich aus dem Fenster des obersten Turms!«

Desmoulins wurde blass, er legte seine Gabel beiseite und sah Laura an.

»Ihr könnt mich nicht zwingen!« Nach einem Blick auf den brüskierten Desmoulins fügte sie abmildernd hinzu: »Er hat eine andere Frau verdient als mich.« Sie sank in den Stuhl zurück und legte die Hand vor die Augen.

D’Emprenvil, der wütend den Arm erhoben hatte, als wollte er sie schlagen, ließ ihn resigniert sinken. »Du kannst nicht? Dann lass es bleiben. Aber ich glaube, du willst nur nicht. Du bist starrköpfig und möchtest es uns zeigen. Dieser Skandal, mit dem du uns alle blamiert hast, war dir wohl nicht genug!« Seine Stirn rötete sich, und seine Stimme erhob sich. »Gut, gut, du wirst ihn nicht heiraten. Dann iss wenigstens und sitze nicht dauernd mit dieser Trauermiene herum, während du bis auf die Knochen abmagerst! Ich kann es nicht mehr mit ansehen und möchte, dass du diese Suppe, die jetzt vor dir steht, aufisst wie alle anderen, die dankbar sind, dass es in diesen Zeiten überhaupt noch etwas zu essen gibt.« Drohend baute er sich vor Isabelle auf.

»Charles«, sagte Laura beschwichtigend, »lass sie doch...«

»Nein, ich habe das schon lange genug mit angesehen, und ich glaube, jetzt reicht dieses Theater. Iss«, wandte er sich wieder an Isabelle, »ich befehle dir, zu essen!«

Isabelle sah ihn zögernd, mit angewidertem Gesichtsausdruck an und nahm langsam den Löffel. Unter dem Blick des Vaters tauchte sie ihn in die Suppe, führte ihn zum Mund und schluckte.

»Na, also«, sagte der Baron zufrieden, setzte sich auf seinen Platz und nahm seine Serviette. »Warum nicht gleich so? Mit ein wenig gutem Willen...« Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, denn Isabelle beugte sich vor und erbrach sich unvermittelt auf das Tischtuch und in ihren Teller. Fassungslos blickte der Baron seine Tochter an. »Du wagst es... hier an diesem Tisch...« Er holte mit zornesrotem Gesicht aus, als wollte er das Mädchen rechts und links ohrfeigen, aber Laura war aufgesprungen und hielt seine Hand fest.

»Charles, lass sie. Das hat sie bestimmt nicht mit Absicht getan. Du weißt doch, dass sie ein Kind erwartet.«

Das letzte Wort verhallte in einer plötzlich eingetretenen Stille. Desmoulins beugte sich, unangenehm berührt, Zeuge einer solchen Szene zu sein, über seinen Teller. Und dennoch fühlte er fast eine Erleichterung, dass sich Isabelle so energisch gegen eine Verbindung mit ihm wehrte. Ihre Mitgift wäre zwar verführerisch gewesen, aber er hatte noch ein zweites Eisen im Feuer. Die gute Lucile Duplessis, ein entzückendes junges Mädchen aus guter Familie, die einzige Tochter einer Pariser Familie mit einem ebenfalls nicht unbeachtlichen Vermögen, wäre doch sehr enttäuscht gewesen... Und so könnte er in aller Ruhe seine Beziehung zu Laura fortführen, ohne dass die Angelegenheit zu anstößig wurde.

Der Baron starrte eine Weile stumm vor sich hin. »So weit ist es gekommen«, murmelte er. Dann riss er sich von seiner Frau los und murmelte in die Richtung seiner Tochter: »Hure, sei froh, wenn dich überhaupt jemand nimmt!« Brüsk schob er seinen Stuhl zurück und verließ den Raum.

Im gleichen Moment tat es ihm leid, sich so aufgeregt zu haben. Aber das provokante Benehmen Isabelles hatte ihn einfach zur Raserei gebracht. Sollte sie doch ihren Willen haben! Im Grunde war es ihm nach den Gerüchten, die über Desmoulins in Paris kursierten, ganz recht, dass aus der Ehe seiner Tochter mit einem Mann von so zweifelhaftem Ruf nichts wurde. Eigentlich hatte keiner der Beteiligten diese Verbindung wirklich gewollt. Man müsste allerdings einen anderen gutmütigen Tropf finden, und das möglichst schnell! Aber wer sollte das sein?

De Montalembert kam jetzt häufig nach Valfleur, obwohl ihn seine Anwaltstätigkeit und die Vorbereitungen der Generalstände sehr in Anspruch nahmen, die der König auf Mai verschoben hatte.

An einem jener stürmischen Abende, an denen der Wind an den Fensterläden des Schlosses zerrte, als wollte er die frische Frühlingsluft gewaltsam in alle Ritzen blasen, saßen Amélie und Richard Hand in Hand über den Plan des Montalembert’schen Palais gebeugt. Amélie konnte sich einfach nicht entscheiden, welche Vorhänge man nehmen sollte, gestreifte, pastellfarbene Seide – oder doch schweren Velours in einem zarten Grünton?

Richard schwieg zerstreut, er war diesmal nicht ganz bei der Sache. Er überlegte sich eine geschickte Formulierung, um ein Gespräch mit seinem zukünftigen Schwiegervater zu eröffnen: Er wollte ihn bitten, ihn aus seiner Komplizenschaft zu entlassen, in die er ihn in letzter Zeit gezogen hatte. Es wurmte ihn und schien ihm unehrenhaft, dass er so oft seine kleinen Lügen und Schwindeleien gegenüber seiner Familie decken musste, wenn er angeblich unabkömmlich war. Während er, Richard, wusste, dass er in Wahrheit bei seiner Geliebten, der Gräfin Polignac, weilte. Die Gräfin stand plötzlich in hoher Gunst bei der Königin, und man munkelte, dass d’Emprenvil seine Begnadigung allein seiner Beziehung zu ihr zu verdanken habe. Auch seine angebliche Annäherung an die Hofpartei schien in dieser Affäre zu gründen; eine Kehrtwendung, die ihm das Volk nicht verzieh.

Amélie riss ihn aus seinen Gedanken: »Du hörst mir ja gar nicht zu, Liebster! Du verbirgst mir etwas, gestehe es! Du hast ein Geheimnis! Eine andere Frau ist in dein Leben getreten!« Mit kindlichdrolliger Ernsthaftigkeit sah sie ihm tief in die Augen. »Wenn ich bald deine Frau bin, musst du mir alles sagen, einfach alles!«

Richard schüttelte den Kopf und lachte. »Das wäre ja wohl noch schöner. Ein paar Geheimnisse will ich schließlich behalten, sonst werde ich dir langweilig, und du suchst dir einen anderen.«

Amélie legte theatralisch die Hand aufs Herz. »Das wird nie der Fall sein, nie, nie. Aber ich weiß, dass du mir etwas verschweigst. Sei offen und ehrlich: Warum bist du in der letzten Zeit nicht mehr so oft mit Papa zusammen? Versteht ihr euch denn nicht mehr?«

Es entstand eine verlegene Pause. Richard wusste offensichtlich nicht recht, was er dazu sagen sollte.

