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Lesen, schreiben, digital kommunizieren
ОглавлениеUmgangsformen regeln, wie man Zeichen miteinander austauscht. Dabei sind nur ein kleiner Teil davon die sprachlichen. Der Begriff „Konversation“ hat früher überhaupt den Umgang miteinander beschrieben, nicht nur jenen, den man durch ein Gespräch pflegt. Inzwischen machen sich kleine Unsicherheiten breit, nicht nur darüber, ob die Zeichen, die man sendet, überhaupt ankommen. Sondern auch darüber, was es für den anderen bedeutet, wenn man sie sendet. Vor allem wenn man sie nun quer durch alle Uhrzeiten des Tages und Kontinente des Planeten verschicken kann. Schneller, als man denkt, ist man beim letzten Update wieder zum kommunikativen Analphabeten geraten. Zum Glück will da auch manche offizielle, staatlichen Stelle entgegenwirken: Indem sie etwa „Digital Literacy“ großspurig als Ziel der Volks- und Allgemeinbildung ausgibt – also die Kompetenz, Informationen adäquat über digitale Plattformen zu verfassen, zu senden, zu finden und zu bewerten.31
Die Digitalisierung der Kommunikation, sie ist nun mal ohne Gebrauchsanweisung eingerauscht. Und so drastisch und so schnell, dass man gar nicht sanft überleiten konnte, von der einen in die andere Ära. Netterweise haben viele der digitalen Kanäle zumindest eine ganz typische Designstrategie verwendet, um das Neue nicht ganz so furchterregend wirken zu lassen. Man tat einfach so, als wäre man irgendwie ohnehin noch analog. „Skeuomorphismus“ heißt der Ansatz im Design, bei dem man versucht das „Neue“ zu etablieren, indem man das „Alte“ zitiert. Bei Auto und Kutsche hat das auch schon einmal geklappt. Ansonsten hätte man den Briefkasten für Sprachnachrichten nicht Mailbox genannt. Oder den Papierkorb einfach dorthin versetzt, wo es gar kein Papier mehr gibt: auf den „Desktop“ des Computers, den Schreibtisch, der ja selbst auch keine vier Tischbeine mehr hat und niemals wackelt. Auf ihm jedenfalls stehen die „Ordner“, in die man alles ablegen kann. Und die nur auf der Festplatte Platz brauchen, nicht im Regal. Auch die Sprechblasen auf dem Handydisplay suggerieren: Hier wird noch geredet, obwohl längst geschrieben wird. Nur eines ließ sich scheinbar nicht so leicht in die digitale Ära übertragen: die Benutzungskultur der Sprache und der analogen Kommunikationskanäle.
Was durchaus leichte Verwirrungszustände zurücklassen kann. Selbst bei jenen Menschen, die andere beobachten – aus wissenschaftlichen Gründen. Und eigentlich den unausgesprochenen gesellschaftlichen Auftrag bekommen haben, das alles für uns einzuordnen, was sich da so rasant dreht und wendet – im Feld der Kommunikation. Doch gerade waren die Soziologen noch damit beschäftigt zu ergründen, was die „Mediatisierung“ der Gesellschaft bedeutet, widmen sich dieselben Soziologen schon der „De-Mediatisierung“. Untersuchen also, wie sich Menschen der ständigen digitalen Verbundenheit entziehen. Zu definieren gibt es jedenfalls für die Forschung noch eine Menge: Was ist denn überhaupt noch eine Interaktion? Und ist eine Situation auch noch sozial, wenn der eine Interaktionspartner gerade an der Supermarktkassa steht und der andere am Strand? Vor allem aber: Unter welchem Namen kann man das alles in der Schublade verstauen – all diese Kommunikationsformate? Auf „mediatisierte Kommunikation“ hat man sich schließlich geeinigt. Denn was allen neuen digitalen Kanälen gemeinsam ist: So verbindend sie auch sein sollen, tatsächlich schiebt sich ja immer etwas dazwischen, ein Screen, ein Display, ein Medium. Ein paar Jahre zuvor wollten die Kommunikationswissenschaftler das Phänomen noch mit „computervermittelte Kommunikation“ etikettieren. Aber schon nach kurzer Zeit konnte man kaum noch neue Formate in derselben Schublade ablegen. Weil sie einfach nicht mehr passen wollten. Etwa weil sich die digitale Kommunikation – wie die Telefonie Jahre zuvor – vom Kabel losgerissen hatte. Und damit auch von jenem Gegenstand, der vermeintlich als Voraussetzung für die neue Kommunikation galt, dem Computer.
