Читать книгу Der Ultralauf-Kompass - Norbert Madry - Страница 11
Ist denn Erfahrung wichtig beim Ultralaufen? Ja und nein.
ОглавлениеEin gestandener Ultraläufer lässt sich in der Regel auf keine unausgegorenen oder einfach aus Marathonbüchern übernommenen Empfehlungen ein, ohne bei sich oder seinen glaubwürdigen Laufkumpels die empirische Probe auf’s Exempel gemacht zu haben. Dadurch, dass es kaum wissenschaftliche Studien gibt, die relevant für den Alltag des Ultraläufers sind, ist man praktisch darauf angewiesen, jeden hilfreichen oder scheinbar hilfreichen Tipp auszuprobieren. Und wenn man sowohl ein paar Ultralaufjahre und -Wettkämpfe als auch alle möglichen Erfahrungen mit »guten Tipps« gesammelt hat, ist man schon ziemlich gut darauf eingenordet, wie man sich in bestimmten Situationen eines Ultra-Wettkampfs oder eines Trainingszyklus verhalten sollte.
Erfahrung ist aber wie in anderen Bereichen auch im Ultralauf nur hilfreich, wenn man die gesammelten Eindrücke, Informationen und Erkenntnisse ausreichend reflektiert und dann beim nächsten Mal sein Verhalten ändert. Michael Sommer ist für mich das Paradebeispiel eines Ultraläufers, der aufgrund seiner Erfahrung in vielen Rennen optimale Ergebnisse rausgeholt hat und die relativ unerfahrenen jungen Wilden mit möglicherweise aktuell besserem Laufvermögen in Schach gehalten bzw. mit einem Lehrstück beschenkt hat. Zum Beispiel bei seinen Läufen bei den 100-km-DMs 2013–15 oder bei der WM in Doha/Katar 2014, als er Weltmeister der über 50-Jährigen wurde und absolut bester Deutscher war.
Manchmal ist es wiederum besser, mit der Naivität des Unerfahrenen ranzugehen. Es gibt einige Athleten, die ein paar »eherne Gesetze« der Ultralauf-Erfahrenen einfach durch eine unorthodox erbrachte Erst-Leistung gehörig ins Wanken gebracht haben.
Und es gibt da noch die Erfahrung, die sich im Körper des Ultraläufers verankert, ohne dass rationale Reflektion und Einsortierung stattfindet. Diese unterbewusste Erfahrung kann eher positiv oder eher negativ für künftige Ultraläufe sein. Ein Ultra-Novize kann so gesehen dann den Vorteil haben, dass er seinen Körper noch nie durch die stundenlangen Ausdauerleistungen getrieben hat und deswegen noch keine unbewussten Schutz-Routinen entwickelt hat, gegen die der erfahrene Ultra manches Mal mehr ankämpfen muss als gegen seine Lauf-Konkurrenten (siehe Frage »Kann ich das ganze Thema Mentaltraining nicht einfach mit meinem normalen Lauftraining erschlagen?«).