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Der Mensch als Multichannel-Manager
ОглавлениеDer erste Effekt davon: Es gibt noch viel, viel mehr zu verarbeiten. Schon so ein ganz normaler Mensch, dem man gegenübersteht, ist ganz schön viel Stoff. Gut, die Arbeitskollegen da drüben, die hat man schon mal gesehen, schon mal vorsorglich eingeordnet, da hängen auch schon ein paar Beziehungsfäden lose und unsichtbar im Raum. An ihnen kann man anknüpfen. Auch inhaltlich. Man weiß ja, wer gerade in Thailand war und wer neuerdings Veganer ist. Instagram. Ah, und bei dem anderen da vorne, da muss man sich ja noch entschuldigen. Wer weiß, ob man sich nicht nochmal über den Weg läuft. Es gibt viel zu tun – für das Gehirn. Wenn man Bekannten begegnet. Wenn man aus Fremden erst Bekannte machen muss, umso mehr. Sicherheitshalber also mal so tun, als wäre man so wie der andere. Der Prozess der Anpassung startet sofort: gestisch, stimmlich, inhaltlich. „Ich liebe Thailand.“ Doch zunächst muss man ja erst einmal zwischen Freund und Feind unterscheiden, noch dazu innerhalb von Millisekunden. Und ob der Freund auch als Fortpflanzungspartner infrage kommen würde. Da würde es schon helfen, wenn der nur ruhig dastehen würde für einen entspannten Ganzkörperscan mit Augen, Nase, Ohren. Aber sie müssen sich ja auch noch bewegen. Und ihre Codes, die sie senden, auf mehreren Ebenen unverständlich vermischen. Einiges versteht man zwar von selbst, das entlastet den Arbeitsspeicher. Wenn etwa die Augenbrauen wie Leuchtstifte doppelt unterstreichen, was sich weiter unten im Mund gerade lautlich zusammenreimt. Die zarten Komplimente, die dummen Fragen, die dreisten Lügen. Doch nicht alles, was der andere in diese lautlichen Container, in diese Worthülsen steckt, erschließt sich so schnell wie weit aufgerissene Augen. Obwohl man doch gelernt hat, wie man all diese Wörter fein säuberlich entschlüsselt. Doch dann streuen die Menschen ständig noch Hinweise auf sich selbst in den Raum. Wer sie denn sind, sozial gesehen. Oder auch wer sie gern sein würden. Auch das muss einer erst richtig verstehen. Vor allem muss man auch mal einordnen, ob dieses Gesicht, die Emotionen, die es zeigt, und das, was der Mund lautlich von sich gibt, überhaupt einen selbst betrifft. Oder nicht doch jemanden, der gar nicht da ist, mit dem er aber unsichtbar über das Handy verbunden ist.
Kein Wunder, dass der interne Taskmanager im Alltag manchmal eines der aktivierten Programme automatisch abstellt, wenn der Arbeitsspeicher überkocht. Da geht sich dann in der Früh im Stiegenhaus eben nur das eine oder das andere aus. Das „Guten Morgen“ oder das In-die-Augen-Schauen. Beides gleichzeitig, nur wenn man wirklich gut geschlafen hat. Und wenn nicht gerade noch ein Dritter auf dem Smartphone genau so viel Aufmerksamkeit einfordert wie der, der gerade an einem vorbeigeht. Dann wird’s halt doch wieder kein Gespräch, denn zumindest Augenkontakt hätte es schon gebraucht, damit eines entstehen kann. Man kann aber die kognitive Verweigerung auch als Vorsichtsmaßnahme verstehen. Denn so ein Gespräch ist ja wie ein Projekt. Ist es erstmal eröffnet, muss man auch durchhalten bis zur Schlusszeremonie. Manchmal verstrickt einen schon Hunger und Durst zwangsläufig in die nächste menschliche Interaktion. Wenn man einen Kaffee braucht, eine frische Semmel oder eine Richtungsangabe, für alle Fälle hat man ja seinen imposanten kommunikativen Werkzeugkasten dabei. Falls auch das Smartphone versehentlich in der Sofaritze zuhause geblieben ist, bleiben einem noch immer Deuten, Reden, Rot-Anlaufen und verlegenes Lächeln, wenn sonst gar nichts mehr hilft. Aber selbst wenn man zuhause