Читать книгу Amélie - Gesamtausgabe - Nora Berger - Страница 18

11 Durchwachte Nächte

Оглавление

Ein stürmischer Wind erhob sich und fegte die letzten Blätter von den Bäumen, während im Tal dichte Nebel aufzogen. Eine feuchte Kälte kroch in die letzten Winkel des Hauses, und man zündete alle Kamine an. Im Schloss herrschte eine unheilschwere Ruhe. Die Bewohner gingen auf Zehenspitzen und wie vor einer unbekannten Gefahr geduckt durchs Haus. Christophs Befinden hatte sich weiter verschlechtert, und sein Fieber war gestiegen. Der Arzt hatte ihm Brech- und Abführmittel gegeben, um die Gifte des Körpers hinauszuspülen. Er sprach von einer Überreaktion des Kleinen auf die vielen Pusteln an seinem Körper, die sich langsam zurückbildeten. Laura versuchte, als sie das Kind so hilflos in Fieberfantasien daliegen sah, der aufsteigenden Panik ihres Herzens und des Pochens in ihren Schläfen Herr zu werden, indem sie dem Kleinen die Hand hielt, ihm die schweißnasse Stirn trocknete und hin und wieder die Wickel wechselte, die seine kleinen Beinchen kühlten.

Als das Kind endlich in einen unruhigen Schlummer gesunken war, ging sie hinunter und öffnete den Schrank im Esszimmer, in dem die Dessertweine und Liköre aufbewahrt wurden. Wahllos nahm sie eine Flasche, und ohne sich die Mühe zu machen, ein Glas zu nehmen, setzte sie sie an die Lippen. Die scharfe Flüssigkeit rann durch ihre Kehle, und sie war nahe daran, sie sofort wieder auszuspucken. Der alte Armagnac hatte einen seifigen Geschmack, und sie schluckte und hustete. Als sie wieder zu Atem kam, fühlte sie eine angenehme Wärme ihren Körper durchströmen. Ein leichter Schwindel erfasste sie gleichzeitig mit einem Wohlgefühl, das ihre Angst betäubte und ihr neue Kraft zu geben schien. Sie nahm noch einen kräftigen Schluck und stellte die Flasche dann zurück. Auf dem Weg nach oben blickte sie mechanisch wie jedes Mal, wenn sie dort vorbeiging, in den großen Flurspiegel, der diesmal das Bild einer Fremden reflektierte, bleich und zerzaust, die Augen tief in den Höhlen, eine Frau, die noch immer schön, aber vorzeitig gealtert schien. Sie straffte die Schultern, vom Alkohol in eine merkwürdige Gleichgültigkeit gehüllt, und fand den Kleinen so vor, wie sie ihn verlassen hatte, heftig atmend, aber schlafend. Neue, trügerische Zuversicht erfüllte sie, und sie neigte sich über ihn, um ihre Wange sanft gegen die seine zu legen.

Nachdem noch keine Besserung des Krankheitsverlaufs eingetreten war, vereinte erst der Abend die Familie im Speisezimmer, und man sprach nur das Nötigste, das sich auf die Mahlzeit bezog.

Amélie wagte kaum aufzublicken, während de Montalembert ihr ganz unbefangen gegenübersaß. Wie konnte sie nur die übereilte und ungeplante Verlobung rückgängig machen, sie als dummen Streich darstellen? Es war ihr den ganzen Tag nicht möglich gewesen, sich bei dem Grafen zu entschuldigen und mit ihm zu reden, denn ihr frischgebackener Verlobter schien wie vom Erdboden verschluckt. Aber nun wirkte er heiter, trank ihr diskret zu und beeindruckte sie durch seine liebevolle Höflichkeit und die Nonchalance, mit der er seine Rolle spielte. Er tat so, als wäre es nicht sie, die das Ganze ausgeheckt hätte, sondern als sei es seine Idee und ganz selbstverständlich, dass sie beide demnächst heirateten! Sie spürte, dass er sie mit ihren eigenen Waffen schlug, und fühlte sich in ihrem eigenen Netz gefangen. Wollte sie ihn denn wirklich? Sie dachte jetzt unablässig an ihn und musste zugeben, dass er ihr mehr gefiel, als sie sich eingestand. Armand war in weite Ferne gerückt, in einen grauen Nebel des Vergessens; so als hätte es ihn nie gegeben. Doch wollte sie wirklich, kaum dass ihr Leben begonnen hatte, in der Sackgasse einer Ehe landen, an der Seite eines Mannes, den sie kaum kannte?