Amélie kam ihm zuvor. »Hat es vielleicht etwas mit den neuen Parteigründungen zu tun, die angeblich wie Pilze aus dem Boden schießen? Ich hörte, wie Mama darüber mit Desmoulins sprach.«

»Es wäre besser, du würdest deinen Vater selber fragen«, erwiderte Richard ein wenig unwillig. »Er muss schließlich wissen, was er tut.« Hastig fügte er hinzu, während seine Augen ausweichend im Zimmer umherwanderten, um Amélies forschendem Blick zu entgehen: »Und außerdem müssen Freunde nicht ihr ganzes Leben lang die gleichen Ansichten teilen.« Er stand auf und machte ein paar Schritte durch das Zimmer. »Im Übrigen wäre es mir lieber, wir würden dieses Thema nicht berühren. Ich bin ziemlich überarbeitet und habe keine Lust, mir jetzt wieder dieses unentwirrbare Durcheinander von Parteien, Flugblättern, Beschwerdeschriften und Prozessen ins Gedächtnis zu rufen, das mir in Paris den letzten Nerv raubt. Auch wenn es deinen Vater betrifft.«

Amélie sah ihn erstaunt an und hüllte sich in ein beleidigtes Schweigen, bis die Stille unerträglich wurde und Richard seufzend einlenkte: »Sieh, Liebes, ich will dich ja nicht beunruhigen, aber du kennst schließlich deinen Vater. Nirgendwo ist er mehr in seinem Element als im Widerspruch und im Risiko. Aufgrund seiner guten Beziehungen zum Hof und seit der Aufhebung seiner Verbannung gibt es Stimmen, die ihn der Scheinheiligkeit und des Opportunismus beschuldigen. Doch in Wirklichkeit hat er sich der Patriotischen Partei zugewendet, die sich Club der Dreißig nennt und in Paris sehr populär ist. Ihre Ideen sind beispielsweise Toleranz, Steuergleichheit und Reform der Geistlichkeit.« Er ging zum Kamin und warf ein neues Scheit in die Glut. »Das hört sich sehr gut an – doch ich betrachte diese Vereinigung mit gewissem Misstrauen. Der Herzog von Orleans scheint der Kopf dieser Partei zu sein – der größte politische Feind des Königs. Ebenso wie Graf Mirabeau. Mit ihm steckt dein Vater häufig zusammen, diesem Heuchler! Er war es auch, der ihn von all diesen widersprüchlichen Theorien überzeugt hat! Ich fürchte nur, er wird eines Tages über die Stolpersteine fallen, die ihm seine Feinde in den Weg legen, und vielleicht gibt es dann niemanden mehr, der ihn vor einer Verbannung oder Ärgerem retten kann.«

Amélie hatte mit klopfendem Herzen zugehört, sie senkte den Kopf und sagte: »Ich wollte schon mit Mama darüber sprechen, doch sie zuckte die Schultern und sagte, er sei schon immer so gewesen und sie habe ihn ja gerade deswegen geheiratet, weil er so impulsiv ist!«

»Ja, weiß der Teufel, so kann man es nennen«, stieß Richard hervor, »doch ich finde, unter diesen Umständen wäre es besser, im Geheimen zu arbeiten, um etwas zu bewirken. Doch das ist Charles natürlich zu wenig, er muss immer im Mittelpunkt stehen!« Er ging auf sie zu, nahm ihre Hand, drückte einen Kuss darauf und sah sie eine Weile stumm an, so als bereute er bereits, was er ihr anvertraut hatte.

Amélie schwieg mit zugeschnürter Kehle und wartete, bis Richard den Faden wieder aufnahm.

Er ließ ihre Hand los, trat zum Fenster und sprach mit abgewandtem Gesicht weiter. »Ich wollte dir das eigentlich gar nicht sagen, dich nicht damit belasten...«

Amélie unterbrach ihn mit leidenschaftlicher Stimme: »Aber ich muss es doch wissen, wenn Mama schon vor allem die Augen verschließt!«

»Nun gut, ich habe mit ihm darüber gesprochen, wir haben darüber diskutiert, stundenlang – nächtelang. Er hat mich einen Feigling genannt, und wir sind wütend auseinandergegangen.«

»Und ich dachte, ihr seid wahre Freunde!«, murmelte Amélie fast unhörbar.

»Aber das sind wir doch auch!«, rief Richard erregt aus. »Nur, ich habe aus unseren Erfahrungen gelernt. Zuerst bin ich deinem Vater blind gefolgt, habe mich von seiner Emphase begeistern lassen – doch jetzt gehen unsere Meinungen eben in gewissen Punkten auseinander.« Er war laut geworden, jetzt dämpfte er die Stimme, so als spürte er eine unterschwellige Bedrohung. »Ich weiß nicht, was geschieht, wenn dein Vater weiterhin den Rebellen und Patrioten spielt, nur weil das Volk ihn beschuldigt, sich der Hofpartei zugeneigt zu haben!«

Amélie fühlte eine dumpfe Angst in sich hochsteigen. »Du musst etwas tun... du musst ihn warnen... vor sich selbst! Du hattest doch Einfluss auf ihn, den Einfluss eines Freundes, eines Vertrauten!«

Müde winkte Richard ab. »Ich habe alles versucht. Er muss selbst wissen, was er tut. Du kennst ihn doch; wenn er sich etwas in den Kopf setzt, ist er durch nichts und niemanden davon abzubringen.«

Ein bedrückendes Schweigen entstand, in dem Amélie nickte und geistesabwesend den Plan des Hauses betrachtete, in dem sie bald wohnen würde. Ihr Blick schweifte darüber hinweg durch den vertrauten Raum, zur großen Terrassentür des Salons, durch die man ein Stück des Parks von Valfleur mit seinen noch kahlen Pappeln sehen konnte. Eine unbestimmbare Beklemmung stieg in ihr auf, das alles bald verlassen zu müssen, sich in die unsicheren Gefilde der Großstadt zu begeben, vor der sie sich plötzlich fürchtete.

Die Tür öffnete sich und Desmoulins trat ein; er stutzte zunächst unschlüssig, als er Richard erblickte, kam dann aber näher, während er suchend im Zimmer umherblickte. »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte er, »doch ich glaube, ich habe einen Band der Enzyklopädie hier liegen lassen.« Er ging zum Kamin, auf dessen Sims das umfangreiche Buch lag, nahm es, nickte Richard und Amélie noch einmal mit dem ihm eigenen, leicht untertänigen Blick zu und schloss die Tür hinter sich.

Richard, der ihm demonstrativ den Rücken zugewandt hatte, sah weiter nachdenklich aus dem Fenster, als gäbe es draußen Interessantes zu sehen.

»Du magst ihn nicht«, unterbrach Amélie das entstandene Schweigen, »warum eigentlich? Mama verbringt den ganzen Tag mit ihm in der Bibliothek. Sie hätte es sogar gern gesehen, wenn Isabelle seine Frau geworden wäre.«

Richard drehte sich abrupt um und sah Amélie mit einem merkwürdig wilden Flackern in seinen sonst so sanften Augen an. »Dem Himmel sei Dank, dass man das verhindern konnte! Dieser Tartuffe schmeichelt sich bei deiner Mutter ein, die ihn für ein literarisches Genie hält. Hast du schon einmal etwas aus seinem Hetzblatt gelesen, das in Paris erscheint?«

Amélie sah ihn verwundert an. »Du nennst seine Zeitung ein Hetzblatt?«

»Amélie...«, Richard trat auf sie zu und nahm wieder neben ihr Platz, »... du bist dir wohl nicht darüber im Klaren, dass seine Zeitung die schärfste Waffe im Kampf gegen den König und die Monarchie ist? Desmoulins verbreitet außerdem Flugblätter und Schriften übelster Art, und sein Ruf ist miserabel. Und dann sehe ich ihn hier seine Machwerke ausarbeiten, seine aufrührerischen Schriften vervollkommnen – und deine Mutter beteiligt sich auch noch daran! Weiß sie überhaupt, was sie tut, was sie damit anrichtet...« Er hielt inne, als hätte er zu viel gesagt.

»Aber nein, das ist doch unmöglich«, protestierte Amélie. »Mama macht das doch nur aus Spaß, aus reiner Freude am Formulieren. Sie würde nie etwas Hässliches schreiben, etwas, das jemandem schaden könnte, niemals! Und von Politik hat sie gar nicht viel Ahnung, sie hat sich nie dareingemischt. Nur die Philosophen interessieren sie, das heißt, die reinen Theorien, die Ideen an sich. Ich kenne sie! Aber wenn du der Meinung bist, dass sie sich zu weit vorwagt oder einen falschen Weg geht, dann solltest du mit ihr reden.«

»Das wollte ich ohnehin tun«, antwortete Richard ernst. Er war sich jedoch unsicher, ob er sich so weit in die Belange seiner künftigen Familie mischen sollte.