bleibt, kann theoretisch das nächste Kommunikationsprojekt vor der Tür stehen. Auch wenn nur der Amazon-Bote sein Packerl abliefert. Oder der Nachbar klopft, weil er ein Packerl abliefert. Überraschende persönliche Check-ins an der Wohnungstür aus anderen Gründen sind selten geworden. Selbst in der Beziehungspflege ist der unerwartete Hausbesuch eher unbeliebt. Und anachronistisch. Kein Wunder, wenn für manche sogar Anrufe schon ähnlich „invasiv“ wirken, wie wenn es an der Tür klopft. Denn beides nötigt – zur Kommunikation: Die Tür vor der Nase zuknallen, das darf man – nach der allgemeinen sozialen Vereinbarung – noch weniger, als im Gespräch einfach auflegen. Eine soziale Interaktion, auch an der Haustür, ist trotzdem Arbeit, nämlich „Facework“.
Das ist ein Begriff aus der Soziologie. Denn kaum ist ein anderes „Face“ im Spiel, muss man ja das eigene, das soziale nämlich, auch bewahren. Und wenn es droht zu bröseln, heißt es rechtzeitig dagegenarbeiten. Aber nicht nur das: Um das Gesicht des anderen muss man sich auch noch kümmern. Selbst das sollte in einer gelungenen Interaktion keine Risse bekommen. Deshalb darf man sich im Gespräch nicht einfach umdrehen und gehen, wenn man etwas gefragt wird. Nur mit intaktem Gesicht aus der ganzen Interaktion wieder rauszugehen, fühlt sich gut an. Das produziert natürlich auch Stress und in der jeweiligen Situation einen gewissen Erfolgsdruck. Noch so ein Vorteil, den sich die neuen zusätzlichen Kanäle zunutze machen: Digitales „Facework“ ist weniger anstrengend. Man kann in Ruhe nachbessern, modellieren und bestimmte Entwürfe vom Selbstbild, das man nach außen abgeben will, ausprobieren. Doch solange man sich das, was man bei Amazon bestellt, nicht selbst zuhause im 3-D-Drucker ausdrucken kann, wird vielleicht noch immer jemand unangekündigt vor der Tür stehen. Und das braucht nun mal auch ein Minimum an kognitivem Aufbäumen – nach einem langem Arbeitstag, an dem man mit seinem Beruf, dem eigenen „Face“ und jenem der anderen beschäftigt war.
Die kognitive Überforderung ist natürlich persönlichkeitsbedingt, phasenbedingt, altersbedingt, stimmungsbedingt. Doch Menschen in Interaktionsberufen sollen besonders burn-out-gefährdet sein, solche wie Lehrer, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter. Daten zu Frisören sind noch nicht vorhanden. Doch auch Menschen in diesen Berufen müssen einmal nach Hause. Und auf dem Weg dorthin sind sie schon wieder: all die fremden Menschen, mit denen die Interaktion ja noch anstrengender ist. Da hilft nur Stand-by-Modus. Oder das zu tun, was alle tun: im Gesicht auf unentschlossenes Testbild schalten. Vor allem in der U-Bahn, dem beliebtesten Transportmittel in Habitaten, die überhaupt fast ausschließlich von Fremden bewohnt zu sein scheinen. Noch dazu in unglaublicher Dichte. Weil ökonomische und logistische Zwänge die Menschen ziemlich unregelmäßig auf dem Planeten verteilt haben. 50 Prozent der Weltbevölkerung leben inzwischen in Gegenden, wo „Dichtestress“ auch schon mal zum „Unwort des Jahres“ gewählt wurde. Zugegeben, das ist in der Schweiz passiert. Wo man so ein Phänomen vielleicht gar nicht so sehr erwartet hätte wie vielleicht in Hongkong. Aber gerade in der Schweiz ist auf der Zeichenebene noch etwas Erstaunliches passiert: Im selben Jahr, es war 2014, wurde ein Wort zum „Wort des Jahres“ gekürt, das eigentlich nur ein Zeichen ist: #. Also: Hashtag. Mit anderen Worten: #dichtestress begleitet die Menschen durch den Alltag in den Städten. Deshalb arbeiten Menschen in gewissen Habitaten ebenso intensiv daran, sich aus dem Weg zu gehen, wie in anderen daran, sich bitteschön möglichst über den Weg zu laufen.
