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Der Vergessene

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HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?

Psalm 13,2

Wir sitzen mit Schal und Mütze auf dem Balkon der Station, essen Kuchen und rauchen zwischendurch. Heute Morgen hatte ich beschlossen, ihn zu besuchen. Einfach so. Ohne Anmeldung.

Ich komme am frühen Nachmittag an, mit seinem Lieblingskuchen im Gepäck. Es gibt noch lauwarmen Kaffee in der Patientenküche und er dampft aus unseren Bechern in den Winterhimmel.

„Gott hat mich schon lange vergessen“, sagt er und seine Augen richten sich auf einen Punkt in der Ferne, den ich nicht sehen kann. Seit Monaten lebt er in der Klinik, erst auf der Geschlossenen, und jetzt darf er dann und wann auch mal in die Stadt gehen. Tuchfühlung aufnehmen mit einem Leben, in dem er bis vor einem halben Jahr jeden Morgen um 7.30 Uhr arbeiten gegangen ist und bis nachmittags vor Schulklassen gestanden hat. Dann ging es nicht mehr. Er konnte nicht mehr funktionieren und seine Ängste nachts mit Alkohol und Tabletten betäuben. Es war vorbei. Er zog die Notbremse.

Er wurde aus dem Stundenplan gestrichen. Seit er hier ist, hat von den Kollegen kaum jemand nach ihm gefragt. So einfach geht das. Erst tat das weh. Jetzt kommt die Bitterkeit. Nicht immer will er sie runterschlucken. Dann bricht es aus ihm heraus: Ihr habt mich alle vergessen. Als ob mein Leben nichts gewesen wäre.

Die Klinik liegt in einer schönen Landschaft, am Waldrand. Morgens hört er die Vögel singen. Er macht lange, einsame Spaziergänge und scheut den Kontakt zu Spaziergängern, Joggern und allem, was nach einem Leben duftet, an dem er kaputtgegangen ist.

Sein Blick ist noch immer auf diesen Punkt in der Ferne gerichtet. Ich spreche ihn an: „Aber ich bin jetzt hier. Ich habe dich nicht vergessen.“ Er kehrt ins Hier und Jetzt zurück, schaut mich an. Lächelt unmerklich, kratzt nachdenklich mit der Gabel die letzten Kuchenkrümel zusammen und führt sie zum Mund. „Ja, das ist wirklich erstaunlich, dass du da bist. Und das an einem Tag, von dem ich nun wirklich nichts erwartet hatte.“


Im vergessenen Raum

ist es kalt.

Die Wände sind hoch.

Dann von oben die Stimme:

Du.

Reich gedeckt

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