»Ah, das junge Paar hat sich hier versteckt!«, rief in diesem Moment der Baron, der wie üblich voller Elan in den Salon stürmte, seine Reitjacke über einen Stuhl warf und sich vor dem Feuer die Hände rieb. »Man sollte nicht glauben, wie dieser frische Frühlingswind einem durch die Glieder fährt! Eigentlich schade, dass ich heute schon nach Paris zurück muss. Aber meine Arbeit duldet keinen weiteren Aufschub...« Er warf Richard einen bedeutsamen Blick zu, der dem seinen auswich, und küsste Amélie auf die Stirn.

Zu Desmoulins gewandt, der in seinem Schlepptau hereingekommen war und mit der gewohnt ernsten und düsteren Miene einen starken Kontrast zu seiner eigenen unbeschwerten Heiterkeit bildete, sagte der Baron, indem er Amélies Kinn anhob: »Sehen Sie sich meine Kleine an, sie wird täglich schöner!« Dann klopfte er Richard leutselig auf die Schulter und rief aus: »Hast du ein Glück, mein Lieber.«

Flüchtig überflog er eines der Blätter, die Desmoulins ihm vor die Nase hielt, und murmelte: »Ja, ja, gar nicht schlecht, aber ein bisschen weniger Emphase, wenn ich bitten darf. ›Erhabene Wirkung der Philosophie... der Freiheit und des Patriotismus...‹ Die drei Dinge in einem Satz – ich weiß nicht recht! Aber wenn Sie glauben...« Er legte das Papier beiseite. »Trotzdem, man redet von Ihnen in Paris, Desmoulins! Gratuliere! Ihr Stil scheint mir doch in vielem ein wenig übertrieben, aber er begeistert die Leute. Nur weiter so! Vielleicht haben Sie ja eine große Zukunft vor sich. Ich möchte Sie nur bitten, sehr vorsichtig in Ihren Berichten über die Patriotische Partei zu sein. Wenn Sie schon in meinem Haus ein und aus gehen... Verstehen Sie, man sagt mir so manches nach, was nicht ganz der Wahrheit entspricht. Und um solchen Gerüchten nicht noch mehr Raum zu geben, bitte ich Sie, falls gegen mich irgendetwas in Umlauf sein sollte, mich vorzuwarnen!«

»Ich, ich...«, stotterte Desmoulins und errötete, »selbstverständlich werde ich Ihnen alles, was von mir kommt, zum Lesen vorlegen, wenn Sie wollen, aber Sie wissen doch, die vielen anonymen Flugblattverfasser – darauf habe ich nun gar keinen Einfluss.«

Der Baron warf ihm einen misstrauisch warnenden Blick zu, indem er die letzte Zeile des Artikels wiederholte: »›... all diese Errungenschaften werden sich durchsetzen, wir sind unbesiegbar geworden!‹«

Alle Blicke wandten sich Laura zu, die in einem weißen Spitzenkleid, das sie zart und duftig wie eine Wolke umgab, hinter den beiden erschien, um die Gesellschaft zu Tisch zu bitten. Matt schimmerten im Speisezimmer die Kerzen und das Silber auf der mit künstlichen Blumen geschmückten Tafel. An den Wänden vergnügten sich auf einer gemalten Szenerie Schäfer und Ringelreihen tanzende Mädchen auf einer grünen Wiese, in deren Hintergrund sich ein Wasserschlösschen befand.

Amélie ergriff Richards Hand und suchte seinen Blick, erfüllt von zärtlicher Zufriedenheit und Geborgenheit. Es schien ihr, als müsste die allzu reale Welt dort draußen vor der Tür und den bewachten Umzäunungen des Gutes bleiben. All die kleinen Unstimmigkeiten würden sich im Angesicht ihres Glücks in Luft auflösen – dessen war sie sicher. Das Wichtigste war, dass Richard und sie sich verstanden und bald für immer zusammen waren.

Als man sich schon zu Tisch gesetzt hatte und der Diener zu servieren begann, betrat Mademoiselle Dernier in letzter Minute ein wenig atemlos und hastig den Raum. Mit einer gemurmelten Entschuldigung setzte sie sich sogleich zu Tisch und faltete ihre Serviette auseinander. Die Unterhaltung verstummte. Es war die vertraute Erzieherin, und doch schien sie es nicht zu sein – diese dunkle Schönheit mit aufgesteckten Haaren, in einem silbergrau schimmernden Kleid, an dessen Ausschnitt eine kostbare Brosche funkelte. Madeleine fühlte die Blicke wie Nadelspitzen, und sie wünschte sich plötzlich wieder hinauf in ihr Zimmer, um sich in die graue, unscheinbare Maus zurückzuverwandeln, die niemand beachtete.

Wie unter einem geheimen Zwang stehend, hatte sie sich frisiert, ein wenig geschminkt und das neue Kleid angezogen, das sie selbst geschneidert hatte und dessen Schnitt ihre schlanke, wohl geformte Figur betonte. Den weißen Spitzenkragen, den sie über den tiefen Ausschnitt gelegt hatte, riss sie zuletzt in einer plötzlichen Aufwallung wieder fort. Stattdessen nahm sie die in einer Schublade sorgsam verwahrte Brosche, das umstrittene Geschenk des Barons heraus, und steckte sie an. Die Frau, die sie nun im Spiegel vor sich sah, schien auf geheimnisvolle Art verändert. Sie hatte dieser fremden, eleganten Erscheinung zugelächelt, der die geheime Liebe einen Zauber erotischer Ausstrahlung verlieh. »Einmal...«, hatte sie sich selbst zugeflüstert, berauscht in einem Aufbegehren ihres ganzen Wesens gegen das ewige Geducktsein, Zurücktreten und Sich-in-den-Schatten-Stellen. Eine Art Schwindel hatte sie erfasst, als sie mit klopfendem Herzen die Treppe hinunterschritt, entschlossen, es für dieses eine Mal mit der ganzen Welt aufzunehmen.

Doch in dem Moment, als sie die Tür zum Speisezimmer öffnete, das Murmeln der Stimmen vernahm und die vertraute Gesellschaft um den Tisch versammelt sah, war der Zauber von ihr abgefallen, und sie fühlte sich klein, aufgeputzt im Schein des hellen Kerzenlichts. Umkehren konnte sie nicht, also senkte sie den Kopf und wünschte sich mit heißen Wangen ans Ende der Welt. Es war, als spürte sie das Funkeln der Brosche hinter ihren halb geschlossenen Lidern, die sie kaum wagte über die Tischkante zu erheben. Sie versuchte, sich zu besinnen, warum sie das alles getan hatte, und dieser Gedanke gab ihr den Mut und das Selbstbewusstsein zurück.

Mit diesem Akt der Verzweiflung wollte sie nichts anderes, als endlich eine Erklärung provozieren, denn Laura hatte ihr Bemühen um eine Aussprache in den letzten Wochen rigoros zurückgewiesen und sie nur mit eisiger Ironie behandelt. Madeleine wusste, dass sie so nicht weiterleben konnte. Sie musste wissen, ob sie dieses Geschenk zu Recht erhalten hatte, ob sie es tragen durfte und ob der Baron sie von dem Verdacht, es sei irgendwie anrüchig erworben oder gar gestohlen, freisprechen würde. Sie selbst hatte ein reines Gewissen, denn obwohl sie ihn liebte, hatte sie sich in seinem Hause noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Durfte sie denn nicht leben wie alle anderen, lieben, wen sie wollte, wenn sie niemandem Schaden zufügte? Wenn ihr dieses Geschenk nicht zustand, sie es nicht tragen durfte, wollte sie es auch nicht behalten.

»Mademoiselle Dernier!« Es war Lauras Stimme, die nicht den üblichen gleichmütig sanften Ton hatte, sondern eine Nuance schärfer klang. »Wo ist Isabelle? Sie hatten doch gesagt, sie wollten Sie zum Essen mit herunternehmen.«

Wie aus einem Rausch erwacht, hob Madeleine die Augen und bemerkte Lauras Blick, der mit finster zusammengezogenen Brauen die Brosche streifte. »Ich, ich...«, begann sie hastig, »es war nicht möglich, sie zu überreden, ich habe alles versucht. Sie war äußerst schlecht gelaunt und...«

Laura unterbrach sie: »Es ist Ihre Aufgabe, meine Kinder zu erziehen, und ich habe mich wirklich auf Sie verlassen, Mademoiselle. Stattdessen putzen Sie sich stundenlang heraus, um dann mit einer unangemessenen Verspätung bei Tisch zu erscheinen. Ich werde selbst zu ihr hinaufgehen.«

Alles verstummte, man war überrascht, von der sonst so ausgeglichenen Hausherrin solche Töne zu vernehmen. D’Emprenvil sah seine Frau verwundert an, dann blickte er auf Mademoiselle Dernier, die Tränen in den Augen hatte und deren Lippen zitterten.

