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14 Buße

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Isabelle nahm keinen Anteil an den Vorbereitungen von Amélies und Richards Hochzeit, die im kommenden Sommer stattfinden sollte. Weder die Gestaltung des Festes interessierte sie noch die Kleidung oder die zahlreichen Dinge, die es zu bedenken gab. Mit ihrer Schwester hatte sie, seit sie zurück war, kaum mehr ein Wort unter vier Augen gesprochen. Nach wie vor herrschte ein gespanntes Verhältnis zwischen ihnen, so als wären sie noch immer Rivalinnen.

Madeleine bemühte sich täglich, die Lebenslust der Zurückgekehrten aufs Neue zu wecken. Sie zwang sie, den Unterricht wieder aufzunehmen, ebenso wie die Klavierübungen. Als Isabelle eines Morgens wie immer stumm und in sich gekehrt am Frühstückstisch saß und an ihrem Milchkaffee nippte, wurde sie plötzlich bleich, die Tasse klirrte heftig auf den Teller und ergoss den Inhalt auf das Tischtuch. Mit verzerrtem Gesicht presste Isabelle die Serviette auf den Mund. Hastig verließ sie das Zimmer, doch Madeleine lief ihr, nichts Gutes ahnend, nach. Draußen im Gang fand sie das Mädchen zu ihrem Schrecken zusammengebrochen auf dem Fußboden liegend, ein Häufchen Elend.

»Isabelle, um Himmels willen, hast du etwas Schlechtes gegessen?«, sagte sie und versuchte, ihr aufzuhelfen.

Das Mädchen stöhnte auf. »Lassen Sie mich, mir ist alles gleichgültig. Ich bin krank – und vielleicht habe ich nicht mehr lange zu leben...«

»Sag doch so etwas nicht«, unterbrach sie Madeleine entrüstet, »ein junges Mädchen wie du...«

»Seit einiger Zeit schon ist mir ständig übel«, fuhr Isabelle schluchzend fort, »und jetzt erbreche ich mich täglich. Manchmal ist mir so schwindlig und schwach und mir flimmert es vor den Augen...«

Madeleine stutzte. Ein furchtbarer Verdacht keimte in ihr auf. Dann sagte sie sanft: »Komm in dein Zimmer, Kleines, du musst dich hinlegen...«

»Bitte«, bat Isabelle mit vor Angst aufgerissenen Augen, »versprechen Sie mir, Mama nichts davon zu sagen. Ich habe ihr schon genug Aufregung gemacht, zuerst Christoph, und jetzt bin ich es vielleicht, die sterben muss...«

»Dummes Zeug!«, rief Madeleine entsetzt aus. »An so etwas stirbt man nicht so schnell, glaube mir!« Sie fasste Isabelle fest um die Schultern und flüsterte: »Komm, ich bringe dich hinauf.« Ein Gefühl von neuem drohenden Unheil schnürte ihr die Brust zusammen. In Isabelles Zimmer bettete sie das bleiche Mädchen in einen Sessel, schlug eine warme Decke um sie und legte ihre Füße auf einen Schemel. »Kann es sein, mein Liebes«, begann sie und sah dem Mädchen in die Augen, »kann es sein, dass du vielleicht ein Kind bekommst?«

»Nein«, entfuhr es Isabelle, »nein, das ist nicht wahr. Ich...« Sie brach ab und senkte den Blick.

»Ist es wirklich ausgeschlossen? Bist du dir da sicher? Willst du mir wirklich erklären, dass Armand, den du so liebtest, dich niemals berührt hat?« Madeleine nahm Isabelle bei den Schultern, um sie zu zwingen, ihr direkt in die Augen zu sehen.

Eine Blutwelle schlug dem Mädchen ins Gesicht, und ihr Ausdruck wechselte von ungläubigem Begreifen zu unverhülltem Entsetzen. Sie öffnete die Lippen, als ob sie etwas sagen wolle, presste sie dann aber fest zusammen und schlug beschämt die Hände vors Gesicht.

