Читать книгу Erosion und Exitus der gelebten Demokratie - Norbert Mittrücker - Страница 7
ОглавлениеMotivation
Erkenntnisse kommen nicht von heute auf morgen. Sie setzen sich aus vielen Puzzleteilen zusammen, die zeitlich versetzt auftreten. Je mehr Puzzleteile man zu einem bestimmten Thema sammeln kann, desto größer wird der Aufwand, sie zusammenzusetzen, aber umso deutlicher wird danach das gesamte Bild.
Wenn man dann noch wissenschaftliche Expertisen zu diesem Thema spiegelt, dann lassen sich Prognosen und Erkenntnisse formulieren, die durchaus faktenbasiert sind. Denn nur gefühlsmäßige, weltanschauliche Grundlagen für Prognosen zu verwenden, ist nicht hinreichend.
Darüber hinaus hat mich ganz besonders das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Wissenschaft, gerade auch vor dem Hintergrund der Coronakrise, motiviert. Hier wurde besonders deutlich, dass wissenschaftliche Antworten und dies abgekoppelt vom Wählervotum notwendig sind, die im parlamentarischen Alltag nicht vergleichbar genutzt werden. Optimal wäre es natürlich zudem, wenn sich die Wissenschaft untereinander besser abstimmen würde. Um den notwendigen politisch, wissenschaftlichen Austausch zu verstetigen, bedarf es in demokratischen Systemen einer neuen wissensbasierten Struktur und dies nicht nur im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik, sondern auch innerhalb unterschiedlicher Disziplinen in der Wissenschaft.
Ich war 20 Jahre Mitglied im rheinland-pfälzischen Landtag und konnte 20 Jahre lang ähnliche Erfahrungen sammeln. Diese Erfahrungen sind natürlich nur eine Teilmenge der politischen Puzzleteile, die ich jetzt in meinem Unruhestand zusammensetzen kann. Um welche politischen Puzzleteile handelt es sich darüber hinaus? In aller Regel sind das Aussagen und Verhaltensweisen von Wählerinnen und Wählern, insbesondere aber auch Landtagskollegen aus allen Fraktionen sowie Statements von Seiten der Presse und Regierungsmitgliedern sofern sie sich privat fühlen und nicht dafür in Haftung genommen werden können. Ein gewinnbringendes Verhalten, Argumentieren und Entscheiden ist bei den oben beschriebenen Personen die Grundlage zum politischen und wirtschaftlichen Überleben. Dabei geht es um den Mehrwert für Wählerinnen und Wähler, um den Mehrwert für die eigene Partei, den Mehrwert für die Regierung und den existenziellen Mehrwert für die Presse. Diese Erkenntnisse greife ich in anderen Kapiteln erneut auf.
Worin liegt meine Motivation, meine Erkenntnisse zusammenzutragen? Wenn man in der Gesellschaft und insbesondere im politischen Bereich das gewinnbringende Verhalten, Argumentieren und Entscheiden vieler Ebenen inklusive der Gesellschaft privat anspricht, dann erhält man Zustimmung zu diesen Erkenntnissen. Aber dies im Kontext zusammenzutragen und öffentlich zu formulieren bzw. zu kritisieren ist nicht opportun. Denn die Gefahr besteht, dass man als demokratiefeindlich abgestempelt wird. Und genau deswegen bin ich motiviert die Lücke zu schließen.
Um gleich der Kritik vorzugreifen, ja ich habe es in meiner aktiven Zeit als Politiker auch nicht öffentlich formuliert. Diese Kritik lasse ich allemal gelten. Auf der anderen Seite muss man aber die Puzzleteile sammeln und dazu gehört die aktive parlamentarische Zeit, um im Kontext schreiben zu können.
