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6 Gerda, meine Rettung

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Ich mag das Wort Stiefmutter einfach nicht und auch nicht das Wort Stiefschwester. Dennoch bekam ich eines Tages diese Stiefmutter – und das war meine Rettung.

Meine Mutter war gerade mal ein Jahr tot, da brachte mein Vater, inzwischen siebenundzwanzig Jahre alt, ein Mädchen mit nach Hause. »Das ist eure neue Mutter«, sagte er in seiner knappen, barschen Art. Erst waren wir verblüfft, aber dann freuten wir uns. Gerda, so hieß sie, war gerade achtzehn geworden und schien eine nette Frau zu sein. Eigentlich war sie noch eher ein Mädchen als eine Frau. Doch endlich war jemand da, der sich von morgens bis abends um uns kümmerte, der sich sogar vor uns stellte, wenn der Alte mal wieder durchdrehte.

Leider hatten unsere Großeltern überhaupt kein Verständnis dafür, dass mein Vater nach so kurzer Zeit wieder heiratete. Und das ließen sie auch uns spüren. Oma Alwine konnte eh nicht mehr so wie vorher, sie wurde immer kränklicher, Opa Heinrich dagegen immer sonderbarer. Anfangs ging ich noch zu ihm in die Werkstatt, aber wenn ich ihn etwas fragen wollte, brummte er nur oder wandte sich gleich ganz ab. Und in den Arm nahm er mich auch nicht mehr. Es war, als wäre ich für ihn in diesem Sommer 47 unsichtbar geworden.

Mein Vater benutzte mittlerweile für seine Prügelattacken, die auch jetzt nicht aufhörten, eine Hundepeitsche. Inzwischen war er nämlich nicht mehr Fahrdienstleiter, sondern Bahnpolizist, und da gab's einen Polizeihund samt Peitsche wohl gratis dazu. Und die nahm er immer mit nach Hause und hängte sie an die Garderobe, da wo die Jacketts und Mäntel hingen. Als ständige Drohung und Warnung. Fürchterlich. Es lagen immer irgendwie Prügel in der Luft.

Und selbst Gerda, meine Ersatzmutter, traute sich immer seltener, dazwischenzugehen. Weil sie Gefahr lief, selber getroffen zu werden. Was schließlich auch öfter geschah. Gerda habe ich sehr viel zu verdanken. Das merke ich bis zum heutigen Tag. Sie kam eben aus einem guten Haus, hatte eine gute Erziehung genossen. Gerda war einfach kultiviert. Für mich war sie in vielerlei Beziehung ein Glücksfall, was ich damals natürlich nicht in seiner ganzen Bedeutung so begriffen habe. Aber heute weiß ich das.

Immer wieder erlebe ich es, wenn Fernsehteams oder Journalisten zu mir aufs Boot kommen, dass sie erstaunt darüber sind, mit welcher Höflichkeit, Zuvorkommenheit und Sorgfalt ich sie bewirte. Kaffee und Tee, das ist keine Frage. Servietten – meistens sogar Stoffservietten – keine Frage. Selbst mein Freund Elvis aus Hildesheim, der öfter bei mir lebt, sagt manchmal, er käme sich vor, wie im Hotel. Das habe ich alles meiner Ersatzmutter Gerda zu verdanken. Es ist eine Marotte von mir, Leute zu beobachten, wie sie mit dem Besteck umgehen, wenn sie bei mir am Tisch sitzen und essen. Wie sie den Aufschnitt, den Käse, den Schinken, die geschnittenen Salamischeiben vom Aufschnitt-Teller nehmen. Und natürlich achte ich auch genau darauf, wohin sie das Besteck legen, wenn sie mit dem Essen fertig sind. Manche lassen einfach Messer und Gabel auf die Reste des Essens plumpsen, dann sind sie verloren für alle Zeit. Die will ich dann nie wieder sehen. So ist es auch mit den weißen Handtüchern, auf die ich viel Wert lege; bunte kommen mir nicht auf mein Boot. Weiße Bettwäsche, auch klar.

Alle Bücher, die in meinen Regalen stehen, sind eigentlich Gerdas Einfluss zu verdanken. Sie hat mich da rangeführt, an die Welt der Bücher. Ich könnte heute ohne Bücher überhaupt nicht leben. Und ich meine jetzt nicht solche Schmachtfetzen und Schnulzenschinken. Nein, Biografien, philosophische Betrachtungen und politische Bücher sind meine Lieblingslektüre. Ich gebe zu, »Feuchtgebiete« habe ich auch gelesen, nur nicht ganz.

Gerda bekam zwei Kinder von meinem Vater, und damit hatte es sich. Nach zehn Jahren wurden sie geschieden. Die Liebe zu meiner Ersatzmutter und zu meinen Schwestern ist geblieben, bis heute.



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Gunter Gabriel

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