Laura erhob sich, maß Madeleine noch einmal von oben bis unten, bevor sie hinausrauschte und dabei mit weithin hörbarer Stimme sagte: »Wie schön für Sie, dass Sie so wertvollen Schmuck besitzen – seltsam... ich habe beinahe das gleiche Stück!«

Madeleine wagte nicht zu antworten, sie zuckte beim Zuschlagen der Tür zusammen und fühlte, wie eine heiße Welle der Verlegenheit sie durchflutete. Die Tränen zurückdrängend, tat sie so, als bücke sie sich nach ihrer Serviette. Als sie aufsah, begegnete sie dem Blick des Barons, in dessen Augen sie eine Mischung aus Bewunderung und Verlegenheit las. Ich gefalle ihm, durchzuckte es sie, und die schüchterne Beklommenheit wich von ihr wie eine unnötige Last. Ihre Schultern strafften sich bei dem aufmunternden Lächeln Amélies, der die Situation peinlich war. Um sich Mut zu machen, nahm sie einen tiefen Schluck des schweren Burgunders, den der Baron ihr einschenken ließ.

Während Vorspeisen und Suppe gereicht wurden, erschienen weder Isabelle noch Laura, und die Unterhaltung kam nur schleppend wieder in Gang. Amélie verwickelte Richard in eine Diskussion über die Gravur der Bestecke, über die sie sich nicht einigen konnten. Der Baron schüttelte schmunzelnd den Kopf; er kannte seine Kleine nicht wieder, die früher hoch und heilig geschworen hatte, sich niemals mit Haushaltsdingen zu befassen.

Als Laura wieder ihren Platz einnahm, wandte Madeleine flüchtig den Kopf in ihre Richtung, doch was sie erblickte, traf sie wie ein Schlag. An Lauras Schulter funkelte die in allen Einzelheiten gleiche Brosche, die sie selbst an ihrem Busen trug.

D’Emprenvil wurde blass; er hasste solche öffentlichen Konfrontationen, die ihm den Abend verdarben und den häuslichen Frieden störten! In seiner Zerstreutheit hatte er gar nicht mehr daran gedacht, dass Laura auch ein solches Stück besaß. Vage erinnerte er sich, dass er damals gleich drei Exemplare davon anfertigen ließ, weil ihm die Arbeit so gefiel, und das letzte davon prangte jetzt am Dekolleté der Gräfin Polignac. Wenn die Sache nicht so ärgerlich wäre und Laura nicht so ein erbittertes Gesicht machte, müsste er jetzt über diese Situationskomik herzlich lachen!

»Ich glaube, Charles, du schuldest mir eine Erklärung!« Laura hob ihr Glas und sah ihren Mann mit einem zweideutigen Lächeln an.

Madeleine fühlte sich einer Ohnmacht nahe, weil ihr mit einem Mal bewusst wurde, dass sie das Schmuckstück wie zu einer Kriegserklärung angelegt hatte. Das war es doch, was sie gewollt hatte! Nun sollte der Baron in aller Öffentlichkeit erklären, warum er ihr die Brosche geschenkt hatte, und sämtliche Missverständnisse damit ausräumen. Vielleicht wäre es besser, hinaufzugehen, das kleine, glitzernde Ding wieder in der Schublade zu verstauen und es dem Baron später mit den Worten zurückzugeben, dass sie seine Frau nicht verärgern wolle? Nein, damit würde sie nur wieder klein beigeben und die schöne Geste der Dankbarkeit verderben. Tausend Gedanken schössen ihr wirr durch den Kopf. Was würde sie tun, wenn Madame d’Emprenvil sie entließe? Dann würde sie in ihrem Eigensinn auf der Straße stehen und all das verlieren, was sie liebte und was ihr wichtig war. Was hatte sie gewagt? Warum hatte sie sich mit der Hausherrin angelegt und sich ein Recht angemaßt, das ihr gar nicht zustand? Sie konnte keinen Bissen mehr hinunterbringen.

Mit einer gemurmelten Entschuldigung stand sie auf und verließ den Raum. Hastig nestelte sie noch im Gehen den Verschluss der Brosche auf und legte sie mit zitternden Fingern in ihrem Zimmer auf die Kommode, ehe sie in ihren Sessel sank und in Tränen ausbrach. Sie wusste nicht, wie lange sie dort saß, doch schließlich fasste sie einen Entschluss, sie tupfte sich das Gesicht ab, legte den Spitzenkragen über ihr Dekolleté und erschien, als sei nichts gewesen, wieder unter der Gesellschaft, die plaudernd bei Tische saß.

Als sie eintrat, spürte sie den forschenden Blick Lauras, der den leeren Platz an ihrem Kleide streifte. Madeleine war sich sicher, dass sie den Schmuck nie mehr in diesem Hause tragen würde. Es war dumm von ihr, das jahrelange harmonische Zusammenleben und das großzügige Einverständnis, das ihr Laura im Allgemeinen entgegenbrachte, zu gefährden. Sie seufzte unhörbar und beugte sich über ihren Teller: Die Grenzen, die sie zu übertreten gewagt hatte, waren ihr wieder einmal gezeigt worden.

Der weitere Abend verlief wie immer in heiterer Gelöstheit und in angeregtem Gespräch, so als wäre nichts gewesen.

Doch als Madeleine sich nach einer Domino-Partie mit Amélie zurückziehen wollte, hörte sie, wie der Baron sie im Flur leise rief. »Mademoiselle, einen Augenblick noch bitte.«

Eine heiße Welle durchpulste ihre Adern, und sie blieb ratlos stehen.

»Aber Madeleine!« Seine Stimme klang schmeichelnd und ein wenig vorwurfsvoll. »Ich sehe, Sie haben den Schmuck, der Ihnen zu Beginn des Abends so vorzüglich zu Gesicht stand, wieder abgelegt.«

»Ich...«, sie suchte nach Worten und schlug die Augen nieder, »der Verschluss war nicht in Ordnung....«

»Mademoiselle Dernier«, ließ sich Lauras Stimme plötzlich hinter dem Rücken des Barons vernehmen, »hat eingesehen, dass es geschmacklos ist, den gleichen Schmuck zu tragen wie die Hausherrin selbst.«

Der Baron drehte sich ganz zu seiner Frau um, und sein nonchalantes Lächeln gefror. »Aber Laura! Von gleich kann doch wirklich keine Rede sein. Diese simple Anordnung blütenförmiger Edelsteine kann man doch nicht mit deinen Smaragden vergleichen! Es gibt viele verschiedene Details, glaube mir...«

»Du bist geschmacklos, mein Lieber«, fiel ihm Laura ins Wort. »Wie kannst du einer Bediensteten das Gleiche schenken wie deiner Frau!«

»Entschuldige«, die Augenbrauen des Barons wölbten sich in Erstaunen, »ich war von deiner Großherzigkeit überzeugt.«

»Die Großherzigkeit hört da auf, wo die Lächerlichkeit beginnt!«, gab Laura mit funkelnden Augen zurück.

Madeleine blickte hilflos von einem zum andern, während sie versuchte, ihrer zitternden Stimme einen festen Klang zu geben. »Madame, ich werde den Schmuck selbstverständlich nicht mehr tragen. Ich möchte ihn in diesem Falle gar nicht behalten.«

»Zum Donnerwetter, das wäre ja noch schöner«, polterte der Baron los. »Ich wünsche ausdrücklich, dass Sie den Schmuck behalten.«

»In diesem Falle verzichte ich auf den meinen!« Damit riss sich Laura mit einem solchen Ruck die Brosche von der Schulter, dass ein Stück der Spitze ihres Kleides daran hängen blieb, und warf sie ihrem Mann vor die Füße.

