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3.

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Unser Land war etwas Besonderes. Die Straßen waren breit und gerade, sie waren so gebaut, wie sie einst auf einem Reißbrett gezogen worden waren. Die Möwen waren bei uns öfter als anderswo. Sie kamen – wie immer – an Land, wenn draußen das Wetter schlecht war, aber auch sonst kamen sie öfter zu uns als zu den anderen Bauern, deren Höfe und Land weiter drinnen waren, man kann fast sagen, weiter auf dem Festland.

Und der Wind war immer da. Nicht dass das etwas wirklich so Außergewöhnliches gewesen wäre. Denn der Westwind war hier zu Hause. Zu uns kam er aber beinahe ungeschützt, ungebremst.

Er war an manchen Tagen und Abenden so hart und nass, dass man glauben konnte, er habe auf dem letzten bisschen Meer vor unserem Land noch Salz und Gischt aufgesammelt, die er uns quer in die Gesichter trieb und auf die Felder warf. Die Deiche waren die Sicherung des Landes. Nicht immer schon, aber seit vielen großen Fluten erprobt. Einer größer als der andere, einer von See her flacher ansteigend als die anderen. Es gab drei Deiche: Den alten, er lag gerade einmal kurz hinter den Ortschaften, eine erste, alte Grenze zum Meer, wie eine Falte, die sich in das Land gelegt hatte.

Der zweite war der Schlafdeich. Er war höher und lief flacher an als der alte, war damit breiter. Er wurde auch besser gepflegt von Schafen und Menschen. Er hatte noch Dienst, wenn der Außendeich brechen sollte. Und der lag vor unserem Hof. Die Grenze, die ich sah, wenn ich von unserem Haus auf das Meer blicken wollte.

Es war, als hielte er nicht nur die Flut auf der Seeseite zurück. Er ließ auch die Blicke von der anderen Seite, also unserer, nicht zu, die sehnsüchtig zum Meer gerichtet wurden. Er schaffte Ordnung in unserem Leben. Das Meer zog die Menschen hier dennoch ständig an, auch mich, aber der Deich verhinderte das Schlimmste. Über den Deich wachte der Graf, wie bekannt, Herr mehr über Land und Schafe, denn über Untertanen. Die Schafe fraßen, traten fest, trampelten Mäuse- und Karnickellöcher zu. Wie Wolken, langsam sich immer wieder teilend und zu neuen Mustern und Formen zusammenfindend.

Zwischen den Deichen lagen die Köge, benannt nach ihren Erbauern oder Planern, junges Land mit alten Namen und Geschichten versehen, wie es gut in die Landschaft passte. Denn das Land hatte ein gutes Gedächtnis, hier wurde nichts vergessen, schon gar nichts, das mit dem Meer zu tun hatte.

Das Land war gut, die Felder waren groß. Das Korn stand jeden Sommer hoch, höher noch als anderswo. Der Neid der anderen war uns eigen wie der Stolz, hier zu sein.

Mein Vater empfand es als Privileg, hier Pächter zu sein. Als junger Mann hatte er, ich konnte es aus manch betrunkener Rede heraushören, die er mehr für sich als für mich brabbelte, von Amerika geträumt. Amerika und immer wieder Amerika. Hier nun waren seine Träume gelandet, nicht ganz Amerika, aber in einem Land vor der anderen Welt. Vorland nannte man bezeichnenderweise das Land vor dem Deich, das noch ungeschützt war.

Einmal war es, als wir Besuch von einem Onkel hatten, der unser neues Zuhause noch nicht kannte, da gingen wir zusammen auf den Deich und guckten. Das taten wir oft, nur meistens schweigend. Nun aber hob der Onkel seinen Stock und krächzte in den feuchten Abendhimmel: »Wer kann England sehen? Da hinten ist England!«

Mein Vater wandte sich verächtlich zur Seite und sprach zu mir, der ich der einzige Begleiter war, an den er solche Rede richten konnte: »Wir können viel weiter sehen als England. Viel weiter, was?«

Im Nachbarkoog, im nächsten Dorf, die Straße immer weiter, da sahen die Häuser anders aus, schon immer: geduckt, rote Ziegel, manche weiß angemalt, die meisten mit Reetdach, wie üblich im Land. Die Straßen in den Dörfern verliefen rund, gebeugt, wie immer, als mache sie der ewig gleiche Gang so, um die Kirchen, um die Warften, um die Erhöhungen, auf denen die alten Häuser standen.

Und hier? Verbargen sich in den Häusern die Geschichten, die Ludwig als Zeugen mitgebracht zu haben schienen?