An welche Fixpunkte man sich sonst noch so halten konnte beim Miteinanderreden, das war lange auch klar: Man wusste, wie man sich zueinander positioniert, wohin man schaut und was es bedeutet, wenn man woanders hinschaut als dorthin, wo es der andere erwartet. Anstarren, außer Babys und Handys? Lieber nicht. Ich und du, was zwischen uns passieren könnte, war gut geregelt. Der eine wusste, wann er den anderen ansprechen darf. Und der andere wusste, ob er antworten muss. Auch zu welcher Uhrzeit. In der Nacht waren dazu eher Menschen genötigt, die noch in ihren beruflichen Rollen stecken, wie Nachtportier oder Barkeeper. Ansonsten: lieber schlafen lassen. Für die höfische Konversation beim französischen König gab es natürlich auch Konventionen, etwa: Nur reden, wenn man gefragt wird, was im 19. Jahrhundert in den Benimmbüchern auch meistens generell für Frauen galt. Aber auch zwanglosere Formate als königliche Tischzeremonien folgen einer Regie von Regeln. Etwa so: Wenn man ein Gespräch eröffnet, sollte man es auch möglichst abschließen. Außer man will Verwirrung stiften. Oder es ist Kunst. Türzuschlagen oder Telefonhörerauflegen gilt dabei nicht. Nur wenn es wirklich nicht anders geht, rein emotional gesehen. Selbst das Gefühl, wann genug geredet ist, alles gesagt, oder es Zeit ist zu schweigen, hat einen oft nicht getäuscht. Der Abstand zueinander, zumindest innerhalb eines Kulturkreises, ergab sich in vielen Fällen auch fast wie von selbst. Ebenso hat man mit der eigenen Geburt stumm eingewilligt, dass man für manche Nachrichten Briefmarken aufklebt, wenn man will, dass sie auch überbracht werden. Außerdem hat man im Lexikon oder auf Wikipedia gelesen, dass es einmal so etwas wie Telegramme gegeben hat und dass das ziemlich revolutionär gewesen sein muss. Vor allem die Sache mit dem Überseekabel. Die Oma während der Hauptnachrichten im Fernsehen anzurufen, war oft auch keine gute Idee, wenn man die Oma bei Laune halten wollte. Oder ihr zu verstehen zu geben, dass etwas passiert sei, indem man trotzdem anrief – selbst darin war man sich mit vielen anderen und ihren Omas einig.
Und noch mehr kollektive Einigkeit: Dass Fernsehen dumm und unsere Kinder dick macht, auch daran haben wir ein paar Jahre gar nicht gezweifelt. In manchen Kulturen hat man sich sogar darauf verständigt, dass man einen Kanal abschaltet, wenn ein anderer an der Tür läutet. Also den Fernseher aus, wenn Gäste kommen. Die Regel stammt jedoch aus Zeiten, als Gespräche scheinbar noch automatisch das verlangten, was der Soziologe Erving Goffman in menschlichen Interaktionen als „Engagement“ bezeichnete. Nämlich dass man sich auf die Interaktion auch einlässt, seine Konzentration sowie seine „kognitive und visuelle Aufmerksamkeit“ auch darauf ein- und ausrichtet.32 Auch das eine Gesicht auf das andere kann schon helfen. Natürlich waren stets auch „Nebenengagements“ erlaubt: zu Reden und dabei die Katze auf dem Schoß zu streicheln. Beim Gespräch aber ein anderes auf dem Handy zu führen, oder auf dem Smartphone gleichzeitig nach interessanteren Themen zu suchen: eher unerwünscht. Wobei: Diese Regel dürfte wiederum nur eine Generation unterschrieben haben, für die „Switchen“ noch ein Erlebnis war, das aus zwei Kanälen am Fernseher bestand.