Für kurze Zeit herrschte eine fast atemlose Stille, dann bückte sich der Baron und steckte den Schmuck gelassen in die Tasche. Nach einem eisigen Blick auf seine Frau kehrte er ihr den Rücken und schlug die Tür zum Salon mit einem hässlichen, lauten Geräusch hinter sich zu. Eine dunkle Röte färbte Lauras porzellanfarbenen Teint, bevor sie Madeleine mit gespielter Gelassenheit stehen ließ.

Madeleine bereute von ganzem Herzen die kleine Revolte ihrer Seele. Zum ersten Mal seit vielen harmonischen Jahren war das Verhältnis zwischen ihr und der Hausherrin, die sie im Grunde ihres Herzens mit allen ihren kleinen Kapricen und Fehlern immer über alles geschätzt hatte, ernsthaft getrübt.

Langsam und mechanisch nahm sie Stufe für Stufe der Treppe. Ein Gedanke jagte den anderen, während sie vor ihrem Schreibtisch saß. Blicklos starrte sie in die Dunkelheit, als ein leises Klopfen sie zusammenzucken ließ. Ihr Herz begann wild zu schlagen, und ihre Ahnung, noch bevor sie die Tür geöffnet hatte, trog nicht.

Mit einem verlegenen Lächeln stand der Baron auf der Schwelle. Er ergriff ihre Hand und drückte einen flüchtigen Kuss darauf. »Madeleine, entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät noch störe – aber nach diesem hässlichen Auftritt fürchte ich, dass Sie die Situation vielleicht falsch verstehen.«

»Wenn Sie die Angelegenheit mit der Brosche meinen – es ist besser, ich händige sie Ihnen gleich aus. Ich habe einen großen Fehler gemacht, das ist mir jetzt völlig klar, es war einfach dumm von mir...« Mit diesen Worten begann sie hastig und ziellos in der Schublade zu wühlen, wo sie das Schmuckstück zwischen Wäschestücken vergraben hatte. »Ich möchte wirklich nichts behalten, was einen anderen Menschen kränken könnte... und vor allem nicht Madame.«

»Nein, nein«, wehrte der Baron mit Entschlossenheit ab, »ich bitte Sie inständig, die Brosche zu behalten. Es war alles in allem mein Fehler, das gebe ich zu, aber ich betone, dass ich Ihnen mit diesem Geschenk nur meine aufrichtige Dankbarkeit und Wertschätzung ausdrücken wollte. Ich hatte einfach vergessen, dass meine Frau ein ähnliches Stück besitzt!« Er machte eine Pause und sah Madeleine beschwörend in die Augen, die den Blick stumm vor diesem magischen blauen Glanz senkte, aus Furcht, sie würde ihn nicht mehr von ihm lösen können. »Seit Sie im Hause sind, Madeleine, ist so vieles anders geworden.« Seine Stimme klang plötzlich weich. »Sie sind der gute Geist, immer ausgleichend, immer heiteren Wesens, und Sie haben ein offenes Ohr und Herz für jeden. Nicht nur meine Kinder schwärmen für Sie...«

Als er eine kleine Pause machte, fühlte Madeleine, wie eine Glutwelle ihr Gesicht überflutete. Solche Worte – aus seinem Mund, mit ihm allein, auf ihrem Zimmer: Wie oft hatte sie von einem solchen Moment geträumt!

Er hob ihr Kinn empor, sodass sie in seine Augen blicken musste. »Sehen Sie mich nicht so traurig an, Madeleine; versprechen Sie mir, den Vorfall zu vergessen. Auf keinen Fall will ich mein Geschenk zurück.« Gehorsam sah sie ihn an, während seine Worte wie ungehört an ihren Ohren vorbeiflossen. »Wie schön Sie im Kerzenschimmer sind!«, sagte er leise. »Ich habe Sie noch nie so gesehen. Sie gleichen der wunderbaren Marienstatue in der Kirche St. Sulpice... Sie ist so schlank und stolz wie Sie... und so tugendhaft.« Sanft nahm er ihr Gesicht in beide Hände und betrachtete es lächelnd. »Sie sollten immer Kerzenschimmer tragen.«

Madeleine, einer Ohnmacht nahe, war wie gebannt von seinem Blick, seinem Lächeln und der nahen Berührung. D’Emprenvil näherte sein Gesicht langsam dem ihren, und sie spürte in einem kurzen Augenblick der Glückseligkeit seinen Mund auf ihren Lippen. Es war nicht mehr als ein sanfter Hauch, eine flüchtige Zärtlichkeit, die sie durchschauerte, bevor er sie losließ und mit einem leichten Augenzwinkern murmelte: »Wenn ich zu weit gegangen bin, dann verzeihen Sie mir – aber Sie waren in diesem Moment einfach zu bezaubernd.« Ohne auf eine Entgegnung Madeleines zu warten, wandte er sich herum und ergriff die Türklinke. Unschlüssig hielt er noch einmal inne und rief ihr über die Schulter zu: »Machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe, ich werde mit meiner Frau reden. Sie hat ihre Impulsivität sicher schon bereut, und ich betrachte den Vorfall als vergessen.«

Die Tür fiel ins Schloss, und Madeleine blieb allein zurück, die Hand auf die Lippen gepresst, auf denen noch der flüchtige Kuss des Barons brannte.

Neue Anordnungen aus Paris drangen bis in die letzten Täler der Provinz. Die Bauern sollten für den Erlass der Feudalabgaben eine Entschädigung zahlen – eine Aufgabe, der sie nicht nachkommen konnten und wollten. Auch die Versteigerung von staatlichem Landbesitz gereichte nur den Großgrundbesitzern zum Vorteil; selbst d’Emprenvil konnte sich nicht enthalten, sich zu beteiligen, und kaufte Grund südlich von Paris.

Es war unmöglich, in diesen schwierigen Zeiten ein großes Fest zu feiern, das würde das Misstrauen der Bauern nur noch mehr anfachen. Also sollte die Hochzeit bald und in kleinem, bescheidenem Rahmen stattfinden.

Währenddessen empörten sich die erneut geprellten Bauern. Es war ein Teufelskreis, dessen Folgen sich wie eine bedrückende Last auf die Gemüter aller legte. Die Verurteilung Armands schien ihn in der Gegend zu einem Märtyrer gemacht zu haben, und die Ausschreitungen nahmen zu. Steine flogen in den Park, man schrie Schimpfworte und rottete sich vor dem Tor zusammen. Die Bewohner Valfleurs hatten trotz der verstärkten Bewachung und unablässigen Aufmerksamkeit des Verwalters Angst; vor allem, wenn der Baron, wie so oft, abwesend war. Doch Rospert war ein Mann, der den kleinen Leuten Respekt einflößte, der mit ihnen reden konnte und sich, wenn es sein musste, rigoros durchsetzte und energisch jeden Aufstand entzweibrach. D’Emprenvil war erleichtert, einen solchen Vertrauensmann zu besitzen, und übertrug dem Verwalter immer größere Verantwortung. Mit allerlei Befugnissen ausgestattet, wuchs dessen Selbstbewusstsein, und er machte sich immer unentbehrlicher.

Nach dem kalten Winter ließen die sanfte Sonne, das Zwitschern der Vögel und das Aufblühen der Natur die Menschen aufatmen. Die Erde roch verheißungsvoll nach frischem Grün, und die milde Luft lockte mit ungewissen Versprechungen und betörte die Sinne. Die Fenster wurden weit geöffnet, man trat hinaus und ließ sich von den Sonnenstrahlen umschmeicheln, die durch die mit noch zarten Blättern bedeckten Bäume fielen und ein filigranes Muster auf den Rasen zeichneten.

Auf dem kiesbestreuten Fußweg knirschten die Schritte des Verwalters, die in ihrem energischen Gang nicht zu verkennen waren. Madeleine wich, aus ihren Träumereien geweckt, vom Fenster zurück; sie verabscheute instinktiv diesen pragmatischen, tatkräftigen Menschen, der sich duckte wie ein Hund unter den Befehlen seines Herrn. In übereifriger Weise hatte er sich damals bei der Ergreifung und Bestrafung Armands hervorgetan. Allerdings war nicht zu übersehen, dass, indem er sich um alles kümmerte, das Gut vorzüglich in Schuss war.