Unser Koog, so nennt man den Abschnitt des neu eingedeichten Landes, wurde nach seinem Finanzier, dem Eisenbahnbauer und Millionär Sönke Nissen, benannt.

Er stammte ursprünglich aus einem Nachbardorf. Er war Eisenbahningenieur geworden und hatte nach einiger Erfahrung im Bau von Bahnstrecken den Auftrag bekommen, in den deutschen Kolonien in Afrika die Schienenwege zu bauen.

Zuerst baute er die Usambara-Bahn in Deutsch-Ostafrika. Da hatte Ludwig ihn auch kennengelernt. »Sie zahlten mir einfach besser an Land als auf dem Meer«, sagte er immer wieder, immer im gleichen Singsang der gleiche Satz, immer wenn er davon erzählte.

Und dann hatte Nissen als Oberingenieur auch noch in Deutsch-Südwest eine Strecke bauen sollen. 1905 ging es los, kurz nach dem Hottentotten-Aufstand, den ich auch in der Schule hatte. Sie bauten über eine Strecke zwischen Lüderitz und Keetmannshoop. »Sand, Staub, so wenig Wasser, kann sich kein Mensch ausdenken«, pflegte Ludwig zu sagen und dann noch einmal nach seiner Tasse zu greifen, als wolle er den Durst von damals immer noch tilgen.

»140 Kilometer, auf 1400 Höhe rauf, Lüderitz, Burenkamp, Kolmannskuppe, Grasplatz, Haalenberg, Schkalskuppe und weiter bis nach Seeheim. Dann, der Ausbau«, Ludwig zeichnete meist mit dem Pfeifenstiel auf dem Küchentisch die Strecke, »weiter nach Keetmannshoop, Hoolog, Grabwasser, Grünau und nach Kalkfontein. Als sie dann den Stein, den Klippie, gesehen hatten, haben sie erstmal die Schnute gehalten«, sagte Ludwig immer über Nissen und seine Kollegen.

»Sie sicherten sich die Schürfrechte, wurden enorm reich und lösten einen Diamantenrausch in der Kolonie aus. Diamanten, die wurden auf den Knien eingesammelt, in Marmeladengläsern«, sagte Ludwig, und es klang nach Ekel, nicht nach Freude. »Diamanten, die liebte man dort nicht, man hasste sie. Oder vergötterte sie. Viele Männer blieben. Nissen nicht.«

Den Rest wusste ich aus der Schule und von meiner Mutter. Sönke Nissen bezahlte den neuen Deich und bekam das Recht, dem Koog seinen Namen zu geben, sowie sieben Höfe samt fruchtbarstem Land.

Er brachte ein Stück seiner neuen Heimat zurück in die alte. Er ließ sieben Gutshäuser im Stil der Farmen Namibias bauen, weiß und breit, und gab den Höfen Namen von Bahnstationen aus Deutsch-Südwest, die ihm soviel Glück gebracht hatten. Und da sind sie, wie Perlen auf einer Schnur, wie Stationen einer weiteren Bahn, die er gebaut haben könnte. Nur ins Wasser, das zu Land wurde, nicht durch den Sand, der zum Weg wurde: Elisabethbay, Lüderitzbucht, Kolmannskuppe, Seeheim, Grasplatz, Keetmannshoop, Kalkfontain.

Und eine weitere Laune des Herrn Nissen sollte weithin leuchten und tut dies bis heute: Die Dächer, verfügte er, die Dächer sollten alle in der Farbe des Dachs des Hamburger Michels gestrichen werden, in hellem Grün. Ludwig erzählte, dass zwei Handwerksmeister, der eine Maler, der andere Tischler, von dem noch zu sprechen sein wird, eigens nach Hamburg fuhren und auf den Kirchturm des Michels stiegen, um den richtigen Farbton des angelaufenen Kupferdaches zu bekommen.

Bevor noch der Koog fertig eingedeicht worden war, vor gut 20 Jahren, war Herr Nissen gestorben. Ludwig hatte er uns dagelassen. Ob mein Vater wohl einen guten Knecht brauchen könne? »Arbeit gibt’s genug«, hatte mein Vater geantwortet.

Wir lebten auf unserem Hof wie auf unserem eigenen. Die Pacht wurde pünktlich bezahlt. Die Besitzerin, die Witwe Sönke Nissens, ließ sich nur selten sehen. Sie hatte wohl noch anderswo Besitz.