Unsanft schreckte sie aus ihren Gedanken auf, als Laura sie bat: »Amélie, sei ein liebes Mädchen, egal, wie sehr Isabelle dich geärgert hat, du solltest ihr verzeihen und ihr etwas zum Essen hinaufbringen.«

Amélie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch ein ironischer Blick de Montalemberts, der sie zu durchschauen schien, ließ sie verstummen. Mit gesenktem Kopf nahm sie den angerichteten Teller und verließ das Zimmer, um ihn dann im Flur achtlos auf eine Konsole zu stellen. Sie wusste, Isabelle würde ihn ihr an den Kopf werfen, wenn sie sich sehen ließe. Ratlos machte sie ein paar ziellose Schritte über den Gang, ohne sich entschließen zu können hinaufzugehen. Es war kälter geworden, und vor dem Fenster fielen dichte Flocken vom Himmel. In dem eher milden Klima der Region kam es selten vor, dass es einmal schneite, und Amélie fühlte sich gerührt wie ein Kind vor diesem Wunder der Natur. Sie bekam Lust, ihre Hände hinauszustrecken und das Schmelzen der Schneeflocken auf der Haut zu spüren. Als sie das Fenster öffnete, trieb der eisige Wind ihr mit einer heftigen Bö die kalte Pracht ins Gesicht. Mit tiefen Atemzügen sog sie die kalte, reine Winterluft in ihre Lungen. Ihr war, als könnte sie damit ihren Kopf von den wirren Ereignissen und der Frage, wie alles wieder in Ordnung zu bringen sei, befreien.

Unter den dahinjagenden Wolken, die hin und wieder das Mondlicht durchschimmern ließen, sah sie plötzlich eine Gestalt, die aus dem Schatten der Birke trat. Erschrocken wollte sie das Fenster zuschlagen, doch der hereinwehende , Vorhang verhedderte sich in den Scharnieren. Als der Fremde ihr ein Zeichen machte, fühlte Amélie ihr Herz einen Takt aussetzen. In dem Moment erkannte sie Armand, in einen weiten, grauen Mantel gehüllt. Flink kletterte er jetzt am Vorsprung der Fassade empor und zog sich auf das Fenstersims.

Amélie wich zurück und fuhr ihn an: »Was willst du? Bist du verrückt?«

Armand sah sie mit einem Blick an, der sie erschauern ließ. Seine Züge schienen bleich und von der Kälte seltsam verzerrt, er wirkte traurig. »Pssst!« Er legte einen Finger an die Lippen. »Ich muss mit dir reden! Gib mir eine Chance, um dir alles zu erklären!«

»Nein« – Amélie trat einen Schritt in den Gang zurück –, »verschwinde, wenn dich jemand hier sieht, bist du verloren! Papa ist unendlich wütend auf dich! Er wird dich umbringen, wenn er dich hier findet!«

»Das ist mir egal. Ich will nicht, dass du etwas Falsches von mir denkst! Komm, nur ein paar Minuten sollst du mir schenken!« Mit flehender Gebärde sah er sie an.

Amélie blieb unschlüssig am Fenster stehen. Er sah aus wie ein trauriger, orientalischer Prinz mit seinen schwarzen Locken und den ebenmäßigen Zügen, ein Mann wie aus den Märchenbüchern und ihren kühnsten Träumen entsprungen. Zärtlichkeit überflutete sie, und sie hätte am liebsten die Hand mit einer verzeihenden Geste nach ihm ausgestreckt. Das Geräusch einer sich öffnenden Tür schreckte sie hoch. »Gut, warte auf mich«, flüsterte sie leise und schloss hastig das Fenster. Einige Minuten später stand sie, einen weiten Schal flüchtig um die Schultern geworfen, an der Eingangstür und huschte in die Nacht hinaus. »Armand«, flüsterte sie, »Armand, wo bist du?« Niemand antwortete, und so ging sie durch den pfeifenden Wind über die Terrasse bis zum Fenster, und dann zu den Büschen, hinter denen er so plötzlich aufgetaucht war. Sie wartete noch eine Weile, drehte sich enttäuscht im Kreise, als sie plötzlich zwei starke Arme von hinten umschlangen und Armand sie fest an sich presste.

»Danach habe ich mich die ganze Zeit gesehnt, meine süße Amélie...«

Die schmeichelnden Worte, der Ton, seine Berührung, alles das durchrann sie wie Feuer. Einen Augenblick legte sie den Kopf zurück, das sinnliche Lächeln ihrer früheren Träume auf den Lippen, und Armand presste leidenschaftlich seinen Mund auf ihren Hals.