Begründung
Meine Ausführungen begründe ich mit der Überzeugung, dass es aktuell kein Entrinnen aus dem in allen Bereichen gewinnbringenden Verhalten, Argumentieren und Entscheiden gibt. Wäre dieses gewinnbringende Entscheiden problemlos und ohne Nebenwirkungen, dann hätten sich diese meine Ausführungen erledigt. Dem ist aber leider nicht so. Das reine additive Zusammenführen von Wünschen, die durch unterschiedliches, gewinnbringendes Verhalten und Argumentieren deutlich werden, ist gesellschaftlich und politisch nicht zielführend. Das bedeutet, es entstehen Zufallsergebnisse und keine auf Fakten basierte, logische Entscheidungen. In unserer immer komplexer werdenden Welt sind Entscheidungen, die mit großer Wahrscheinlichkeit dem Zufall zuzuordnen sind, nicht gewinnbringend. Im Gegenteil.
An dieser Stelle muss ergänzt werden, dass das gewinnbringende Verhalten, Argumentieren und Entscheiden aller Bereiche eine starke wechselseitige Abhängigkeit und Bindung haben.
Siehe hierzu Kapitel II Grundlagen, Tetradenabhängigkeit im demokratischen System.
Darüberhinaus überfordert die Komplexität unserer Welt den größten Teil unserer Gesellschaft. Selbst die politisch Handelnden ziehen häufig das Gewinnbringende dem politisch Notwendigen vor. Das ist der Tatsache geschuldet, dass die Komplexität unserer Welt quadratisch steigt, aber der durchschnittliche Wissensstand bzw. das Denken im logischen Kontext, also die Bildung im Allgemeinen, maximal linear steigt. Die Schere zwischen diesen beiden Erkenntnissen geht immer weiter auseinander. Deswegen werden Entscheidungen getroffen, die nicht an der Komplexität, sondern am durchschnittlichen gesellschaftlichen Wissensstand orientiert sind. Man will bzw. muss ja punkten.
Diese ausgewählten Puzzleteile ergeben ein Bild, das meine Ausführungen in diesem Buch begründen.
Hypothese
Meine Hypothese ist mit dem Titel dieses Buches „Erosion und Exitus der gelebten Demokratie“ bereits beschrieben, aber natürlich nicht begründet. Was haben die aufgezählten Puzzleteile
– das gewinnbringende Verhalten, Argumentieren und
Entscheiden dokumentiert direkte und wechselseitige
Abhängigkeiten
– es gibt aktuell kein Entrinnen aus dem
gewinnbringenden Verhalten, Argumentieren und
Entscheiden, die Abhängigkeiten bleiben
– die aktuelle und insbesondere die zukünftige
Komplexität unserer Welt überfordert den größten Teil
unserer Gesellschaft
– es werden Entscheidungen getroffen, die nicht an der
Komplexität sondern am durchschnittlichen
gesellschaftlichen Wissensstand orientiert sind
mit meiner Hypothese zu tun?
Abhängigkeiten sind kein Garant für richtige Entscheidungen. Die Abgeordneten, die handelnden Personen in den Regierungen, die Presse und die Gesellschaft sind wechselseitig voneinander abhängig. Eine detaillierte Beschreibung hierzu, finden Sie in Kapitel „Tetratenabhängigkeit im demokratischen System.“
Die Gesellschaft ist die Basis für Abhängigkeiten, die bei politischen Entscheidungen zu minderwertigem Niveau führen können und in Teilen bereits führt. Gründe hierfür findet man in der Tatsache, dass die Gesellschaft das Wissen nicht vorhalten kann, das man braucht, um weitreichende Entscheidungen treffen zu können. Dadurch gibt es eine stetig steigende Entkopplung zwischen den politisch notwendigen Entscheidungen und den Entscheidungen, die durch Abhängigkeiten erzeugt werden. Legt man ein weiteres Puzzleteil, linear steigende, durchschnittliche, gesellschaftliche Bildung, aber quadratisch steigende Komplexität unserer Welt, zu Grunde, dann haben in einem überschaubaren Zeitraum die demokratisch gefundenen Entscheidungen keine weiterführende Effizienz. Diktatorische Regierungsformen unterschiedlicher Ausprägung finden dann in einer statistischen Wahrscheinlichkeit bessere systemische Entscheidungen. Auch dieses Faktum führt indirekt zur Erosion der gelebten Demokratie. Der Exitus kann nicht ausgeschlossen werden.