Immer wenn ich Angst bekam, hatte ich das Gefühl, meine Ohren wüchsen. Als ob mein Kopf ein wenig schrumpfte und die Ohren weiter ausgefahren würden. Wenn ich dann ganz stillhielt, konnte ich sie gut spüren, die Angst. Wenn es dunkel war, das machte mir nichts aus. Wenn der Sturm kam, die Flut hoch stieg, das schreckte mich nicht. Es war eher ein Sonntagmittagsgefühl von Einsamkeit. Wenn alle, auch Irene und Ludwig, meine Eltern, meine große Schwester, als sie noch bei uns lebte, zu Mittag schliefen. Wenn die Sonne die gute Stube warm machte, der Wind die Gardinen bewegte, dann konnte ich Angst kriegen. War ich als Einziger übrig? Waren die anderen tot?

Ich summte, singen wäre zu laut gewesen. Ich summte, schaffte es aber nicht, ein Lied oder nur eine Melodie zu fangen. Bis ich eine der drei Katzen sah, die auf ihrem Rundgang vorbeikam. Oder Scharik, den Hund, hörte, der sich von Fliegen ärgern ließ.

Manchmal träumte ich davon, dass ein Zug bei uns hielt. Ein dampfendes, rauchendes, rasselndes Ding, das am besten auch noch wahnwitzig laut pfiff. Es holte mich ab und fuhr auf gerader Strecke parallel zum Meer zum nächsten Hof, zur nächsten Station. Nach der siebten, Kalkfontain, pfiff der Zug erneut, ich beugte mich zum Fenster hinaus und hielt meinen Kopf in den Wind, sah drei, vier der Höfe noch hinter uns. Vor der Lokomotive aber lag leere, sandig-gelbe Strecke, von grauen Steinen bekörntes Land, die Luft war heiß, sie flimmerte. Und dann fuhr die Eisenbahn an.

Unser Koogsland war grün. Ich stellte mir manchmal vor, wie es von einem Flugzeug aus aussehen müsste. Grün, entschied ich. Natürlich. Auch die Dächer. Sie sollten wahrscheinlich wie Kupfer aussehen, das schon viele Jahre auf den wuchtigen weißen Häusern lag.

Sönke Nissen hatte diesem Ort nicht nur seine Erlebnisse mitgeben wollen durch die Bauweise der Häuser und die Namen, die in großen, schwarzen Buchstaben über den Eingangstüren standen. Er hatte ihnen auch eine Vergangenheit geben wollen. Ein bisschen Patina und Grünspan.

Und noch etwas ging mir mit den Jahren auf. Wir wohnten an einem Ort, der kein Punkt, sei er noch so groß, sondern eine Fläche war. Sönke-Nissen-Koog, das war unsere Adresse, aber es war eben doch nur die Summe der Höfe an den Feldern, ab und zu ein Haus an geradem Weg. Wie eine Gruppe von Inseln, die einen gemeinsamen Namen hatten.

Meine Schwester war erst im vergangenen Jahr ausgezogen. Ihr Mann, ein deutliches Hochdeutsch sprechender Düngemittelvertreter für den nördlichen Abschnitt, war mit ihr nach Elmshorn gezogen. Ich hatte mich, weil wir uns oft gestritten hatten, erst gefreut, dass sie ausgezogen war. Doch schon während der Hochzeitsfeier, die hier auf Elisabethbay gefeiert worden war, wurde mir der Triumph sauer.

Es war noch ein bisschen einsamer hier ohne sie. Zu ihr hatte ich gehen können, wenn ich abends noch etwas erzählen wollte. Sie konnte ich – neben Irene und Ludwig – etwas fragen, das ich meine Eltern nicht fragen wollte.

Sie schrieb regelmäßig. So regelmäßig, dass es uns allen auffiel, als die Briefe seltener kamen. Ich sollte sie, so war es an Weihnachten allgemein beschlossen worden, in den Sommerferien einmal besuchen. »Da hat der Junge doch Zeit, das kann er doch gut! Das ist doch auch für ihn interessant! Da wird er aber Augen machen, Euer Hannes, wirst Du doch sicher, was?«

Auf die konkrete Einladung wartete ich nicht mehr. Meine Mutter hatte das geplante und von allen Beteiligten für gut befundene Vorhaben bereits zweimal in ihren jüngsten Briefen angesprochen, aber keine Reaktion bekommen. Jeder Tag, an dem kein Brief mit einer Bestätigung kam, war mir deshalb recht. Meine Mutter dagegen, schon von beachtlichem körperlichen Umfang, hoffte immer noch, dass bald Post kam. Ebenso verabredet wie mein Besuch im großen Elmshorn war – Irene teilte mir auch das mit –, dass meine Schwester die Wochen vor und nach der Geburt hier bei uns sein sollte zur Unterstützung meiner Mutter.

Fast kein Land

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