Wie aus einem bösen Traum erwacht, riss sie sich heftig los. »Fass mich nicht an. Es ist vorbei. Ich will dich nicht mehr sehen. Du hast Isabelle das Gleiche erzählt wie mir, sie genauso geküsst und ihr den Kopf verdreht...«

»Amélie« – seine Stimme hatte den weichen, verführerischen Ton, der sie noch vor wenigen Tagen betört hatte –, »Amélie, nur du bist es, die ich liebe. Isabelle ist doch nur ein kleines Mädchen, sie lief mir nach... aber ich habe es nicht ernst gemeint, es war nur ein Spiel.«

Wieder wollte er sie an sich ziehen, doch sie stieß ihn energisch zurück. Sie wusste, wie sie ihn aus der Reserve locken konnte. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich noch weiter mit einem einfachen Gärtnerburschen wie dir einlasse?« Hochmütig warf sie den Kopf zurück, und ihre Augen funkelten herausfordernd.

Armand wich wie unter einer Ohrfeige zurück, und seine Züge verzerrten sich. »Ah, so ist das! Ich bin dir wohl nicht gut genug! Dann bleib doch bei deinem Grafen, mit dem du so plötzlich verlobt bist. Aber sei gerecht, sag wenigstens deinem Vater, dass ich keine Schuld habe, ich bitte dich! Ich wollte doch nichts von Isabelle! Ich habe ihr nichts getan! Sag es ihm!« Seine Stimme wurde härter, drängender. »Ich will hier bleiben und nicht fortgejagt werden wie ein Hund.«

Amélie sah ihn gebannt an, beobachtete das Mienenspiel in seinen Zügen; seine blauen Augen, in denen sich bei Tag das Sonnenlicht spiegelte, schienen ihr plötzlich finster und falsch. Sie schreckte vor diesem fremden Gesicht zurück und schlug fröstelnd den Schal enger um die Schultern. »Geh! Ich kann nichts für dich tun. Lass Isabelle in Frieden, das rate ich dir! Und sonst, adieu, ich wünsche dir trotzdem viel Glück!«

»Du kannst nichts für mich tun?«, sagte er höhnisch. »Du dumme Gans, nicht einmal einen einzigen Gefallen... Aber ich habe bekommen, was ich von dir wollte – außerdem langweiltest du mich auf die Dauer, du und auch deine Schwester. Ihr Aristokratenpack, ihr meint, ihr seid etwas Besseres – eines Tages werdet ihr alle einen Kopf kürzer sein. Ihr habt es nicht anders verdient, das schwöre ich dir, im Namen der Revolution!« Seine Stimme, rau und gewöhnlich geworden, hatte wie in einem Sturzbach diese hässlichen Worte hinausgeschleudert, doch jetzt stockte er, denn Amélie war vor ihm zurückgewichen wie vor einer gefährlichen Bestie. Er hob die Hand, als wollte er sie schlagen, doch dann verschwand er mit einem Satz im Schatten der Nacht.

Ein Windstoß wehte Amélies Umhang auseinander, und der feine Schneestaub drang in ihren Kragen. Furcht ergriff sie, so allein dort unten zwischen den schattenhaften Bäumen zu stehen, verlassen und gedemütigt. Hastig wandte sie sich um, als ein leises Geräusch hinter ihr sie zusammenzucken ließ. Die Haustür hatte sich weit geöffnet, und sie sah die Umrisse de Montalemberts im gelben Licht der flackernden Kerzen.

Ärger wallte in ihr auf, während sie so tat, als beobachtete sie den Himmel. Musste er sich wirklich in alles einmischen, überall da auftauchen, wo er nicht erwünscht war? Was hatte er gehört, wie viel hatte er mitbekommen? Mit verschlossener Miene ging sie an ihm vorüber. »Mir war so heiß, ich wollte nur ein wenig Luft schnappen, und es schneite so schön, da konnte ich nicht widerstehen hinauszugehen«, sagte sie, als müsste sie sich rechtfertigen.

De Montalembert zuckte die Schultern. »Und ich sah die Tür offen stehen... aber Sie sind ja halb erfroren!« Ganz heiter und unbefangen nahm er ihre vor Kälte erstarrten Hände und rieb sie in den seinen.

Bildete sie es sich nur ein oder sah sie in seinen Augen ein spöttisches Licht glimmen? »Hören Sie, Monsieur«, sagte sie, »ich glaube, ich muss Ihnen etwas sagen.« Weiter, dachte sie bei sich, um sich Mut zu machen, das ist die Chance, alles ins Reine zu bringen. »Ich...«, sie zögerte unter seinem amüsierten Blick, mit dem er ihr in die Augen sah.