Doktor Tourmon, der Isabelle eingehend untersuchte, bestätigte bedauernd die Tatsache, dass eine Schwangerschaft vorlag. Er wunderte sich, wie gefasst Laura die Nachricht aufnahm. Nach allem, was vorgefallen war, hatte sie es jedoch mit dem Instinkt einer Mutter bereits geahnt. Auch jetzt sprach sie mit Isabelle kein Wort über ihren Zustand – vor allen Dingen wollte sie ihn vorläufig ihrem Mann verbergen, dessen Wutausbrüche sie fürchtete und der fähig wäre, Isabelle, wie angedroht, in ein Kloster zu sperren. Irgendwie würde man weitersehen und eine Lösung finden. Insgeheim wollte sie die Hoffnung nicht aufgeben, irgendein Wunder könne ihre Tochter, ihre ganze Familie vor dieser schrecklichen Blamage bewahren. Aus der ganzen Gegend sammelte sie Mittel von weisen Frauen und Hebammen – angefangen von heißen Bädern bis zu Massagen und diversen Kräutertees, die sie dem Mädchen einflößte.

All diese Torturen ertrug Isabelle nahezu klaglos, denn auch sie wollte sich von der Last befreien, die ihre Zukunft bedrohte. Manchmal lief sie bis zur Erschöpfung treppauf, treppab, dann wieder hüpfte und sprang sie wie eine Verrückte im Zimmer umher, aufs Bett und wieder hinunter, bis sie atemlos innehalten musste. Doch als all diese Anstrengungen keinerlei Wirkung zeigten und ihre Taille sich langsam rundete, beschloss sie, in den Hungerstreik zu treten.

Ihre Mutter war entsetzt, sie flehte, beschwor sie, etwas zu sich zu nehmen und ihre Lage zu akzeptieren, da man sie doch nicht mehr ändern könne. Man würde schon eine Lösung finden. Vor Sorge fast von Sinnen, zermarterte sich Laura Tag und Nacht den Kopf, bis ihr der rettende Gedanke kam. Das Problem wäre gelöst, wenn man Isabelle nur rechtzeitig verheiraten könnte! Fieberhaft ging sie die Liste der Kandidaten durch; es musste doch jemanden geben, der eine so gute Partie nicht ausschlug! Doch Isabelles Wesen wechselte mit einem Male von gleichgültiger Sanftmut zu mürrischer Schroffheit, und sie weigerte sich, an eine Ehe auch nur zu denken. Niemals würde sie einwilligen, und niemals in ihrem Leben wollte sie heiraten! Lieber ginge sie für immer ins Kloster!

Es war in dieser Zeit nicht leicht, mit ihr auszukommen, und nur Mademoiselle Dernier vermochte sie durch ihre sanfte Art und Geduld zu bezähmen, mit der sie versuchte, sie in ihre früheren Bahnen zurückzulenken.

Fieberhaft schrieb Laura einen Eilbrief an Desmoulins; sie wolle ihn in einer dringenden Angelegenheit sprechen. Er war der einzige Junggeselle, der ihr einfiel, und warum sollte nicht gerade er der richtige Kandidat für Isabelle sein? Ein Mann von Geist und Talent, ehrgeizig, aber arm und ohne Titel und Position in der Gesellschaft. Sie musste ihn überzeugen, welch gute Gelegenheit es für ihn sei, eine Ehe mit einer Baronesse einzugehen. Im Übrigen war sie sich sicher, dass er eine große Zukunft und Karriere vor sich hatte.

Im Kaminzimmer hatten es sich Patrick und Auguste bequem gemacht und wärmten sich, neue, modische Zigarillos aus England rauchend, am Feuer. Es war eigenartig, wieder zu Hause zu sein! Die Ruhe, die Stille, die Natur rundherum taten nach dem hektischen Hofleben gut. Patrick hatte fast vergessen, wie zuwider ihm das Leben hier gewesen war und welche Anstrengungen es ihn gekostet hatte, fortzukommen. Noch immer war Valfleur erfüllt von der Trauer um den kleinen Christoph, und auch er fühlte bisweilen eine ungekannte Traurigkeit in sich.

Ansonsten aber strahlte Patrick im Glanz der Karriere, die er in Aussicht hatte: Es hatte nicht lange gedauert, und Graf d’Artois hatte den gut aussehenden jungen Mann zu seiner table ronde, in den Kreis der Menschen aufgenommen, die er regelmäßig zu Tisch einlud. Und nun hatte der Graf ihn auch noch allen Ernstes gefragt, ob er nicht sein persönlicher Adjutant werden wolle! Patrick hatte das Angebot mit Stolz erfüllt – aber zuvor wollte er noch ein paar Tage in Valfleur verbringen.