Zum Glück stecken viele außerhalb ihrer Wohnung schon in der ersten Schutzschicht drin: in der „sozialen Haut“, in die man eigentlich schon schlüpft, wenn man morgens aus dem Badezimmer kommt. Aber spätestens am Arbeitsplatz steckt man dann noch tiefer drin, in seiner sozialen Rolle nämlich. Und die definiert auf dem Weg durch den Tag auch mit, von wem und mit welchen Themen man angesprochen werden kann. Vor allem auch zu welcher Uhrzeit. Wenn man um zwei Uhr nachts als Hotelportier arbeitet, kann man sich dem Gespräch nicht ganz so gut verweigern. Ebenso wenig als Krankenschwester im Nachtdienst.
Für mundfaule Stunden und Phasen, in denen man sich nicht zu sehr aus dem virtuellen Raum zurück in die Realität lehnen will, hat sich der Mensch jedenfalls ein paar praktische Ausweichmanöver zurechtgelegt. Als Survival-Kit für den Daten-Overflow von sozialer Information in Großstädten. Schließlich will man es mit begrenzter Akkukapazität im Kopf abends noch rechtzeitig nach Hause schaffen. Dankenswerterweise haben die Architekten schon ein paar Wände deponiert. Und dazwischen kann man seine „soziale Haut“ in der „dritten Haut“, so nennt man auch die Architektur, schweigsam ein wenig erholen lassen. Wände wirken wunderbar kontaktvermeidend. Auch in Büros. Aber dort, hat man festgestellt, wirken offene Konzepte, ganz ohne Wände, auch nicht anders. Man redet weniger, schreibt dafür mehr E-Mails, weil man gar so exponiert ist. Den Rest der Kontaktvermeidung erledigt man mit den tragbaren Notausgängen, den Smartphones, die sich evolutionär durchgesetzt haben. Wenn’s ernst wird, kann man in sie schlüpfen. Der einzige Nachteil: Der Körper bleibt zurück. Den Weg aus dem Hier und Jetzt hinaus geht man trotzdem gerne. Schließlich will man ja auch nichts verpassen, dort, wo man selbst nicht ist. Denn noch eine Lektion hat die Evolution den Menschen mitgegeben: Nichts zu verpassen erhöht schon wieder die Chance zu überleben. Deshalb hat die Natur dem Menschen das Gesicht auch nach vorne ausgerichtet. Hätte sie mit dem Handy gerechnet, wäre ein Neigungswinkel von 45 Grad allerdings vorteilhafter gewesen. Die gestreute Aufmerksamkeit, zielführend in der Savanne, anstrengend in der Gegenwart. Da wäre die digitale Kommunikation gerade recht gekommen. Um Stress zu vermeiden und sich trotzdem irgendwie sozial zu verhalten. Soziales Management mit geringerem Aufwand, so war’s gedacht. Schade nur, dass die effizienzsteigernden Mittel selbst Stress erzeugen. Weil der Mensch nicht mit sich selbst gerechnet hat. Und damit, was das Dopamin im Gehirn mit ihm anstellt: Je mehr Kanäle sich der Mensch freigeschaltet hat für die Kommunikation, desto weniger will er auf jedem einzelnen etwas verpassen. Das hat sich sogar bis zu einem Angstzustand unter Jugendlichen ausgewachsen, zur „Fear of Missing Out“, kurz „FoMO“.7