»Ja, ich höre«, sagte er mit einem lässigen Augenzwinkern, das sie verlegen machte.

Sie fühlte sich plötzlich hilflos. Was sollte sie schon sagen, wie alles erklären? »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber...« Sie schwankte ein wenig und lehnte sich an seinen Arm, ehe sie fortfuhr: »Sie werden mich für verrückt halten. Diese Komödie, diese Verlobung, die gar keine war, das alles haben Sie mitgespielt? Warum tun Sie das?«

De Montalembert zuckte die Achseln: »Wahrscheinlich, weil ich das Gefühl habe, dass du die richtige Frau für mich bist und ich nur dich lieben kann!«

»Aber diese ganze Geschichte... wollen Sie nicht wissen, warum...«, flüsterte Amélie.

Er sah sie zärtlich an und machte Anstalten, sie zu küssen, als eine Tür ging und beide aufschrecken ließ. »Nicht jetzt, wir haben noch so viel Zeit«, flüsterte er an ihrem Ohr.

Amélie spürte erst jetzt, wie erfroren sie war, und löste sich mit einem Lächeln aus seinen Armen. Zusammen gingen sie zurück in den Salon, aus dem ihnen die Wärme zweier Kaminfeuer entgegenschlug.

In den nächsten Tagen verschwendete Amélie kaum einen Gedanken an Armand, denn die Stunden vergingen wie im Flug: Mal unternahm sie mit de Montalembert Reitpartien durch den stürmischen Winterwind, dann wieder Spaziergänge in der kalten, klaren Luft, bei denen sie einander ihr Herz öffneten und Pläne schmiedeten, wie sie ihr künftiges Leben gestalten wollten. Wenn sie sich dann lachend am lodernden Kaminfeuer erwärmten und sich an den Händen hielten, kam es ihnen gar nicht mehr in den Sinn, auf welch merkwürdige Art, aus einer Laune Amélies heraus, diese Verlobung zustande gekommen war Mit jedem Tag gewann sie de Montalembert lieber, seinen aufrichtigen Charakter, seinen hintergründigen Humor und sein zärtliches Werben, das nichts gemein hatte mit dem hypnotischen Bann Armands, aus dem sie aufgewacht war wie aus einem Traum. Und doch erkannte sie in de Montalemberts Wesen eine Rätselhaftigkeit und einen Teil, der ihr verschlossen blieb. Oft sah er sie nur abwartend in seiner spöttischen Art an, während seine graugrünen Augen wie ein kühler Bergsee eisig und undurchdringbar schimmerten; ein Blick, der sie bisweilen ins Stottern brachte.

Armand war, auf Drängen Lauras, die ein gewisses Mitleid für ihn empfand, ohne großes Aufsehen fortgeschickt worden. Es hieß, er sei nach Paris gegangen, um dort ein Auskommen zu finden. Isabelle hatte zum Entsetzen der ganzen Familie offen revoltiert und sich in ihrem Zimmer auf eine störrische Weise gebärdet, wie man es von einem so jungen, bisher eher fügsamen Mädchen niemals erwartet hätte. Der Baron drohte in der wildesten Weise, den Burschen auf der Stelle umzubringen, sollte er sich noch einmal blicken lassen. Doch als Isabelle sich scheinbar beruhigte und nur noch mit verweinten Augen still durchs Haus schlich, machten sich die Eltern noch größere Sorgen und versuchten, sie in ihren früheren Tagesablauf zu zwingen.

Laura war hin und her gerissen zwischen der Sorge um ihre Tochter und der Angst um den kranken Christoph, dessen Zustand sich nicht besserte. Man entdeckte nun auch noch einen Abszess am rechten Ohr, der nicht heilen wollte und dessen Entzündung den kleinen Körper zu vergiften schien. Dr. Tourmon versuchte eines Tages, das Geschwür zu öffnen, aber die Wunde eiterte erneut, und alles war schlimmer als vorher. Laura und Mademoiselle Dernier wechselten einander gegenseitig am Bett des Kindes ab. Die Zeit der Gastlichkeit war vorbei. Freunden, die Besuche machen wollten, wurde abgesagt; der literarische Zirkel, den Laura in Abständen veranstaltete, fiel aus, und Feder und Tinte trockneten am zierlichen Schreibtisch, vor dem sie länger nicht mehr gesessen hatte.

