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Eine gesellschaftliche Betrachtung


Die Gesellschaft war und ist das entscheidende Element innerhalb der benannten Tetradenabhängigkeit. Oder anders ausgedrückt, alle Abhängigkeiten, so wie zuvor beschrieben, sind Konsequenzen aus den gesellschaftlichen, subjektiven Einsichten, deren Struktur und deren stetigen Veränderungen. Das bedeutet aber auch, dass das, was die Gesellschaft möchte, das politische System nachhaltig beeinflusst. Dagegen ist ja im Grunde nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil, alle politischen Anstrengungen sind per Definition Dienstleistungen für die Gesellschaft. Wie ist es aber zu bewerten, wenn die Dienstleistung für die Gesellschaft wegen großer Abhängigkeiten untereinander nicht so erfolgen kann, wie es für die Gesellschaft notwendig wäre? Additiv kommt hinzu, dass die Komplexität bei Entscheidungen viel größer ist, als die Gesellschaft im Allgemeinen nachvollziehen kann. Wenn dem so ist, und dem ist so, dann dominieren in der Gesellschaft ideologische Überzeugungen{a} an Stelle von rationalem Denken. Ideologische Überzeugungen sind, im Gegensatz zu rationalem Denken, nicht notwendigerweise erklärend zu begründen. Ideologische Überzeugungen werden immer mehr zum Ersatz für Unkenntnis im Detail. Die Diskrepanz zwischen dem fehlenden Wissen in der Gesellschaft und dem notwendigen Wissen um entscheidungsfähig zu sein wird bei zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der dadurch zunehmend komplexer werdenden globalen Welt immer größer. Der juristische Grundsatz: „Ultra posse nemo obligatur“, (niemand darf zu etwas gezwungen werden, was seine objektiven Möglichkeiten übersteigt), geht noch einen Schritt weiter. Wenn dies auch bei politischen, demokratischen Entscheidungen Anwendung finden soll, dann fallen demokratische Wahlen in diese Kategorie. Dieses Faktum beschreibt indirekt die Grenze der demokratischen Möglichkeiten. Denn wird in Unkenntnis entschieden, dann sind die Ergebnisse zufällig oder nur der Werbung und nicht dem Inhalt zuzuordnen.

Folgender Satz fasst die gesellschaftliche Problematik zu diesem Thema deutlich zusammen.

Besonnenheit{b} ist eine der höchsten Tugenden der Wissenden, während ideologische Überzeugungen insbesondere den inhaltlichen Dilettanten kennzeichnet.{5}

Bei den Besonnenen behält der Verstand die Oberhand und ermöglicht ganzheitliche Betrachtungen. Individuelle, ideologische Überzeugungen ersetzen zunehmend die notwendige ganzheitliche Betrachtung. Spätestens dann, wenn diese Faktenlage besonders stark ausgeprägt ist, stellt sich die Frage, ob die aktuellen demokratischen Strukturen noch zeitgemäß sind. Mit dieser Grenzbeschreibung demokratischer Strukturen soll auf keinen Fall zum Ausdruck gebraucht werden, dass die Demokratie von heute auf morgen abzuschaffen ist. Es sollen vielmehr Überlegungen angestoßen werden, die das demokratische System verbessern und von ideologischen Überzeugungen unabhängiger macht.


Kommen wir zu weniger tiefgründigen Beschreibungen der gesellschaftlichen und politischen Situation. Die gesammelten politischen Puzzleteile während meiner Zeit im rheinland-pfälzischen Parlament passen exakt zu den tiefgründigen Beschreibungen. Ein Abgeordneter ist nicht nur in der Fraktion und im Parlament, er ist insbesondere mitten in der Gesellschaft, an Stammtischen, Bürgerversammlungen, in Vereinen, im privaten Umfeld, er trifft Bürger bei eigenen Bürgersprechstunden, bei unterschiedlichen Treffen und Versammlungen der Partei, er trifft ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker im Ortsgemeinderat, Verbandsgemeinderat und im Kreistag. Eine breite Palette von persönlichen Kontakten. Dass dabei nicht nur offiziell gesprochen wird, versteht sich von selbst. Private Erfahrungen werden dabei selbstverständlich ausgetauscht.

Selbst bei gebildeten Personen wird oft nicht der politische Zusammenhang gesehen, sondern die singuläre eigene Vorstellung steht dabei häufig im Mittelpunkt. Aber auch flache Formulierungen wie: „Das Ganze drumherum ist mir sowas von egal, wichtig ist, dass mein Wunsch in Erfüllung geht.“ Selbst vor negativen persönlichen Äußerungen wird nicht zurückgeschreckt. So zum Beispiel: „Wenn du wieder gewählt werden willst, dann setze das um, was ich mir wünsche. Ob du ein „Schwarzer“, „Roter“, „Grüner“ oder wer auch immer bist, das ist bei meiner Entscheidung vollkommen unwichtig. Der, der mir hilft wird gewählt.“

Wenn man dann einfach mal zurückfragt: „In welcher politischen Ebene kann deiner Meinung nach deinem Wunsch entsprochen bzw. umgesetzt werden?“, dann kommt auch bei gebildeten Personen häufig ein Achselzucken. Oder wenn man weiter fragt: „Welche Personen haben deiner Kenntnis nach einen Nachteil, wenn dein Wunsch umgesetzt werden würde?“, dann kommt oft die Antwort: „Das weiß ich nicht und ist mir aber auch sowas von egal.“ Die wenigen Beispiele zeigen, dass bereits heute das ganzheitliche Denken dem egoistischen zum Opfer fällt.

Andere Beispiele. Gehen wir mal weg vom egoistischen Denken. Gehen wir mal in den Bereich weltanschaulicher Aktivitäten. Die Themen Umwelt, gesellschaftlich, soziale Aspekte und aber auch Migration müssen eine wichtige Stellung in unserer politischen Diskussion haben. Zu großen Teilen wird aber bei der Bevölkerung ein schmalbandiger Weg beschritten. Die eigene Weltanschauung steht dabei im Mittelpunkt. Es gibt für viele keine anderen Themen, die eine Wechselwirkung mit dem eigenen Thema haben und somit beachtet werden müssen. Die eigenen Gefühle zu leben und nicht in Abhängigkeiten zu denken, ist doch viel einfacher.

Diese Erfahrungen, generiert aus den beschriebenen, gesellschaftlichen Verhaltensweisen, sind für mein kritisches Hinterfragen aktueller demokratischer Strukturen mit verantwortlich.

Erosion und Exitus der gelebten Demokratie

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