Читать книгу Der Ultralauf-Kompass - Norbert Madry - Страница 15
Gibt es Ultraläufer ohne Ehrgeiz? Angeblich ja, wenn man manche so über sich reden hört. Ich glaube: Ganz ohne Ehrgeiz ist bei uns Ultras niemand.
ОглавлениеDie Antwort auf die Frage nach dem Ehrgeiz hängt natürlich davon ab, was unter Ehrgeiz verstanden wird. Mein Verständnis von Ehrgeiz möchte ich an zwei Läufer-Typen illustrieren, die sich selbst als »reine Genussläufer« bezeichnen bzw. »heute nur reiner Trainingslauf« sagen und in der Regel jegliche Ambitionen von sich weisen.
Bei den Genussläufern ist meist mindestens der ausgeprägte Wille da, nicht nur ziemlich oft zu starten, sondern auch ziemlich oft zu finishen – wobei das Finishen eines Ultras ja bereits eine Leistung ist, die von weit mehr als 99,9% der Bevölkerung nicht (auf Anhieb) bewältigt werden könnte. Genussläufer laufen gern in Gesellschaft, gucken sich die Gegend an, bleiben für Erinnerungsfotos oder ein Schwätzchen am Verpflegungsposten schon mal länger stehen. Gegen Ende eines Rennens schalten jedoch viele Genussläufer dann eigenartigerweise doch auf »Wettkampf«, »Plätze gut machen« etc. um. Und gucken im Ziel auf die Zeitabstände zu ihren Spezis, um ihre aktuelle Leistung in einem Quervergleich einzuordnen – gar nicht so anders als die Leute weiter vorne!
Ähnlich ist es bei den »Trainings-Wettkämpfern«: Klar wollen sie heute nicht alles zeigen, verzichten freiwillig auf einen möglichen Top-10-Platz oder so, und halten sich auch anfangs schön zurück, aber auf den letzten 10 km, weil sie sich ja sehr zurückgehalten haben und noch viel mehr Reserven haben als die vor ihnen kämpfenden Läufer, müssen sie ihren Ehrgeiz schon echt im Zaum halten, um nicht noch »locker vorbeizuziehen« etc. – und oft lassen sie dann ihrem Ehrgeiz doch noch freien Lauf.
Wer Ultra-Wettkämpfe läuft, hat in meinen Augen immer auch den Antrieb, dieses keineswegs selbstverständliche Erlebnis auch mit einer feinen Leistung mindestens nach eigenen Maßstäben abzuschließen. Eine nach eigenem Ermessen feine Leistung abliefern heißt für mich: gesunder Ehrgeiz. Ehrgeiz gehört nun mal zum Sport, ansonsten würden wir ja nicht zu Wettkämpfen gehen.
Krankhaften Ehrgeiz, Verbissenheit und Missgunst gibt es natürlich auch unter Ultraläufern – das sind Leute, die sich eher an Platzierungen relativ zu Konkurrenten orientieren oder sich ständig überehrgeizige, weil für sie unrealistische Ziele setzen. Regelmäßiges Ultralaufen erzieht aber zu gewisser Demut und Dankbarkeit auch für Resultate, die nicht ganz so wie gewünscht ausgefallen sind, und daher sehe ich die Fraktion der verbissenen, missgünstigen und krankhaft ehrgeizigen Ultras ganz klar in der Minderheit.