Ein Brief Patricks flog ins Haus mit der Nachricht, er könne seinen Dienst sofort antreten, und zwar in der Leibwache des Grafen d’Artois, des Bruders des Königs. So liebevoll wie möglich teilte er Laura mit, dass er in Versailles bleiben werde, aber sobald er sich irgendwie freimachen könne, nach Valfleur zurückkehren wolle, um seine Sachen zu holen. Mit bewegten Worten schilderte er ihr, wie günstig die Gelegenheit sei und wie glücklich er sich schätzen könne, dass der Graf von Artois auf ihn aufmerksam geworden sei. Der Graf suchte repräsentative, hochgewachsene Burschen aus gutem Hause, die er für seine Leibwache in Versailles ausbilden ließ. Der großzügige Sold und das lockende Leben am Hof überstiegen seine Erwartungen, und er sah diesen Posten als Sprungbrett zu einer großen Karriere.

Laura, den Brief in den Händen, stiegen Tränen in die Augen, und sie wusste, dass sie ihren Sohn endgültig verloren hatte. Nun war ihr Liebling für immer fern von ihr, seine Entscheidung, nicht den Platz seines Vaters auf Valfleur einzunehmen, war für immer gefallen, das spürte sie.

Als der Baron seine Zeilen las, lief er rot an vor Zorn. Er knüllte den Brief zusammen und warf ihn in den Kamin.

Welch ein Affront! Nun gut, er hatte zugestimmt, dass Patrick eine Obristenstelle annahm. Aber in einer solchen Eile! Und dann noch beim verrufenen Grafen d’Artois! Insgeheim hatte er gehofft, Patrick würde ihn um Rat fragen und sich die Geschichte noch einmal überlegen, denn der Dienst in der Armee war kein Zuckerlecken. Und nun diese Leibgarde! Das war doch kein Posten für seinen Sohn, nur herumzustehen und sich von den Weibern angaffen zu lassen! War er denn solch ein schlimmer Vater, dessen Meinung man nicht anhörte? Dann entsann er sich früherer Szenen mit seinem Sohn, Streitereien, in denen er ihn nicht ernst genommen, geglaubt hatte, er müsse ihn zurechtweisen und ihn zu Hause einsperren, bis er vernünftig sein würde. Nun hatte Patrick einen anderen Weg gewählt, und es zeigte sich, dass er genau wusste, was er wollte, und sich auch durchsetzen konnte.

Doch sein Zorn verflog, als eine gute Nachricht ihn per Express ereilte. Das Parlament, aus Troyes zurückgekehrt, hatte seine alten Rechte wiedererlangt, und die Verbannung von de Montalembert und ihm war zugunsten der geplanten Ständeversammlung frühzeitig aufgehoben worden. Kaum hatte ein Bote die freudige Nachricht gebracht, brach der Baron wenige Stunden später nach Versailles auf, um dem König seine Aufwartung zu machen und seine Dankbarkeit zu bezeigen.

De Montalembert dagegen, der Gefallen am Landleben bekommen zu haben schien, schob seine Abreise, die er noch vor Kurzem nicht hatte erwarten können, hinaus. Er konnte sich einfach nicht von Amélie trennen, mit der er von heute auf morgen so viele Gemeinsamkeiten entdeckt hatte. Gemeinsam schmiedeten sie Pläne für eine baldige Hochzeit und ein neues Leben zu zweit. Nachdem er jetzt so viel Zeit mit ihr bei Ausritten und Streifzügen verbrachte, waren seine Reformbestrebungen für eine gerechtere Besteuerung der einzelnen Bevölkerungsgruppen ein wenig in den Hintergrund geraten.

Auf dem Schloss war von Teuerung und Steuerlasten kaum etwas zu spüren, man lebte dort wie auf einer Insel. Nur die verstärkten Wachen, die Tatsache, dass bei Nacht die Tore geschlossen wurden, und die neue Umfriedung des Geländes zeugten davon, dass man sich vor möglichen Übergriffen schützen musste. Zudem erschienen täglich immer mehr Bettler, ja, ganze Familien, deren erbärmliche Kleidung und hungrige Augen Mitleid erregten und die nicht ohne Brot und Verköstigung weggeschickt wurden. Jeder auf Valfleur schien mit den eigenen Anliegen beschäftigt zu sein, Amélie und de Montalembert mit ihren Hochzeitsplänen, die beiden Frauen mit der Pflege des kleinen dahinsiechenden Christoph. Niemand achtete mehr auf Isabelle, die jedermann und besonders ihrer Schwester still aus dem Wege ging. Nicht einmal ihrer Mutter fiel es auf, wie sie sich absonderte. Sie hielt es für besser, nicht mehr an diese peinliche Episode zu erinnern – zu tun, als sei gar nichts vorgefallen.