Auguste, nicht so vom Schicksal begünstigt und noch in der üblichen Offizierslaufbahn in der Armee des Königs, wo er nur einer unter vielen war, wirkte neben ihm eher unscheinbar, obwohl er in seiner Eitelkeit viele Stunden auf sein Äußeres verwendete.

Laura betrachtete ihren Sohn beim Diner voller Stolz in seiner prächtigen Uniform; auch seine Umgangsformen hatten sich perfektioniert, und seine frühere Verschlossenheit war einem lockeren Plauderton gewichen, in dem er amüsant von seinem Dienst erzählte. Auch wusste er einige nette Anekdoten aus dem Hofleben zum Besten zu geben. Sie hörte ihm lächelnd zu und verdrängte alle drückenden Probleme. Über Isabelles Schwangerschaft schwieg sie und tat so, als wäre nicht das Geringste geschehen.

Wie üblich neckten sich Amélie und Patrick wie in Kinderzeiten, während Isabelle schweigend und in sich gekehrt neben ihnen saß. Auguste ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Nachricht von Amélies Verlobung berührt hatte. Gerade an diesem Abend erschien sie ihm reizvoller denn je mit ihren duftig aufgesteckten Haaren, von denen einige Löckchen scheinbar nachlässig über ihre Wangen fielen. Ihre braunen Augen schimmerten samtig und geheimnisvoll unter den dunklen Brauen und Wimpern. Wenn sie ihn ansah, spürte er sein Herz heftiger klopfen. Jetzt, wo sie unerreichbar war, brach für ihn eine Welt zusammen, und er verfluchte seine Unsicherheit. Immer wieder ließ er es in seiner niedergedrückten Stimmung zu, dass man ihm das Glas Cognac wieder füllte, kaum dass er es geleert hatte.

Desmoulins zögerte nicht lange, entzückt von den schmeichelhaften Briefen Lauras, in denen sie ihm zu verstehen gab, dass sie ihn in Valfleur ungeduldig erwarte, und kündigte seinen sofortigen Besuch an. Es ging ihm finanziell miserabel, und er schlug sich mehr schlecht als recht durch. Seine Artikel waren ohne das zündende Feuer von Lauras Formulierungen schal geworden. Die neue Zeitung, bedrängt von unzähligen konkurrierenden Neugründungen, die seit der Aufhebung der Zäsur wie Pilze aus dem Boden schössen, stand vor dem Ruin.

Laura umarmte ihn mit ungewohnter Herzlichkeit, als er eintraf, doch ohne seine Leidenschaft zu erwidern. Sie hielt ihn bewusst auf Abstand, das fühlte er nach den ersten Überschwang nur allzu deutlich. Als sie ihm ohne Umschweife ihre Pläne und die bedrängte Situation schilderte, in der sich ihre Familie befand, war er zunächst verblüfft, dann enttäuscht, doch schließlich fühlte er sich in seiner Eitelkeit außerordentlich geschmeichelt. Eine solch vorteilhafte Heirat wäre zweifellos zu überdenken, sie würde mit einem Schlag alle seine finanziellen Probleme lösen und ihn in der Gesellschaft einen großen Schritt vorwärts bringen. Auf der anderen Seite wehrte sich sein Innerstes gegen einen solchen Handel. Dieses anämische Kind – was sollte er mit einem solchen Wesen anfangen? Er sah in Lauras magische dunkle Augen, die ihn flehend anblickten und in denen er die leidenschaftlichen Stunden im Pavillon gespiegelt sah. Würde sie ihm auf diese Weise nicht für immer erhalten bleiben, als Quelle dauernder Inspiration? Er könnte sie sehen, so oft er wollte, und sie würde es ihm nicht abzuschlagen wagen, ihn in seiner journalistischen Arbeit zu unterstützen!