Wie viel Schweigen Gespräche gerade noch vertragen, auch das hat man meist richtig austariert. Und wann man selbst wieder mit Schweigen dran ist, selbst da ist man selten falsch gelegen. Wann man nicht mehr antworten muss, das war auch klar in den meisten Fällen. So lange, bis neue Medien sich in den Katalog der Kommunikationsmöglichkeiten mischten. Vor allem wenn es welche waren, die Schweigen oder Nichtantworten nicht so gut vertragen. Telefonieren etwa. Oder Chatten. Auch Anschreien per SMS hat sich trotz Großbuchstaben und Rufzeichen in der Benutzungskultur nicht durchgesetzt. Dafür aber, sich kurz zu halten, aber dafür war das „Short“ im Namen („Short Message Service“) schon Hinweis genug. Weniger Andeutungen, ob das Gespräch jetzt schon aus ist oder doch noch ein wenig schwelt, findet man oft in WhatsApp-Chats. Im Sinne von „always on“ ist es meist nie richtig zu Ende gegangen. Schon vor der digitalen Kommunikation musste man sich das Telefon mit eigenen Verhaltensweisen erarbeiten, sich zunächst einmal ausmachen, dass ein „Hallo“ am Anfang des Gesprächs helfen kann. Damit der Anrufer auch weiß, dass man empfangsbereit ist. Aber dann wurde es bald schon komplizierter, vor allem als sich die Kommunikation vom Kabel losgerissen hat. Dann tauchten solche Benutzungsfragen auf wie etwa: Wo darf ich eigentlich sprechen? Vor allem, wenn ich Privatgespräche plötzlich mit dem Handy vor die Tür trage. Wird dann nicht jedes Gespräch automatisch ein wenig zur öffentlichen Angelegenheit? Muss ich immer abheben, nur weil ich erreichbar bin? Oder immer gleich zurückrufen? Oder lieber gleich abheben, um zu sagen: „Ich ruf’ gleich zurück.“ Darf man heute anderen noch auf die Mailbox sprechen? Oder ist das schon so ähnlich, wie unerwartet vor der Tür zu stehen? Und wenn ich etwas aufspreche, darf ich dann um einen Rückruf bitten? Oder versteht sich das von selbst, weil ich ja angerufen und kein Mail geschrieben habe?
Mailboxen zu besprechen könnte schon fast als kleine kommunikative Nötigung durchgehen. Schließlich muss man sich Mailboxnachrichten wie Amazon-Packerl meist selbst abholen. Verbindlich dazu geäußert hat sich bislang kein Experte für Umgangsformen, schwierig auch in Zeiten, in denen das Merkmal Unverbindlichkeit zur Information meist ungefragt mitgeliefert wird. Die ständige Erreichbarkeit multipliziert nicht nur die Situationen, in denen Anrufe ungelegen kommen, sondern auch jene, in denen man keine Zeit hat, die Mailbox abzurufen. Die Benutzungskulturen vieler neuer Kommunikationsformate hatte gar keine Zeit, verbindlich einzurasten. Kaum wollte sich fast so etwas wie eine Konvention verankern, war plötzlich ein neues Medium da, das an den Benutzungsregeln des alten erst recht wieder rüttelte. Kein Wunder, dass die Menschen eine Phase lang E-Mails schrieben, als würden sie tatsächlich noch in Briefkästen landen. Und dass noch heute Menschen WhatsApp-Nachrichten schreiben, als würden sie damit eine Mailbox füllen wollen.
Manchmal stehen auch jene ratlos vor den Umbrüchen und kommunikativen Ereignissen, die selbst täglich beobachten und anleiten, wie Menschen miteinander umgehen. Wenn sie reden, aber auch wenn sie sich nur körperlich einschwingen, noch dazu im Takt: beim Tanzen. Jedenfalls auch eine Form von Kommunikation. Nicht nur bei Bienen. Roman Svabek leitet die Tanzschule Svabek in der Wiener Liechtensteinstraße. Schon von Berufs wegen interessiert er sich für Choreografien. Für jene auf dem Parkett genauso wie für jene, die der Alltag schreibt. Von Mensch zu Mensch. Beim gemeinsamen Sitzen am Tisch wie auch beim eleganten Aneinander-Vorbeigehen. Auch die Eröffnung des Wiener Opernballs hat er einige Male choreografiert und geleitet. Svabek gibt in Kursen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nicht nur Schrittfolgen mit, sondern auch Anhaltspunkte zu jenem Parkett, das man einst unter dem Stichwort „Gutes Benehmen“ betreten hatte. Tanzen ist ja nur eine von dutzenden Formen, wie Menschen miteinander umgehen können. Und miteinander zu sprechen ist wie Tanzen, befinden Experten für nonverbales Verhalten. Ab einem gewissen Punkt hat man sich schon eingeschwungen im Rhythmus, der eine geht einen Schritt voraus, der andere geht mit, und wieder zurück. Sogar im Kreis drehen, zumindest inhaltlich, ist manchmal Teil der Choreographie. Beim Tanzen allerdings sind allerfeinste körperliche Regungen schon mit Bedeutungen codiert. Umso mehr könne man beim Tanzen für den Umgang mit Menschen lernen, meint Svabek. Vor allem auch, wie viel Abstand und Nähe man einem anderen Menschen körperlich so zumutet. Und wie viel davon einer gelungenen Kommunikation auch guttut. Wie man aufeinander zugeht, Kontakt aufnimmt, und wie man den anderen elegant wieder aus einer Interaktion entlässt.