Eines Tages, de Montalembert war nun doch mit der ersten Postkutsche nach Paris abgereist, um seine Geschäfte in Ordnung zu bringen, vermisste man Isabelle beim Mittagessen.

Mademoiselle Dernier, der Amélies Ränke nicht ganz verborgen geblieben waren, musterte sie mit strengem Blick: »Wenn du etwas über Isabelle weißt, meine Liebe, musst du es mir sagen – ich habe Angst, dass sie eine Dummheit machen könnte. Sie war so seltsam in der letzten Zeit, so ruhig und verschlossen...«

»Ich weiß gar nichts«, rief Amélie mit gespielter Empörung aus, »sie hat in letzter Zeit überhaupt nicht mit mir gesprochen! Sicher taucht sie bald wieder auf. Vielleicht macht sie einen Spaziergang und hat nur die Zeit vergessen!«

»Einen Spaziergang bei diesem Wetter!« Der sorgenvolle Blick Mademoiselle Derniers glitt zum Fenster, an dem der Regen mit Graupelschauern vermischt herabströmte. »Das glaubst du doch selbst nicht!«

Mit einem Blick auf ihre Mutter, die blass vor ihrem Teller saß, ohne einen Bissen anzurühren, sagte Amélie flüsternd: »Sie wäre so herzlos, dass sie Mama noch zusätzlich aufregen will. Vielleicht sollte man einmal im Gärtnerhaus nachsehen!«

»Das ist doch nicht dein Ernst!«, rief die Gouvernante empört aus. »Du willst doch damit nicht sagen, dass sie... immer noch...« Mademoiselle Dernier brach mitten im Satz ab, denn Dr. Tourmon wurde gemeldet, und Laura erhob sich hastig, um ihn nach oben zu begleiten. »Amélie, sag mir, was du weißt, ich bitte dich, was war zwischen euch beiden?« Amélie zuckte die Schultern und schwieg störrisch. »Willst du die Schuld daran tragen, wenn deine Schwester sich etwas antut, wenn ihr etwas passiert! Ich traue diesem Burschen nicht.«

»Ich auch nicht«, platzte Amélie schließlich heraus und sprang vom Tisch auf. »Oh, er ist ein Lügner, ein Betrüger. Ich hasse ihn!«

Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf.

»Er war noch einmal hier und wollte mit mir sprechen und erreichen, dass er hierbleiben darf, weil er an allem unschuldig sei.« Bei diesen Worten glitt ungewollt eine Glutwelle über ihr Gesicht, und sie fuhr aufgebracht fort: »Ich habe ihm gesagt, er solle verschwinden, und da wurde er so böse, dass er mich beschimpfte und mir drohte...«

Hier stockte Amélie, sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen drangen und die Stimme versagte. »Ja, er hat auch mir den Hof gemacht«, brach es schließlich aus ihr heraus, »ich gebe zu, er hat mir ein wenig den Kopf verdreht, aber nur so lange, bis ich sah, dass er mit Isabelle das gleiche Spiel spielte.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. »Bitte Madeleine, sagen Sie niemandem etwas davon! Ich dachte, das müsse die Liebe sein, von der man in den Büchern so viel liest! Doch es war nicht so! Es war nur Fantasie... so etwas wie eine Liebelei!«

Die Gouvernante sah das Mädchen verblüfft an, in ihrem Gesicht spiegelte sich Erstaunen und Unverständnis. »Seid ihr denn alle beide verrückt geworden? Dieser nichtssagende Schönling, wie konntet ihr nur...« Sie brach ab, als müsste sie in sich hineinhorchen, ihre eigenen Gefühle beschwören, die ebenfalls nicht nach Sinn und Konventionen fragten.

