Читать книгу Wirtschaft im Kontext - Oliver Schlaudt - Страница 15
2.2 Allgemeine Gleichgewichtstheorie 2.2.1 Vorab: Was ist eine Erklärung?
ОглавлениеBetrachten wir nun, wie die Mikroökonomie ökonomische Prozesse zu erklären sucht. Ohne uns vollends auf die schwierige und kontroverse philosophische Frage einlassen zu müssen, was eigentlich eine Erklärung ist, können wir zumindest festhalten, dass, sprachphilosophisch ausgedrückt, »Erklärung« ein (mindestens) zweistelliger Prädikator ist. Obgleich man oft von der »Erklärung des Phänomens y« spricht, lautet der vollständigere Ausdruck eigentlich: »x ist eine Erklärung für Phänomen y« bzw. »Phänomen y wird durch x erklärt«. In dieser Struktur stecken zwei Vorentscheidungen, die den Raum der Erklärung aufspannen: Erstens muss man sich darüber einig sein, was überhaupt einer Erklärung bedarf und was nicht (das ›y‹), und zweitens muss festgelegt sein, was als Erklärung gilt (das ›x‹). Aristoteles beispielsweise betrachtete es als natürlich und somit nicht erklärungsbedürftig, dass Dinge an ihren »natürlichen Ort« streben, also schwere Dinge zur Erde fallen, die Gestirne aber in der ihnen angestammten Sphäre verharren. In der klassischen Physik Newtons hingegen wird es als natürlich betrachtet, dass ein Körper weder die Richtung noch den Betrag seiner Geschwindigkeit »von selbst« ändert, und erst Abweichungen davon verlangen der Erklärung. Als Erklärungen, etwa wenn Planeten im Weltraum auf eine elliptische Umlaufbahn gezwungen werden, werden »Kräfte« akzeptiert, auch wenn deren Ursprung wie eben bei der Gravitation vorerst ungeklärt ist.
Wir können daraus zurückbehalten, dass immer ein Phänomen, z. B. eine Eigenschaft, durch etwas anderes erklärt wird, welches selbst zumindest zeitweilig ohne Erklärung hingenommen wird. Wie Immanuel Kant schon herausgearbeitet hat, ist es dem Projekt der wissenschaftlichen Erklärung inhärent, auf einen infiniten Regress zu führen, insofern das x, welches man zur Erklärung von y heranzog, selbst nach Erklärung verlangt. Mit diesem Problem hat jede Wissenschaft zu tun, und man darf die Wirtschaftswissenschaft selbstredend nicht an einem Maßstab messen, dem auch die Physik nicht genügt. Jede Wissenschaft muss zu jedem Zeitpunkt mit gewissen Voraussetzungen beginnen. Diese können sich freilich mit der Zeit ändern, und es bleibt in der Methodenkontroverse immer eine legitime Frage, was eigentlich wodurch erklärt werden soll, sofern nur alle Kontrahenten akzeptieren, dass es keine voraussetzungslose Erklärung gibt.
Das klassische Erklärungsmodell der Physik besteht in einem bestimmten Reduktionismus: Die Eigenschaften eines Systems werden durch die seiner Teile erklärt und in diesem Sinne auf diese zurückgeführt, niemals aber umgekehrt. Die Eigenschaften des Festkörpers und der Moleküle erklärt die Physik durch die Eigenschaften der Atome und diese durch die ihrer Bestandteile, der Elektronen und des Atomkerns. Die Elektronen gelten als Elementarteilchen, während der Atomkern wiederum eine Struktur aufweist und aus Protonen und Neutronen besteht usw.
Ein Problem war diesem ›mechanistischen‹ Denken schon früh, namentlich im 18. Jahrhundert, durch den Organismus gegeben, bei dem sich die Verhältnisse gerade umgekehrt darzustellen scheinen: Seine Organe sind für den Organismus zweckdienlich eingerichtet. Hier scheint es so, als ob durch das System, das Lebewesen, bestimmt ist, welche Eigenschaften seine Teile haben müssen und diese somit ›holistisch‹, durch das Ganze, welches die Teile bilden, erklärt werden.18 Es war die große Leistung von Darwins Evolutionstheorie, die Mechanismen zu benennen, die die Zweckmäßigkeit der Teile erklären können, ohne einen Zwecksetzter in Person des Schöpfergottes bemühen zu müssen.
In der Sozialphilosophie existieren widerstreitende Ansichten über das Verhältnis von System (Gesellschaft) und Teil (Individuum). Es steht außerfrage, dass eine Gesellschaft nur durch und mit den Individuen besteht. Man sollte sich aber klar machen, dass damit die Frage der Richtung der Erklärung noch nicht beantwortet ist. Historisch lässt sich grosso modo folgendes feststellen: In der präkapitalistischen Sozialphilosophie, z. B. bei Thomas von Aquin, herrscht eine holistische Erklärungsweise vor, wobei durchaus der Organismus als Analogie herangezogen wird: Die Menschen sind unterschiedlich, und jeder hat seinen besonderen Platz im Ganzen. Überlebensfähig ist nur der ganze Gesellschaftskörper, aber keiner seiner spezialisierten Teile außerhalb seiner. In der Epoche des Kapitalismus ändert sich dies. Die Sozialphilosophie übernimmt die reduktionistische Methode der Naturphilosophie,19 und ihr Gesellschaftsbild passt sich gut in die liberale Weltanschauung des aufstrebenden Bürgertums ein: Die Gesellschaft ist kein hierarchisch strukturiertes Geschöpf mehr mit göttlich sanktioniertem Haupt, sondern resultiert aus den Bewegungen und Wechselwirkungen der einzelnen, freien und gleichen Individuen. Spätestens mit dem 19. Jahrhundert lebt auch wieder die holistische Erklärungsweise auf, zu nennen sind vor allem Karl Marx und Émile Durkheim, die zwar weit davon entfernt sind, eine natürliche Hierarchie der Individuen zu proklamieren, aber durchaus in einem noch zu spezifizierenden Sinne von einem Eigenleben der Gesellschaft ausgehen, welches sich gegen die einzelnen Individuen durchsetzen kann. Die Sozialwissenschaften sind seitdem über diese Frage um den methodologischen Individualismus gespalten.