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Raum schaffen

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Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn. Räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!

Jesaja 62,10

Sie hat mich zum Tee eingeladen.

Sie ist über neunzig und ihr Zimmer im Seniorenstift nicht größer als zehn Quadratmeter. Es riecht nach Desinfektionsmitteln, und die Medikamente auf dem Nachttisch erzählen von Nächten voller Schmerzen und Tagen, die manchmal nicht enden wollen.

Aber ihre Augen blitzen noch immer, wenn sie mir davon erzählt. Wie sie mit den anderen jungen Frauen Steine geschleppt hat. Damals, nach Kriegsende.

Ihre Männer, wenn sie nicht gestorben waren, waren noch in Gefangenschaft, verwundet oder kamen nach Hause als andere Menschen. Gezeichnet von einem Krieg, der einen Abgrund der Zerstörung in Europa aufgerissen hatte. Und ihre Frauen haben nach den langen Jahren voller Angst und Nächten in dunkelmodrigen Bunkern sofort angefangen, ihre Stadt wieder aufzubauen.

Tage, Wochen, Monate.

Langsam wurde aus der Ruine auf dem Hügel wieder eine Kirche. Lange war sie ohne Dach, aber Gottesdienst feiern konnte man trotzdem. Von denen träumt sie bis heute. Gemeinsam singen, beten. Gott loben. Inmitten einer zerstörten Stadt, aus enttäuschten Hoffnungen heraus.

Die jungen Frauen haben gespürt: Erst wenn der Schutt weggeräumt ist, kann Neues werden. Und sie haben angepackt. Davon lebt die Stadt bis heute.

Der Tee in unseren Tassen ist kalt geworden. Das macht nichts.


Gott,

ich möchte die Steine wegräumen.

Die großen und kleinen, die scharfkantigen und die weichgespülten.

Die Schutthaufen, die sich vor meiner Seele gesammelt haben.

Sie versperren mir die Sicht.

Sie sperren mich ein.

Sie wegzuräumen ist schwer.

Manche Kanten haben sich eingefräst.

Spuren in mir hinterlassen.

Ich beginne trotzdem.

Ich möchte herausgehen aus der Stadt, die mich gefangen hält.

Ich räume sie weg.

Stein für Stein.

Ich möchte offen werden für das, was DU mir versprichst:

DEIN Heil.

Heil werden.

Das wünsche ich in meinen tränenversunkenen Nächten.

Heil werden.

Versehrt und getröstet.

Hinaustreten in eine Nacht, in der ich mich von der Musik der Sterne

betören lassen kann.

Beschwingt und frei.

Die Steine wegräumen und hinaustreten.

Heil werden.

Die schwerste aller Übungen.

Die Propheten übten ein Leben lang.

Es gelang ihnen – kaum.

Gott, ich möchte die Steine wegräumen.

Meine Seele entrümpeln.

Raum geben.

DIR – und mir.

Amen

Reich gedeckt

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