Amélie, von der Erinnerung an die vergangene Demütigung überwältigt, warf sich schluchzend an Madeleines Brust. »Es tat so weh«, murmelte sie in den Stoff ihres Kleides, »und ich habe auch Isabelle gehasst. Ich konnte es nicht ertragen, dass sie mit ihm zusammen war. Und dann habe ich es so eingerichtet, dass Papa sie beide erwischte. Als Isabelle mich beschuldigte, ich sei nur eifersüchtig, gab ich Richard einfach als meinen Verlobten aus. Um mich nicht bloßzustellen, ist er darauf eingegangen. Das heißt, eigentlich habe ich ihn damals erst richtig lieb gewonnen, weil er mich durchschaut hat und doch nicht verriet. Und jetzt möchte ich ihn um keinen Preis mehr verlieren, er ist der Einzige, der mich versteht, mit dem ich lachen kann, bei dem ich mich wohlfühle, den ich wirklich liebe...« Sie löste sich von Madeleine und sah sie aus verweinten Augen eindringlich an. »Verstehen Sie, was ich meine? Ich bitte Sie, sagen Sie niemandem ein Wort von dieser hässlichen Geschichte, ich bitte Sie!«

Madeleine schwieg, ihr schwindelte bei dieser neuen, unglaublichen Version, und sie musste sich zwingen, Klarheit in ihre Gedanken zu bringen.

»Was auch immer geschehen ist, wir müssen jetzt an Isabelle denken, wer weiß, wozu sie in ihrer Verzweiflung fähig ist«, sagte sie, »sie war so seltsam in letzter Zeit, so verschlossen! Ich sehe noch einmal in ihrem Zimmer nach, vielleicht ist sie ja schon zurück.«

Doch Isabelle war nicht dort, sie war und blieb verschwunden.

Eine Schublade im kleinen Salon, in der man Kleingeld und etliche Goldstücke in einer Ledertasche für den Notfall aufbewahrte, stand offen und war leer.

Als die Dämmerung hereinbrach, legte Mademoiselle Dernier mit zitternden Händen das Geschichtsbuch und die große Weltkarte beiseite; sie versuchte, mit Amélie die Stunden zu überbrücken, in denen sie auf irgendein Lebenszeichen von Isabelle warteten. Die Gourvernante beschloss, sich dem Verwalter Rospert anzuvertrauen, einem energischen, tatkräftigen Mann. Er sollte zunächst den alten Gärtner Placard befragen, der sich nach der peinlichen Affäre mit seinem, wie ihm schien, völlig aus der Art geschlagenen Sohn schamhaft in sein Pförtnerhaus zurückgezogen hatte. Die Miene Rosperts zeigte nach außen hin keinerlei Verwunderung, obwohl er das Gerücht einer Liebelei sicherlich gehört hatte. Er machte sich sofort daran, mit ein paar Leuten den Park und die Umgebung zu durchsuchen.

Madeleine stieg ein drittes Mal in Isabelles Zimmer, um das Oberste nach unten zu kehren; vielleicht hatte sie doch irgendwo eine Nachricht, ein Zeichen hinterlassen, das sie bisher übersehen hatte. Auf der Treppe kam ihr völlig aufgelöst Laura entgegen. Unter zerrissenen Schluchzern brachte sie mühsam hervor, dass es Christoph schlechter gehe und er im Fieberwahn fantasiere.

Alles im Hause war nun in äußerster Aufregung, Dr. Tourmon hatte schon tags zuvor kopfschüttelnd den Verdacht auf eine Entzündung der Gehirnhaut geäußert, wie sie in vereinzelten Fällen infolge von Windpocken auftrat, und er schlug vor, den Kleinen auf alle Fälle erneut zur Ader zu lassen. Er war sich allerdings in seiner Diagnose nicht ganz sicher, da das Kind auch starke Bauchschmerzen zu haben schien. Laura empfand instinktiv einen mütterlichen Widerwillen gegen eine solche Prozedur bei ihrem noch so kleinen Kind. Sie setzte jetzt ihre Hoffnung auf die Künste einer alten Amme aus dem Dorf, die bei den einen als Wunderheilerin galt, bei anderen wiederum als Hexe verschrien war.

Mit gefalteten Händen stand Laura am Fenster und betete zum Himmel um das Leben ihres Kindes, während die alte Frau, das gutmütige Gesicht finster und stark gerötet, mit Tüchern und Tinkturen bewaffnet auf ihren dicken Beinen über die Flure tappte und ihre Anweisungen gab. Beschwörungen murmelnd flößte sie dem schreienden Christoph Tropfen ein, während sie den Kopf schüttelte und den Anwesenden nicht viel Hoffnung machte.

Mademoiselle Dernier wagte es nicht, den Namen Isabelles zu erwähnen, sie tat so, als sei diese auf ihrem Zimmer, um Laura nicht weiter zu beunruhigen. Ihr mütterliches Herz bäumte sich gegen das Unabänderliche auf, während sie auf den Kleinen hinabsah, der mit heißen Wangen auf den Kissen lag und dessen dunkel umschattete Augen im Zimmer umherirrten. Hilflos schlug er mit seinen kleinen Ärmchen um sich, wehrte alle Arzneien ab und riss immer wieder die kühlenden Umschläge weg, die sein Fieber lindern sollten.