Mit geschickter Diplomatie zögerte er die Antwort hinaus, und als Laura ihm zu verstehen gab, dass sie eine sofortige Stellungnahme erwarte, da die Zeit dränge, stotterte er, er müsse eine solche Entscheidung noch überdenken. Erst als Laura ernstlich ungeduldig wurde, murmelte er mit ergebener Miene, dass er sich für alles opfere, was sie für richtig halte. Laura fiel ihm erleichtert um den Hals und küsste ihn freundschaftlich auf beide Wangen, während er sie heiß an sich presste und ihren Namen sehnsüchtig an ihrem Ohr flüsterte.

Ungeduldig und ein wenig geniert machte sie sich los. »Lassen Sie jetzt vorläufig diese Dummheiten«, sagte sie. »Jetzt kann ich endlich mit meinem Mann darüber reden und ihm gleich eine Lösung präsentieren. Ich hatte Angst, er werde Isabelle aus dem Hause weisen, in ein Stift, zu den Nonnen, wer weiß, was ihm einfiele. Er wäre vielleicht wirklich imstande, das arme Kind noch mehr ins Unglück zu stürzen.« Mit dem Gefühl, eine Last von ihrem Herzen gewalzt zu haben, warf sie dem folgsamen Desmoulins einen verschwörerischen Blick zu und strich ihm über den Arm, um ihn nicht ganz zu verstimmen.

Als sich eine längere Abwesenheit nicht mehr entschuldigen ließ, kehrte der Baron Ende März nach Valfleur zurück, den Kopf voller Pläne und Ideen, den Koffer gefüllt mit Akten und Papieren, an seiner Kleidung noch den Duft von Madame de Polignac, seiner neuen Geliebten. Er sprühte vor Tatendrang. Stürmisch umarmte er Laura, küsste sie und zerdrückte die schwarzen Spitzen ihres Taftkleids. Doch als sie ihm mit ernster Miene ankündigte, sie müsse unbedingt mit ihm sprechen, wehrte er ungeduldig ab: »Nicht jetzt, meine Liebe, da ich endlich einmal dabei bin, mich zu entspannen. Lass uns die ernsteren Angelegenheit auf morgen verschieben!«

Laura zögerte; an dem Blick, den er ihr zuwarf, erkannte sie, dass er schon längst über Isabelles Zustand Bescheid wusste, oder zumindest es geahnt und befürchtet hatte. »Du weißt, dass Isabelle...«, begann sie hartnäckig und sah ihn fest an.

»Schweig«, herrschte er sie mit ungewohnter Heftigkeit an, »ich will von dieser Sache jetzt nichts hören. Es verdirbt mir die Laune! Das Einzige, was ich möchte, ist, diesen Kerl in die Finger zu kriegen!« Er knirschte mit den Zähnen, und sein Blick war furchterregend. »Diese Kanaille!« Mit großen Schritten ging er im Zimmer auf und ab. Nach einer Pause sagte er einlenkend: »Nun gut, wenn du darauf bestehst, dass wir davon reden – natürlich habe ich auch schon darüber nachgedacht, was wir tun können. Das Beste wird sein, wir verheiraten dieses schwer zu bändigende Kind so schnell wie möglich. Damit hätten wir alle Probleme gelöst. Vielleicht könnte es sogar eine Doppelhochzeit geben, Amélie mit Richard – Isabelle mit... Ich kenne da einen jungen Advokaten, unverheiratet, ein solider Mensch mit guten Ideen, Adrien Duport heißt er. Er wird es weit bringen bei seinen Talenten.«

Laura blickte zu Boden, doch dann sagte sie schnell: »Ich dachte eigentlich an Desmoulins... ich meine, ich habe schon mit ihm gesprochen... und er wäre einverstanden.«

Der Baron verzog das Gesicht, und auf seiner Stirn bildeten sich finstere Falten. »Ausgerechnet Desmoulins! Konntest du keinen besseren Schwiegersohn finden?«

Er stellte sich ans Fenster und sah hinaus. »Nun gut, wenn er sich bereit erklärt hat, dann soll er es sein. Wir können jetzt wirklich nicht wählerisch sein, wenn uns diese Schande erspart bleiben soll.« Mit einem letzten vorwurfsvollen Blick, als sei das alles ihre Schuld, drehte er sich um, nahm seine Handschuhe und seine Jagdtasche vom Tisch, im Grund seines Herzens zufrieden, eine Entscheidung getroffen zu haben. Die Pferde draußen wieherten schon ungeduldig, denn der Baron hatte Rospert bei seiner Ankunft bedeutet, dass er sogleich auf die Jagd gehen wolle. Der Verwalter, bereits aufgesessen, wartete nun draußen im Hof, neben sich den ungeduldig hin und her tänzelnden Rappen des Schlossherrn.