Madeleine nahm ihre Bücher und ging nach unten. Auf der Treppe begegnete ihr Laura in einer duftigen, apfelgrünen Nachmittagsrobe, frisch gepudert und frisiert und Wolken des neuen Duftgemischs ›Fleurs interdites‹ verbreitend, das sie gerade erst aus Paris hatte kommen lassen.

Sie nickte der Gouvernante kühl zu. »Ich wollte mir eigentlich noch Ihren Lehrplan ansehen, Mademoiselle...«, sie machte eine kleine Kunstpause, in der sie sich eine widerspenstige Haarlocke im Nacken feststeckte, »...aber leider gibt es vorher einige dringende Verwaltungsangelegenheiten zu besprechen. Wir werden das auf später verschieben.«

»Ja, natürlich, Madame«, beeilte sich Madeleine zu sagen. Seit jenem Abend fühlte sie sich Madame d’Emprenvil gegenüber beklommen, obwohl diese sich nicht anmerken ließ, ob sie noch immer gekränkt war. Wie in früheren Zeiten begegnete sie der Erzieherin mit freundlicher Reserviertheit; die freundschaftliche Vertrautheit, die sie ihr gegenüber manchmal gezeigt hatte, war jedoch verloren.

Schon war die Baronin leichtfüßig an ihr vorbeigerauscht und in dem kleinen Arbeitszimmer verschwunden, wo der Verwalter sie bereits erwartete. Rospert verbeugte sich mehrmals, wobei seine flinken Äuglein sich bewundernd auf die Erscheinung der Hausherrin hefteten und sie in unverhohlener Neugier von oben bis unten musterte.

»Nun, was gibt es so Dringendes, Monsieur Rospert?«, fragte Laura halb über die Schulter, indem sie eine Obstschale auf der Kommode zurechtrückte.

»Es ist mir fast unangenehm...« Rospert räusperte sich und kam etwas näher. »Aber ich muss Frau Baronin darauf aufmerksam machen, dass sich Ihre und Ihres Gatten Freigebigkeit herumgesprochen hat und täglich immer mehr Bettler vor dem Tor auftauchen. Unsere Vorräte werden allmählich aufgezehrt, und die Sicherheit ist gefährdet. Ich persönlich halte es für ratsam, diese gewiss lobenswerte, aber doch kostspielige mildtätige Einrichtung einzuschränken, wenn nicht gar aufzuheben.«

Laura zog ihren Schal über das Dekolletee, irritiert von den gierigen Blicken des vor ihr Stehenden. »Ja, ja, gewiss, wenn es zu viel wird, sollte man Einschränkungen machen.«

Sie fühlte, wie Ärger in ihr hochstieg: Musste dieser Mensch dauernd ihr Einverständnis zu allen möglichen Dingen einholen? Täglich fand er etwas Neues mit ihr zu besprechen, während seine Augen eine andere Sprache redeten und an ihr hafteten wie Saugnäpfe. Dennoch versuchte sie, sich zur Gelassenheit zu zwingen, denn sie verdankte seiner Tüchtigkeit immerhin den reibungslosen Ablauf des Alltags auf dem Gut und die Erledigung all jener lästigen Dinge, um die sich eigentlich ihr Mann kümmern sollte. Rospert war ihr jetzt so nahe gekommen, dass sie unwillkürlich zurückwich, bis sie an ihren Schreibtisch stieß. Was war nur plötzlich in ihn gefahren? Laura fühlte sich abgestoßen von dem Geruch körperlicher Tätigkeit, den er ausströmte und der sich mit einer penetranten Wolke seines Rasierwassers vermischte.

Ihr Blick fiel auf seine nackten, kräftigen Arme und die prankenhafte Hand, die ihr ein Schriftstück entgegenhielt, das eine Aufstellung der zu erledigenden Wartungs- und Reparaturarbeiten enthielt. »Warum haben Sie das alles nicht meinem Mann gezeigt?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

»Der Herr Baron hat angeordnet, ich solle alles mit Ihnen besprechen, Sie wüssten doch am besten Bescheid.« Rospert sah sie mit einem herausfordernden Lächeln an, das seine erstaunlich weißen und gesunden Zähne entblößte.

»Das sieht Charles ähnlich«, murmelte Laura mit einem ärgerlichen Seufzer. Sie griff nach dem Schriftstück und drehte sich mit einer geschickten Ausweichbewegung zum Fenster, wobei sie den Arm des Verwalters streifte. »Gut, Sie können gehen, Rospert, ich werde es mir in Ruhe ansehen«, sagte sie, ohne sich umzuwenden.

»Ich bitte Frau Baronin, es jetzt gleich durchzusehen, es ist sehr schwer, in diesen Zeiten gute Handwerker zu bekommen. Ich warte gern.«

Der Verwalter stand plötzlich ganz dicht hinter ihrem Rücken, und es war ihr, als spüre sie seinen heißen Atem in ihrem Nacken. Erbost über die Aufdringlichkeit dieses Menschen, der sich einfach nicht abwimmeln ließ, glitt ihr das Schriftstück aus der Hand. Beim Versuch, es zu erhaschen, stolperte sie über ihren Rocksaum. Blitzschnell fing der Mann sie auf. Doch statt sie gleich wieder loszulassen, fand sich Laura an seiner rötlich behaarten Brust wieder, die das offene Hemd freigab.

Heftig stieß sie den Aufdringlichen von sich. »Was fällt Ihnen ein, sind Sie wahnsinnig geworden?«

»Ich bitte Madame um Entschuldigung, aber ich wollte Sie nur vor einem Sturz bewahren.«

Heuchlerisch schlug er die Augen nieder, doch als er wieder aufsah, erschrak Laura vor seinem Blick, in dem unverhüllte Begierde stand. »Ich sagte doch, Sie können jetzt gehen. Ich lasse Ihnen dieses Papier in einer halben Stunde zukommen.«

Kaum hatte Rospert sich mit einem Diener entfernt, ließ sie sich in einen Sessel fallen. Was nahm dieser freche Kerl sich ihr gegenüber heraus? Es war ihr nicht unbemerkt geblieben, dass er ihr in letzter Zeit häufig über den Weg lief, wenn sie sich draußen bewegte; auch sah sie ihn oft mit irgendwelchen Dingen in der Nähe des Gartenpavillons beschäftigt. Sicher hatte er gesehen, wie sie mit Desmoulins dort arbeitete, und sie vielleicht belauscht! Dieser Gedanke trieb ihr das Blut in die Wangen. Ihr erster Gedanke war, ihn zu entlassen. Aber wie einen Ersatz für ihn finden? Er leitete das Gut hervorragend, sorgte für Sicherheit und Ordnung, dachte an alles, stellte sich nicht übel mit den Leuten, obwohl er sie streng behandelte; kurzum, er nahm Charles alle Arbeit ab und damit auch ihr. Wie sollte sie ihrem Mann, der Rospert für unentbehrlich hielt und ihn auch auf seinen Jagdausflügen schätzte, eine solche Entscheidung erklären?

Sie seufzte und blätterte in der Aufstellung mit den Reparaturen, die eine Formsache war und worüber er leicht selbst hätte entscheiden können. Es war offensichtlich, dass er sie wegen jeder Nichtigkeit belästigte. Jedenfalls würde sie dem unangenehmen Menschen so gut es ging in Zukunft aus dem Wege gehen.

Im Zimmer war es dämmrig geworden; draußen lag der schon sommerlich ergrünte Rasen wie ein vom Tau glitzernder Teppich vor dem Haus. Laura fröstelte und freute sich auf das wärmende Kaminfeuer, das in ihrem kleinen Kabinett bereits brennen würde.

In seiner verhängten Kutsche, auf der er, um in der Stadt unerkannt zu bleiben, sein Wappen hatte entfernen lassen, rollte d’Emprenvil in schnellem Tempo am Hôtel de Ville vorbei durch die engen Straßen des Faubourg St. Antoine.

