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4 Mama, geh nicht weg!
ОглавлениеDie Erinnerung an meine Mutter ist verdammt schwach. Eigentlich habe ich nur eine. Und zwar die mit dem Leichenwagen. Mit dem Sarg und den Kränzen obendrauf. Und meine Mutter war in dem Sarg. Ich war damals vier. Und ob ich es damals bitter gefunden habe oder nicht, ich weiß es nicht. Man sagt ja immer, dass Kinder in dem Alter noch nicht so richtig schnallen, was da passiert ist. Ob einer gestorben ist, warum einer gestorben ist. Und so wird's bei mir wahrscheinlich auch gewesen sein. Ich weiß nur eins: Je älter ich wurde, desto mehr wurde mir klar, wie sehr mir diese Person, meine Mama, fehlte. Und es ist bis heute so geblieben, jetzt, wo ich sie selber um fast fünfzig Jahre überlebt habe. Alles was andere Kinder an Wärme und Streicheleinheiten bekommen haben, ich hatte es nicht. Mich an ihre Brust anlehnen – ich konnte es nicht. Die Hand, die über den Hinterkopf streichelt – ich fühlte sie nicht. Die Küsse auf die Lippen, auf die Wangen, auf die Stirn, auf die Schultern, auf die Hände, auf die Arme, auf den Bauch, Gedichte vorm Schlafengehen – alles das hatte ich nicht. Und das Defizit spüre ich noch heute, so alt und grau und ausgeleiert ich auch geworden bin. Und das ist 'ne verdammte Scheißgeschichte.
Ich seh den Leichenwagen, so ein riesiges Ding, schwarz lackiert mit großen Scheiben, zwei Pferde davor mit schwarzen Decken. Der Kutscher obendrauf. Das Merkwürdige ist: Ich seh diese Szenerie immer nur aus der Perspektive des oberen Stockwerks, wo unser Wohnzimmer war. Ich seh mich immer nur von da oben aus, unten hinterm Wagen gehen, mit meiner Schwester Inge und dahinter meinem Vater. Und dahinter eine ganze Menge Leute. Meine Mutter muss sehr beliebt gewesen sein.
Früher wurden die Toten zu Hause aufgebahrt. In der Küche, auf dem Tisch. Das hatte mir meine Tante Elfriede, genannt Friedchen, erzählt. Elfriede war die Frau von Kurt, dem Halbbruder meiner Mutter. Also: Elfriede, Mutters Schwägerin, ist meine Tante. Ich nenne sie immer, wie wir sie alle nannten: Friedchen. Eine warmherzige, zauberhafte Frau, inzwischen fünfundachtzig Jahre alt. Und sie ist die Einzige, die mir noch etwas erzählen konnte aus jener Zeit.
Als der Sarg zugeschraubt wurde, quetschte ich noch die Hände zwischen Sargdeckel und Unterteil und schrie: »Mama, Mama, geh nicht weg!« Daran kann ich mich selbst natürlich nicht erinnern, klar. Das hat mir Friedchen erzählt, vor einigen Wochen. Unsere ganze Verwandtschaft hat dieses Kapitel ausgeblendet und totgeschwiegen über all die Jahre. Erst jetzt, da ich mich mit den ganzen alten Geschichten noch mal befasse, habe ich Dinge erfahren, die ich niemals vorher gehört habe.
Warum war meine Mutter gestorben? Warum so früh? Was war da passiert? Es war eine heimliche Abtreibung. Ein drittes Kind war unterwegs. Warum die Abtreibung? Friedchen erzählte mir: »Dein Vater hatte 'ne Menge anderer Frauen während seiner Ehe. Deine Mutter hat instinktiv wohl gespürt, dass sie nicht mehr lange mit deinem Vater zusammen sein würde. Noch mehr Kinder wären eine viel zu große Belastung gewesen, überhaupt nicht zu bewältigen. Und so hat sie heimlich – niemand wusste etwas davon, auch dein Vater nicht – eine damals übliche Schwangerschaftsunterbrechung vorgenommen. Man darf nicht vergessen: Es war kurz nach dem Krieg, mit der heutigen Zeit ist das nicht zu vergleichen. Sie benutzte eine lange Stricknadel und führte damit einen Abbruch herbei.«
Wie das im Einzelnen war, keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie ein Dreivierteljahr später an den Folgen einer Unterleibsentzündung gestorben ist. Keiner hatte ihr mehr helfen können, denn sie hatte es die ganze Zeit verheimlicht und nur hin und wieder über Bauchschmerzen geklagt. Und so war die offizielle Erklärung: Deine Mutter ist an einer Bauchfellentzündung gestorben.
Mein Edelweißpulli während der TV-Sendung »Kilometer 330«