Eine fieberhafte Geschäftigkeit herrschte auf dem Gut, mit der die Vorbereitungen für die beiden Hochzeiten getroffen wurden. Der Zustand Isabelles drängte zu einer baldigen Lösung, wenn man kein Aufsehen erregen wollte.

Amélie stürzte sich voller Eifer auf die Pläne der Einrichtung in Paris und schrieb fast jeden Tag einen Brief an Richard, der ihr seinerseits sein Leben dort auf das Genaueste schilderte. Er hatte schon begonnen, an seinem Stadtpalais, das inzwischen zu einem Junggesellenhaushalt geworden war. die nötigen Renovierungen vorzunehmen, nachdem ihm Amélie in allen Einzelheiten ihre Wünsche und Vorstellungen darlegte.

Isabelle hingegen hatte sich zunächst geweigert, in die Heirat mit dem finsteren und um vieles älteren Desmoulins einzuwilligen, der außerdem nur Augen für ihre Mutter hatte. Doch schließlich war sie nach den vehementen Protesten in sich zusammengesunken und hatte sich scheinbar in ihr Schicksal ergeben.

An einem dunstigen Morgen, an dem sich die Herrschaft des Frühlings durch einen blassen hellen Schimmer am Horizont schon früh ankündigte, wurde Amélie von ungewohnten Geräuschen, barschen Stimmen und Befehlen, die vor dem Haus laut wurden, geweckt. Sie sprang ans Fenster und blickte mit klopfendem Herzen hinaus. Noch immer saß ihr der Schrecken der Plünderung und Brandschatzung von Schloss Pélissier in den Knochen, und sie musste an die unzähligen Berichte von raubenden Bauernhorden denken, die in letzter Zeit die Runde gemacht hatten. Im diffusen Licht der Morgendämmerung sah sie die sich schemenhaft abhebenden Gestalten der Wachen, die ihr Vater zum Schutz des Gutes bestellt hatte. In ihrer Mitte erkannte sie den unermüdlichen Verwalter Rospert, der einen an beiden Händen gefesselten Mann vor sich her stieß. Als wenn ihn etwas magisch anzöge, warf er in diesem Augenblick den Kopf mit den wirren schwarzen Locken zurück und blickte hinauf. Amélie prallte vom Fenster zurück und presste die Hand vor den Mund, um einen Schreckensschrei zu unterdrücken.

Er war es ohne Zweifel. Armand! All die Gefühle, die sie für ihn empfunden hatte, die erste romantische Leidenschaft, die Enttäuschung über seine Lügen, seine Untreue und Rücksichtslosigkeit, mit der er ihre Schwester entehrt hatte, walten in ihr auf. Es war ihr klar, was diese Festnahme zu bedeuten hatte. Ihre romantische Schwärmerei war wie eine bunt schillernde Seifenblase zerplatzt, aber sie fühlte trotz allem, wie dumpfes Mitleid mit ihm in ihr aufstieg. Was hatte er schließlich Böses getan? Sie war überzeugt, dass Isabelle sich ihm mit dem Ungestüm ihrer eifersüchtigen Liebe an den Hals geworfen und vielleicht sogar selbst die Idee einer romantischen Entführung ausgeheckt hatte. Andererseits besaß er wirklich einen niederträchtigen Charakter, und sie durfte nicht außer Acht lassen, was er der Familie angetan hatte.

Vor Aufregung und Angst wie Espenlaub zitternd, lief sie über die Treppe zum Zimmer von Mademoiselle Dernier. Leise klopfend rief sie flüsternd ihren Namen, doch niemand antwortete. Sie drückte vorsichtig die Klinke herunter und fand das Zimmer leer. Schließlich warf sie sich einen Mantel über die Schultern und schlich leise hinunter. In der Halle brannte Licht, die große Eingangstür stand weit offen, und von draußen hörte sie unterdrückte Stimmen, darunter die barsche, grollende des Verwalters und die hellere, sich vor Wut überschlagende Stimme Armands, der sich wehrte. Amélie lauschte wie erstarrt den Wortfetzen, die zu ihr drangen.