Der Baron dachte daran, sein kleines Liebesnest aufzugeben, es wurde zu gefährlich für ihn, sich im Bereich der Bastille aufzuhalten – einem Viertel, in dem es zahllose Aufstände gab. Nicht nur, dass man ihn in den zahlreichen handgeschriebenen Flugblättern des Verrats am Volk und des geheimen Einverständnisses mit der Hofpartei verdächtigte, sogar seine Beziehung zur Gräfin Polignac, der speziellen Vertrauten der Königin, geißelte man darin. Beim letzten Treffen hatte ihm Yolande ängstlich von den Vorwürfen ihres Mannes berichtet, dem die Gerüchte dieser Beziehung zu Ohren gekommen waren.

Durch die Gunst seiner Frau bei Marie Antoinette hatte sich der verschuldete Edelmann und notorische Trinker in einen sich plötzlich wichtig machenden Hofmann verwandelt und entsann sich mit einem Mal wieder Yolandes, der er mit besitzergreifender Eifersucht begegnete.

D’Emprenvil machte dem Kutscher ein Zeichen und sprang auf die Straße, mechanisch nach dem Schlüssel der Wohnung suchend, den er seit einiger Zeit nicht mehr bei der Concierge deponierte. Er wusste, dass es besser wäre, die Affäre mit der kleinen Gräfin, die ihm noch Scherereien einbringen würde, so bald wie möglich zu beenden. Wer hatte denn wissen können, dass die Königin so plötzlich einen Narren an einer unbekannten, verarmten Gräfin fressen, sie zu ihrer Freundin machen würde und sogar in den Stand einer Herzogin erheben wollte? Doch Yolande war eine so auffallende Schönheit, voller Liebreiz und Grazie, dass es in seinen Augen kein Wunder war, wenn sie, wo auch immer sie hinkam, ihre Umgebung bezauberte. Inzwischen klatschte ganz Paris darüber, dass die Königin ihre Schulden und die ihres Mannes bezahlte und sie im Kreis ihrer Hofdamen bevorzugte.

Nachdenklich stieg er die Stufen in dem engen Treppenhaus hinauf, in dem es modrig nach feuchtem Mauerwerk roch. Wie sollte er es Yolande beibringen, dass sie sich in nächster Zeit besser nicht mehr trafen? Was ihn anging, so war sein Feuer für sie schon vor einiger Zeit erloschen – die ewigen Wiederholungen des gleichen Rituals begannen ihn zu langweilen, ihre Klagen und Forderungen nach kostspieligen Geschenken seine finanziellen Mittel zu erschöpfen. Doch sie hing an ihm, sie liebte ihn und krallte sich fest wie eine Klette. Das war es aber gerade, was ihn abstieß; zeit seines Lebens hatte er nichts mehr als seine Freiheit geliebt.

Die Tür stand offen; er hielt inne und sah sich nach allen Seiten um, bevor er zögernd eintrat. Ein wilder, erstickter Schrei ließ ihn zurückfahren. Die Geliebte wand sich mit aufgelösten Haaren in den Armen ihres Ehemanns, der sie zurückhielt und versuchte, ihr den Mund zuzuhalten.

»Charles, sieh dich vor...« Sie riss sich los und stürzte an seine Brust.

Jules des Polignac schwankte und richtete seine Pistole auf den Baron. An seinen ins Violette schimmernden, gedunsenen Wangen und den glasigen Augen war unschwer zu erkennen, dass er völlig betrunken war. »Ah, habe ich euch erwischt«, brüllte er. »Ihr macht mich zum Gespött des ganzen Hofes! Der saubere Baron d’Emprenvil, Revolutionär oder Magistrat... oder beides zusammen? – mit meiner entzückenden Gattin, der falschen Schlange und Busenfreundin der Königin. Das passt ja wunderbar – ein Skandal, wie er im Buche steht! Aber zum Hahnrei bin ich nicht geboren. Ich verlange Genugtuung!«

D’Emprenvil, blass geworden, wich einen Schritt zurück; seine Ahnungen hatten ihn nicht getrogen. Vorsichtig löste er Yolandes Arme von seinem Hals. »Geh beiseite, Kleines«, flüsterte er ihr leise ins Ohr, »dieser Wahnsinnige ist zu allem fähig, in dem Zustand, in dem er sich befindet.«

Die junge Frau flüchtete sich in eine dunkle Ecke des Zimmers.

»Mein lieber Polignac«, sagte d’Emprenvil mit ruhiger Stimme, »ich verstehe, was Sie denken. Aber das alles ist sozusagen ein Missverständnis... ein dummer Zufall. Sie werden sich Ihre Protektion bei Hof verscherzen... Wie ich hörte, sollen Sie bald zum Herzog ernannt werden...«

»Vorläufig schimpft man mich einen Trottel und Hahnrei und das kann ich nicht auf mir sitzen lassen! Sie werden mir Genugtuung geben«, brüllte der Betrunkene und machte einen schwankenden Schritt auf den Baron zu, den Finger am Abzug, »wenn ich Sie nicht wie einen Hund niederknalle.«

D’Emprenvil spürte, dass der Graf sich in einen solchen Jähzorn hineinsteigerte, dass er fähig war, einen Mord zu begehen. Vorsichtig tastete er nach seiner eigenen Waffe, die im Gürtel steckte. Er war ein guter Schütze, doch er wollte es nicht zum Äußersten kommen lassen. Aber irgendwie musste er den Aufgebrachten doch zur Vernunft bringen! Gerade als er zu neuen Erklärungen ansetzen wollte, warf Yolande sich auf ihren Mann, packte seinen Arm mit der Pistole und versuchte, ihn festzuhalten und von dem Geliebten abzuwenden.

»Tu ihm nichts, ich bitte dich!«, flehte sie, »es ist alles meine Schuld – und wenn du willst, werde ich ihn nie mehr wiedersehen...«

D’Emprenvil nutzte die Gelegenheit, um seine eigene Waffe zu ziehen, während die des Grafen Polignac unter dem Gerangel mit seiner Frau zu Boden fiel. Er bückte sich schnell, um sie aufzuheben. Dann sagte er zu dem Kontrahenten, der um sein Gleichgewicht rang: »Verschwinden Sie, aber schnell! Und nehmen Sie Ihre Frau besser mit. Wir wollten uns ohnehin trennen. Ich hoffe, wir werden uns nicht wieder begegnen und diese Zusammenkunft so schnell wie möglich vergessen!«

Die Gräfin sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Charles! Was sagst du da? Und für dich hätte ich mein Leben gegeben!«

»Yolande, es ist besser so, du siehst ja, was daraus werden könnte!«

Der Graf erhob sich schwankend und starrte seine schluchzende Frau an. »Hure!«, brüllte er. Dann versetzte er ihr einen brutalen Stoß, sodass sie zu Boden fiel, und stürzte sich auf seinen Widersacher. In seiner Hand blinkte ein Messer, mit dem er in seiner Trunkenheit blindlings mehrmals zustieß.

D’Emprenvil versuchte, den Stößen auszuweichen, doch fühlte er einen scharfen Schmerz in der Seite und einen weiteren im Arm. Als er sich schließlich nicht anders zu helfen wusste, gab er einen Schuss ab. Der Graf, in der Schulter getroffen, kippte zur Seite.

Yolande erhob sich und beugte sich, starr vor Schreck, über ihren Mann. »Er ist tot!«, flüsterte sie.

Der Baron stieß einen Fluch aus. Er biss die Zähne zusammen und wickelte sich sein Taschentuch um den Arm, von dem das Blut hinabtropfte. »Unsinn«, presste er hervor, »ich habe ihn nur an der Schulter getroffen.« Unten im Flur wurden Stimmen laut. »Ich muss hier verschwinden. Es wird einen Skandal geben, wenn man uns in dieser Situation zusammen antrifft! Bleib du bei ihm.«

Der Graf stöhnte und versuchte, sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aufzurichten. »Zum Teufel auch! Er hat mich erwischt!«, fluchte er und fiel schwer zurück.