Die alte Kräuterfrau näherte sich erneut mit einem Umschlag aus einem geheimnisvollen Sud, doch Christoph schrie mit seinen letzten Kräften und wehrte sich gegen den übel riechenden Lappen. Madeleine fühlte ungeheures Mitleid mit der gequälten Kreatur in sich aufsteigen, sie beugte sich über das Bett und hob das Kind mit Entschlossenheit und ungeachtet aller Proteste aus dem Bett. Wiegend hielt sie den fieberheißen Kleinen an ihre Wange geschmiegt, bis sein jämmerliches Schreien in ein leises Wimmern überging und er sich ein wenig beruhigte.

Die Amme murmelte mit vorwurfsvollem Blick auf die Gouvernante: »Das ist der Bauchwurm, der sich rührt, man muss den Bauch warm halten und ihn ruhig betten!«

Madeleine achtete nicht auf die Alte und ging mit dem Kleinen auf und ab, den die Bewegung ein wenig beruhigte. Sein Köpfchen sank hin und wieder schlaftrunken gegen ihre Schulter, um dann von Neuem in einer Schmerzattacke aufgeschreckt zu werden. Vorsichtig versuchte sie, ihm ein wenig von dem lindernden, warmen Getränk einzuflößen; das Kind würgte jedoch und erbrach sich.

Unten hörte man wieder den Wagen des Doktors vorfahren, der jetzt zweimal am Tag erschien. Laura lief ihm ungeduldig entgegen, hoffend, dass vielleicht doch er die Rettung bringen würde.

Vorsichtig legte Madeleine den Kleinen zurück in sein Bett und schob die Amme ungeduldig hinaus. Es war besser, wenn sie draußen wartete, denn der Arzt sah es nicht gern, wenn sich die Kräuterweiber in sein Metier einmischten.

Die Alte jedoch passte ihn ab, zog ihn beim Ärmel und wisperte dem Unwilligen zu: »Der Bauchwurm ist es, der Bauchwurm und nichts anderes. Da hilft nur herausschneiden.«

Der Doktor stutzte, riss sich dann ungeduldig los und murmelte in beleidigtem Ton: »Was will diese Frau hier? Entweder behandelt sie oder ich!«

Laura bedeutete der Alten zu schweigen und führte den Arzt in das Kinderzimmer. Als er dann doch vorsichtig den Bauch des Kindes abtastete, stieß der Kleine einen so durchdringenden Schrei aus, dass er gegen seinen Willen der Diagnose des Kräuterweibs Recht geben musste.

Dennoch rückte er nicht ganz von seiner These ab und schüttelte bedenklich den Kopf. »Ein schwerer Fall: Das Gehirn ist in Mitleidenschaft gezogen und jetzt noch eine Entzündung des Wurmfortsatzes!«

Laura konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Warum musste Gott sie so prüfen? Die alte Amme, die leise hinter dem Doktor ins Zimmer geschlichen war, bekreuzigte sich ein über das andere Mal, unverständliche Worte vor sich hinbrabbelnd.

Als sich der Arzt nach kurzer Zeit verabschiedet hatte, ohne dem Kind eine neue Therapie zu verordnen, vergrub Laura das Gesicht in den Händen. Sie konnte den Anblick ihres leidenden Kindes nicht länger ertragen.

Die alte Amme, die mit einer Schale neuen Tranks hereinschlurfte, legte die Stirn in unzählige Knitterfalten und musterte den kleinen Patienten mit beunruhigten Blicken. »Der Bauchwurm. Ich sehe es! Man muss ihn aufschneiden!«

Laura zuckte zusammen und schluchzte auf, während sie sich wie besinnungslos über das Kind warf. Doch Madeleine riss sie zurück und ließ zu, dass sie sich gegen ihre Schulter gelehnt ausweinte. Sie selbst vernahm die niederschmetternden Worte mit innerer Starre. Ohne Zweifel hatte sie das Schlimmste befürchtet, doch jetzt traf es sie wie ein Schlag. Eine angstvolle Lähmung ergriff sie, aber keine Träne trat in ihre Augen, nur stilles Entsetzen erfüllte sie. Sie spürte, dass Laura sich nicht mehr länger auf den Beinen halten konnte; nunmehr war sie diejenige, die stark sein musste und nicht den Kopf verlieren durfte. Man musste einen Chirurgen finden. Und sie schöpfte wieder neue Hoffnung.

Amélie - Gesamtausgabe

Подняться наверх