Ein Geräusch aus dem Salon ließ sie zusammenzucken, so als hätte man sie ertappt. Sie war nicht die Einzige, die heruntergekommen war, denn sie nahm einen matten Lichtschein wahr, der unter der Tür hervordrang. Vorsichtig drückte sie die Klinke und erblickte Mademoiselle Dernier, die ihrer Mutter gerade einen pelzgefütterten Umhang überlegte.

Lauras Lippen bebten, als sie versuchte, sich um Fassung zu bemühen. »Vor allem darf Isabelle jetzt nichts davon erfahren. Es könnte ein erneuter Schock für sie sein.« Ihre Stimme stockte, als sie plötzlich Amélie erblickte.

Doch es war schon zu spät. Die ungewohnten morgendlichen Geräusche hatten auch Isabelle geweckt, und da stand sie nun, mit bleichem Gesicht und vom Schlaf halb aufgelösten Haaren hinter ihrer Schwester in der Tür. Ohne auf die andren zu achten, ging sie mit unbewegtem Gesicht zum Fenster und presste das Gesicht an die Scheibe. Noch bevor jemand sie davon abhalten konnte, riss sie das Fenster auf und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Du schmutziger Lump, das geschieht dir recht! Jetzt sollst du alles bereuen! Ich hasse dich...«

Im nächsten Moment zog die Gouvernante unsanft das Mädchen ins Zimmer zurück und schloss das Fenster. Isabelle schluchzte haltlos und stieß zornige Worte aus, die man von diesem ruhigen, wohlerzogenen Mädchen niemals erwartet hatte.

Laura sah ihre Tochter so entgeistert an, als wäre sie eine völlig fremde Person. »Wie kannst du dich nur so gehen lassen! Bitte Mademoiselle, bringen Sie Isabelle sofort nach oben.« Welch schreckliche Situation! Was sollte sie jetzt nur tun? Wenn nur Charles da wäre und ihr die Entscheidung abnehmen würde. Aber er musste ja wieder Hals über Kopf nach Paris abreisen. Immer war sie gezwungen, alles allein durchzustehen. Sie straffte energisch den Rücken und ging durch das Hauptportal hinaus. »Was gibt es denn so früh, Rospert? Hätte dieser Aufstand nicht bis später Zeit gehabt?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

Der kräftige Mann trat vor und verneigte sich verlegen. »Gnädige Frau Baronin«, stieß er hervor, »die Sache duldete keinen Aufschub. Ich darf Ihnen melden, dass wir den besagten Burschen, Armand Placard, endlich gefasst haben. Er war gerade dabei, sich Lebensmittel und Kleidung abzuholen, die sein Vater, der alte Narr, heimlich für ihn draußen deponiert hatte. Wir haben ihn außerdem beobachtet, als er versuchte, vermutlich in diebischer Absicht, ins Schloss einzudringen, wobei er auf der Terrasse eines der Fenster mit dem Werkzeug öffnen wollte.« Er zeigte auf einen metallenen Gegenstand, der im Gras lag, während Armand sich wild aufbäumte und nach seinen Bewachern trat. »Ich habe schon eine Depesche an den Herrn Baron in die Wege geleitet.«

Laura schwieg eine Weile, dann nickte sie dem Verwalter zu und musterte aufmerksam den schmutzigen, aber selbst in dieser Situation unverkennbar attraktiven Burschen. Vor ihren Augen tauchte das Bild des ernsten, verträumten Jungen auf, der schon damals durch den matten Ton seiner Haut und die regelmäßige Schönheit seiner Züge aufgefallen war und auf seltsame Weise ihrem eigenen Sohn glich. Sie biss sich auf die Lippen, wenn sie daran dachte, was er Isabelle angetan hatte, und wandte sich voller Abscheu ab. »Bringen Sie ihn an einen sicheren Platz, bis mein Mann eintrifft. Er wird alles Weitere entscheiden.«

»Selbstverständlich, Madame«, sagte der Verwalter. »Komm nur, Bürschchen, bei deinem Strafregister nützen dir deine schönen blauen Augen, mit denen du Madame rühren möchtest, auch nicht mehr viel, und der Richter wird sich davon ebenfalls nicht beeindrucken lassen.«