An den Sälen der Tanzschule Svabek rauscht die Digitalisierung natürlich auch nicht vorbei. Vor allem die jugendlichen Kursteilnehmer tragen sie mit ihren Smartphones in den Rucksäcken direkt hinein. Handys seien jedenfalls erlaubt, erzählt Svabek. „Die jungen Menschen benutzen sie aber in einer atemberaubenden Geschwindigkeit.“ Kurzes Update: „Bin in der Tanzschule.“ Dann wieder Interaktion mit Menschen im selben Raum. Ungläubig, meint Svabek, stehe er manchmal vor der Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit, wie die Jungen digitale Medien managen. Umso weniger traut er sich dafür verbindliche Regeln aufzustellen. „Wie kann ich die Regeln einer Kommunikationskultur beurteilen, die ich selbst nicht verstehe, weil sie sich immer so schnell ändert und ich nicht hineingeboren worden bin?“, fragt sich Svabek. Das wolle er sich gar nicht erst anmaßen. Auch nicht zu bewerten, ob Kondolieren auf WhatsApp weniger einfühlend wirkt als eine schriftliche Beileidsbekundung. Jede Kommunikationsplattform im Internet scheint wie von selbst ihre eigene Benutzungskultur entwickelt zu haben. Eine, die man erst so richtig versteht, wenn man sie ähnlich intensiv nutzt wie die Muttersprache oder die Artikulationswerkzeuge, die man am Körper seit Geburt mit sich herumträgt. „Für die jungen Nutzer ist vieles selbsterklärend, wofür wir nach Erklärungen suchen“, sagt Svabek. Die Welt der traditionellen Umgangsformen habe deshalb nicht unbedingt eine Antwort auf Kommunikationsbefindlichkeiten der Smartphone-Nutzer. „Es gibt natürlich Versuche, verschiedene Dinge im kommunikativen Umgang miteinander festzulegen. Aber oft werden diese Regeln von Männern über 70 aufgestellt für Menschen unter 20.“ Und viele von diesen bräuchten keine Anleitung, wie sie etwas zu bewerten hätten. Es versteht sich für sie von selbst: vor allem auch die Bedeutungen, die die Programmierer jeder neuen App mitcodiert haben, nämlich wie man sie benutzt. Sanft hineingeboren zu werden in den ganz selbstverständlichen Umgang damit, das kommt für viele zu spät. Wie auch für Roman Svabek. Analoge Maßstäbe anzulegen an Verhaltensweisen, die erst digital entstanden sind, sei schwierig. Doch allgemeine Maximen der gegenseitigen Wahrnehmung und Rücksichtnahmen hätten natürlich auch im Smartphone-Zeitalter ihre Gültigkeit nicht verloren. Auf das Handy zu starren, wenn andere dabei sind: Ja – wenn es Fremde sind. Ansonsten wäre es „Phubbing“. Die englische Wortschöpfung beschreibt das Phänomen mit einem Sprachamalgam aus „Phone“ und „to snub“. Was ungefähr bedeuten würde: jemanden zu brüskieren mit dem Handy. Ein solches Verhalten könnte man entlang ganz allgemeiner Verhaltensrichtlinien bewerten, meint Svabek. Nämlich „dass man, wenn man mit jemandem redet, auch ausreichend Aufmerksamkeit schenkt“. Eine ursprüngliche Basisübereinkunft, seitdem man miteinander reden kann und es mit derselben Person irgendwann nochmal versuchen will. „Was mir allerdings auffällt, ist die Ichbezogenheit der Kommunikationsformen“, erzählt Svabek. Eine Grundhaltung, die auch bei den meisten Interaktionen auf dem Tanzparkett nicht allzu zielführend wäre. Wenn die jungen Menschen in die Tanzschule kommen, sollte die Basis des menschlichen Umgangs ohnehin schon gelegt sein. Nämlich zuhause. Durch die Interaktionen der Eltern mit den Kindern, findet Svabek. „Wem man wie viel Aufmerksamkeit schenkt wie man Körperhaltungen anderer interpretiert, das sollte man auf ganz natürlichem Weg lernen. Auch schon im Kindergarten.“
Doch ganz abgesehen davon: „Wie kommen wir dazu, eine Konvention aufzustellen für eine Welt, die wir nicht verstehen?“ Und dabei könne man das Smartphone durchaus nicht immer als Störung, sondern auch als Bereicherung sehen. „Das Smartphone ist nun einmal nicht mehr wegzudenken. Wenn man sich entschuldigt, kann man es durchaus kurz verwenden“, sagt Svabek. Aber es hätte auch Potential, den Interaktionsraum virtuell um ein Vielfaches aufzuspannen: „Wie auf diesen innovativen Glastischen, die man schon auf verschiedenen Messen gesehen hat, über die man den Content des Smartphones quasi direkt in das Gespräch einblenden kann.“