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Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde.

Jesaja 43,18.19

Sie hält das Telefon von sich weg. Elisas Stimme ist schrill und laut: „Siehst du, jetzt bekommst du die Quittung. Hast bestimmt mal wieder nur an dich gedacht … so warst du ja schon immer. Klar, dass niemand mehr was von dir wissen will. Und ich sage dir: Du wirst dich nie ändern!“

Irgendwann legt Anna einfach auf. Ihre Hände sind schweißnass, sie zittert am ganzen Körper. Sie hatte gehofft, dass ihre Schwester sie aufmuntert. Ihr sagt, dass die nächtlichen Weinkrämpfe irgendwann vorbei sein werden – dann, wenn ihr Herz die weitere enttäuschte Liebe verkraftet haben wird. Wenn das überhaupt jemals möglich ist. Sie hatte sich gewünscht, dass Elisa ihr helfen würde, nach vorn zu sehen und weg von dem abgrundtiefen Morast des Verlassenwerdens, der sie beinah verschlungen hatte. Stattdessen hat sie noch tiefer in den Wunden gebohrt, hat nicht lockergelassen: „Du warst immer so! Du wirst dich nie ändern!“ Diese Worte schneiden sich tief in ihre Seele. Bohren sich tief in ihren sowieso schon wunden Körper. Am Ende hat Elisa die ganz alten Geschichten hervorgeholt. Wie es früher war, wie Anna die kleine Schwester belogen und benutzt hatte. Dazu brauchte es nur ein paar Fragen: „Weißt du noch, wie du mich allein auf dem Kirschbaum sitzen gelassen hast?“ „Erinnerst du dich an diesen Schrank mit den großen Türen, in den du mich gesperrt hast, wenn du deine Ruhe haben wolltest?“

Ja, Anna erinnert sich. Sie weiß, wie gemein sie war. So gemein, wie die Älteren eben häufig zu den Kleineren sind. Sie war kein Engel, so viel ist klar.

Jetzt ist sie über dreißig und weiß nur eins: Sie kann nicht wieder gutmachen, was damals passiert ist. Die Wut ihrer Schwester kann sie verstehen, aber es gibt nichts, was sie tun könnte, um sie zu besänftigen. Sie sind beide längst erwachsen und können ihr Leben nicht wieder zurückdrehen, als wäre nichts passiert.

Anna weiß: Es muss etwas anders werden. Diese ganzen großen und kleinen Steinbrocken der Vergangenheit drücken zu schwer auf sie, haben bislang jede Liebe belastet, jede Beziehung ist daran zerbrochen. Da hat ihre Schwester schon recht. Aber ist sie darauf festgenagelt, für immer und ewig? Anna wehrt sich gegen diesen Gedanken. Sie will endlich nach vorn schauen und nicht ständig nur zurück. Sie hat noch nie einfach so aufgelegt, mitten im Gespräch. Sie spürt: Heute war es notwendig. Sie will nicht mehr in dieser Wolke aus Vorwürfen leben, die von innen und von außen kommen.

Sie geht auf den Balkon, schaut in den Sternenhimmel, sieht den warm leuchtenden Mond. Langsam wird sie ruhiger. Es tut ihr gut, sich als kleiner Teil des Universums zu fühlen. Da ist ein kleiner Stern, der scheint direkt zu ihr. Als ob Gott ihr damit sagen will: Lass alles hinter dir, was dich belastet und dir wehtut. Ich bin da. Ich halte meine Hand über dir. Ihre Augen füllen sich. Diesmal sind es heilsame Tränen, die ihr die Wangen hinunterfließen. Sie reinigen ihre Seele. Sie spülen aus ihr heraus, was sie belastet. Es klingelt an der Tür. Sie öffnet. Da steht Elisa mit zwei großen Schachteln in der Hand: „Ich habe Pizza mitgebracht, ich dachte, du hast vielleicht Hunger.“


Gott,

In deine Hände lege ich alles:

Was ich bin.

Was ich sein soll.

Was ich sein will.

Was ich nicht bin.

Du siehst

die feinen Wundspuren auf meiner Seele.

Die kaum vernarbten Verletzungen.

Die nicht vergebene Schuld.

Ich bitte dich:

Pflanze mir deine Liebe ins Herz.

Küsse meine Wunden.

Lass mich spüren, dass deine Vergebung

nicht nur den anderen, sondern auch mir gilt.

Lass mich glauben, dass ein neuer Anfang möglich ist.

Jetzt und jederzeit.

Amen

Reich gedeckt

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