Armand, dem der teilnahmsvolle Blick von Madame d’Emprenvil nicht entgangen war, warf sich auf die Knie und streckte die gebundenen Hände nach ihr aus. »Gnade, Frau Baronin«, flehte er, »Gnade! Es war alles ganz anders... Ich wollte nichts Böses. Sie kennen mich doch! Schon als Kind waren Sie immer freundlich zu mir, lassen Sie mich Ihnen allein alles erklären... Sie werden mich verstehen.«

Weiter kam der Unglückliche nicht, denn man packte ihn und riss ihn hoch.

»Es lebe die Revolution, die alle Ungleichheit ausmerzen wird! Bin ich etwa weniger wert als dieses Mädchen?« Armand schickte einen Blick zum Zimmer Isabelles hinauf. »Sie ist reich, ich bin arm... warum darf ich sie nicht lieben? Ist das der Grund dafür, dass ich bestraft werde?«

Es schien, als wollte sich Rospert wütend auf den Unverschämten stürzen. Doch er mäßigte sich, näherte sich ihm langsam und fragte ihn in betonter Ruhe: »Hast du sie auch geliebt, deine reiche Gönnerin und um vieles ältere Geliebte in Paris, die Gräfin d’Hautbourg, die du ausgeraubt und vergiftet hast? Man sucht dich schon seit Langem wegen dieser Tat.«

»Lügen! Ich habe nichts damit zu tun – sie war opiumsüchtig, sie hat sich selbst umgebracht, und nun will man mir alles in die Schuhe schieben!«, rief Armand aufgebracht.

Rospert hob den Arm, als wollte er ihn schlagen. »Du Mistkerl, du lügst, wenn du den Mund aufmachst!« Doch mit einem Blick auf die Baronin, die sich totenbleich abwandte, hielt er sich zurück. »Dich werde ich schon noch hängen sehen«, murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Führt ihn ab! Wir sperren ihn in die alte Zisterne«, befahl er den anderen.

Ohne zu zögern und Mitleid zu zeigen, strengte der Baron nun eine sofortige Untersuchung und ein Gerichtsverfahren gegen den Übeltäter an. Mittlerweile hatten sich von überall her Berichte über Diebstähle, Betrügereien und Schulden gehäuft, die Armand zur Last gelegt wurden. Einer seiner Kumpane beschuldigte ihn außerdem, bei der Brandschatzung von Pélissier und anderen Schlössern beteiligt gewesen zu sein, eine unbeweisbare Beschuldigung, die Armand, ebenso wie eine Mitwirkung am Tod besagter Gräfin, empört abstritt.

Isabelle verzog keine Miene und zeigte nicht die geringste Regung des Bedauerns, als sie das Urteil vernahm. Sie sprach jetzt kaum noch und sonderte sich von ihrer Umgebung ab. Amélies weiches Herz hatte sich in einem letzten Versuch aufgebäumt, um den Vater milder zu stimmen, damit man Gnade walten ließ. Doch nicht einmal Laura, die Zweifel an den angeblichen Untaten Armands hatte, konnte ihn von seiner Entscheidung abbringen. Der Baron, sonst verständnisvoll und nachsichtig, kannte in dieser Sache keine Gnade und kein Pardon. So starb Armand, der Gärtnersohn und Revolutionär mit den hochfliegenden Plänen, nach einem kurzen Prozess den armseligen Tod eines des Raubes und Mordes Schuldigen durch den Strang.

Die Atmosphäre auf Valfleur in den folgenden Tagen war niederdrückend, und niemand konnte sich ganz und gar der Frage entziehen, ob ein junges Leben nicht zu schnell und auf zu brutale Weise beendet worden war. Am schlimmsten traf es den alten Placard. Für den schwer geprüften Gärtner war der Sohn die einzige Hoffnung und sein Sonnenschein gewesen. Sein Verstand verwirrte sich, er begriff nicht, wie das alles geschehen konnte, und war nach wie vor überzeugt, dass ein anderer als Armand für die ihm zur Last gelegten Vorwürfe verantwortlich sein musste: Ein Justizirrtum war geschehen – Gott hatte ihn hart gestraft!

Amélie - Gesamtausgabe

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