D’Emprenvil warf Yolande einen aufmunternden Blick zu und stürmte die enge Treppe hinab. Doch es war zu spät, die Concierge sah ihm aufgeschreckt entgegen, hinter ihr zwei Wachleute, kräftige, bullige Männer. Angelockt durch den Tumult und den Schuss hatte sich schon eine Gruppe Neugieriger vor dem Haus versammelt; der Kutscher wartete ahnungslos wie gewohnt an einem anderen unauffälligeren Platz in der Nähe, und d’Emprenvil sah nicht die geringste Möglichkeit mehr, ungesehen zu entkommen. Er senkte den Kopf: Dieser Skandal war das Letzte, was er in seiner jetzigen Situation brauchen konnte!

Zum Glück waren beide Kontrahenten nur leicht verletzt, aber das Maß war voll: Hatte der König d’Emprenvil vor wenigen Wochen erst in der Hoffnung begnadigt, er werde als Amtsträger in Zukunft kein Aufsehen mehr erregen, so machte dieser sogleich wieder durch persönliche Skandalgeschichten von sich reden, in die sogar die Königin mit hineingezogen wurde. Man musste einen Punkt setzen und den renitenten Staatsbeamten, der die Öffentlichkeit so unangenehm auf sich aufmerksam machte, ein für alle Mal in seine Schranken weisen. Seine aufgehobene Verbannung nach St. Marguerite trat wieder in Kraft, er musste unverzüglich die Strafe antreten.

Der Graf von Polignac dagegen, von Anfang an untragbar für den Hof, wurde auf sein Schloss in die Provinz verbannt; man erließ ihm alle Schulden, und die Königin setzte es durch, dass man ihm die Herzogswürde in Aussicht stellte, damit er endlich Ruhe gab und sich nie mehr am Hof blicken ließ.

Notdürftig verarztet, saß d’Emprenvil in der Kutsche. Er befand sich in einer unangenehmen Lage. Wie sollte er Laura seine neuerliche Verbannung und diese unangenehme, ja völlig überflüssige Geschichte mit der Polignac erklären? All seine Pläne schienen sich durch diese dumme Affäre in Rauch aufgelöst zu haben. Was würde in einem endlos langen Jahr sein? Die Generalversammlung, Amélies Hochzeit, Isabelles Zukunft, Laura – er war gezwungen, alles hinter sich und seine Frau mit der Last der ganzen Verantwortung allein zu lassen.

Er war am Ende! Seine Schläfen pochten, und er rief dem Kutscher zu, die Pferde anzutreiben. Wenn er nur erst zu Hause wäre und Lauras kühle Hand auf der Stirn fühlte! Sie würde alles verstehen und auf ihn warten, dessen war er sich sicher. Aber was sollte er nur sagen, mit welchen Worten ihr begreiflich machen, dass er sich mit dem Ehemann seiner Geliebten duelliert hatte? Er legte sich eine Version zurecht, in der dieser Dummkopf von Trunkenbold ihn in falscher Eifersucht angegriffen habe, als er sich im Marais zur Versammlung der Patrioten begeben wollte. Das Ganze war nur geschehen, weil böse Zungen ihn verleumdet und angeschwärzt hatten! Irgendetwas Ähnliches würde ihm gewiss einfallen.

Der Kutscher bog in die Allee ein und hielt vor den Ställen. D’Emprenvil ging die letzten Meter zum Schloss zu Fuß, um seine Gedanken zu ordnen. Das mächtige Gebäude lag weiß und prächtig mit seinen kleinen Giebeln und Vorsprüngen, steinernen Figuren und Fassadenziselierungen im Mondlicht. Wie verlockend und unwirklich es ihm vorkam, jetzt, da er es für längere Zeit verlassen sollte. Sein Arm schmerzte, und er sehnte sich nach Ruhe. Mit Bitterkeit im Herzen betrat er die vertrauten Räume, hinter deren Türen Stimmen und Lachen erklangen. Sicher hatte Laura Gäste geladen und wusste noch nichts von seinem Missgeschick.

Alles, wofür er gekämpft hatte, schien ihm nun verloren. Wie stolz war er auf seine Wahl zum Deputierten der Generalstände gewesen, doch niemand zählte im Augenblick mehr auf ihn. Eine Tür ging auf, und seine Frau stand im Rahmen, in weiches Kerzenlicht getaucht. Noch nie war sie ihm so schön erschienen wie jetzt in dem fliederfarbenen Seidenkleid mit cremefarbenen Spitzen, ihr Haar im Nacken nur locker mit einem diamantenbesetzten Kamm zusammengefasst.

Erstaunt und mit einem erfreuten Lächeln blickte sie ihn an. »Charles! Du bist schon zurück?« Als sie seinen verbundenen Arm bemerkte, den er in einer Schlinge trug, stieß sie einen leisen Schrei aus: »O Gott, was ist passiert? Du bist ja verletzt!«

»Es ist nichts, nur eine oberflächliche Wunde.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, doch dann schwieg er und sah sie nur an, bewundernd und sehnsüchtig. Er fragte sich, warum eine Unruhe, eine Art Jagdtrieb, ihn immer wieder dazu zwang, andere Frauen zu erobern, obschon es eine einzige gab, die er wirklich liebte, die für ihn doch immer die Schönste blieb. »Wie wunderbar du aussiehst!«, sagte er leise und strich ihr zärtlich übers Haar.

Sie schloss die Tür hinter sich und schüttelte den Kopf. »Bist du nur gekommen, um mir das zu sagen? Ich kenne dich, mein Lieber, wenn du sentimental wirst, dann hast du etwas angestellt, ich spüre es! Du musst es mir sagen! Ein Duell, habe ich recht?«

Ihr Ton hatte eine mütterliche Färbung angenommen, und der Baron senkte den Kopf. »Ich muss fort«, sagte er müde, »erspare mir die Einzelheiten, es ist eine so dumme Geschichte, die du noch früh genug erfahren wirst. Aber ich bitte dich nur, nicht alles zu glauben, was man erzählen wird. Der König hat mich nun endgültig verbannt. Ein Jahr, wie vordem, nur dass ich die Strafe jetzt antreten muss. Meine Gnadenfrist reicht bis morgen früh. Bis dahin muss ich das Land verlassen haben.«

Laura wich entsetzt zurück: »Bitte sag, dass es nicht wahr ist, Charles! Du wirst mich doch hier nicht mit allem allein lassen! Das ist hoffentlich nicht dein Ernst! Amélies Hochzeit, Isabelle... das Gut!«

»Du hast Rospert«, warf der Baron hastig ein, »er wird alles tun, was nötig ist. Zu ihm kannst du wirklich Vertrauen haben! Ich kenne ihn, er würde sich die Hand für mich abhacken lassen!«

Laura machte eine unwillige Bewegung. »Nicht ihn, nicht Rospert... ich... du irrst dich. Er ist...«

Der Baron unterbrach sie lächelnd. »Du wirst sehen, es wird alles gut. Wir können es nicht mehr ändern. Die Zeit wird bald um sein, und dann bin ich wieder bei dir. Ich bitte dich, keinem etwas zu erzählen, du weißt, wie ich Abschiedsszenen hasse! Lass meine Sachen packen... es wird niemandem auffallen, dass ich fort bin.« Der Scherz blieb ihm im Halse stecken, und Tränen traten ihm in die Augen. Er umarmte Laura und küsste sie.

Verzweifelt presste sie ihn an sich, als wollte sie ihn festhalten. »Aber du kannst doch nicht so einfach... einfach weggehen!«

»Ich gebe dir Nachricht, sobald ich kann.« Er befreite sich aus ihrer Umarmung und lächelte ihr zu, den Schmerz unterdrückend, der von seinem verletzten Arm bis in seine Schulter strahlte.

»Du brauchst einen neuen Verband!«, rief Laura aus. »Komm, so viel Zeit hast du, dass du dich für ein paar Minuten ausruhen kannst!« Sie schob ihn energisch in das nahe gelegene Arbeitskabinett, in dem ein kleines Kanapee stand, und der Baron ließ sich mit einem Seufzer auf die Polster fallen.

Mit zugeschnürter Kehle sah sie auf ihn hinab und schluckte die Tränen hinunter. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn liebte, was auch immer geschehen war, und wie sehr er ihr jetzt schon fehlte, noch bevor er gegangen war.

Amélie - Gesamtausgabe

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