Читать книгу Wirtschaft im Kontext - Oliver Schlaudt - Страница 7
Die großen Methodendebatten, einst und heute
ОглавлениеWissenschaftsphilosophen – und viel mehr noch -historiker – sind heute geneigter, eine Vielheit der Wissenschaften zu akzeptieren, deren jede einzelne beanspruchen darf, für sich und in ihren Eigenheiten erfasst zu werden. Für die Sozialwissenschaften gibt es dazu sogar in der deutschsprachigen Literatur im Prinzip eine historische Blaupause, denn diese Wissenschaften haben in ihrer Entwicklung einige große Methodendebatten erlebt, die einen Zugang zu ihrer Spezifik in Aussicht stellen:
– Die als Historismusstreit in der deutschen Nationalökonomie bekannte Auseinandersetzung zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller in den 1880er Jahren über die Bedeutung einer genuin historischen Methode für die Erforschung des Wirtschaftsprozesses;
– der um 1900 zwischen Schmoller und diesmal Max Weber ausgetragene Werturteilsstreit über die Frage, ob sozialwissenschaftliche Forschung gesellschaftspolitische Maßnahmen zu rechtfertigen vermag;
– der zwischen Theodor W. Adorno und Karl Popper Mitte der 1960er Jahre vielmehr inszenierte als ausgetragene Positivismusstreit über die Interpretation empirischer Daten, in welchem die Grundfragen des Werturteilsstreit über das Verhältnis von Theorie und Praxis, Subjekt und Objekt wieder aufgenommen wurden;
– endlich müsste man auch den Individualismusstreit darüber nennen, ob sich die Eigenschaften der Gesellschaft durch die der Individuen erklären lassen oder vielmehr umgekehrt. Dieser Streit, obgleich schon im 18. Jahrhundert mit Jean-Jacques Rousseaus Kritik an Thomas Hobbes virulent, schwelte allerdings immer nur, ohne je zu einem Aufsehen erregenden Eklat zu kommen.
Aber selbst die jüngste dieser Debatten datiert Jahrzehnte zurück und fällt somit weit vor das Auftauchen der einzelnen Facetten jener allmählich Gestalt annehmenden multiplen Krise, die die Wirtschaftswissenschaften heute auch für ein allgemeineres Publikum interessant machen. Die Wirtschaftswissenschaften sehen allerdings auch heute eine lebhafte Methodendiskussion. Diese Diskussion, die nun nahezu ausschließlich in der englischen Sprache geführt wird, hat – soviel sei zugestanden – im Grunde den Problemkreis der vier alten großen Debatten nicht verlassen. Gleichwohl präsentiert sie die alten Probleme befreit vom Staub der vergangenen Jahrzehnte.
Außenstehende, die ein gewisses Grundvertrauen in die Wissenschaften haben, mögen gar erstaunt sein über den harschen Ton der heutigen Kritik, welche nicht einzelne Hypothesen, sondern im Grunde die Gesamtheit des Lehrbuchwissens infrage stellt. 1982 bemängelte der Nobelpreisträger und zeitweilige Präsident der American Economic Association Wassily Leontief eine »Aversion gegen Empirie« in seinem Fach, welches sich allein auf mathematische Modelle versteift: »Seite für Seite werden die ökonomischen Fachzeitschriften mit mathematischen Formeln gefüllt, die den Leser von einigen mehr oder minder plausiblen, aber vollkommen willkürlichen Annahmen zu präzise formulierten, aber irrelevanten theoretischen Schlussfolgerungen führen.«2 Thomas Piketty drückte denselben Gedanken, der 30 Jahre später seine Aktualität nicht eingebüßt hat, jüngst etwas charmanter aus: Er sei als junger Ökonom von seinen Fachkollegen sehr geschätzt worden, obgleich er sich bis dahin nur mit einigen ziemlich abstrakten mathematischen Theoremen befasst hatte und von den ökonomischen Problemen der Welt im Grunde nichts wusste noch verstand.3 Mit dieser Haltung haben sich die Ökonomen angesichts der Finanzkrise von 2008 endlich auch in einer größeren Öffentlichkeit gründlich blamiert. Sogar die englische Königin Elisabeth II. sah sich bemüßigt, gelegentlich eines Besuchs der London School of Economics einmal nachzufragen, warum denn niemand bemerkt habe, dass sich eine Kreditkrise anbahnte. Die Antwort führender Ökonomen der British
Academy spricht Bände. Am Ende von zwei oder drei Seiten nichtssagender Ausführungen ihres Antwortschreibens fassen sie zusammen, man habe es mit einem »Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Leute« zu tun gehabt, wobei sie mit den »klugen Leuten« sich selbst meinen und ihr Versagen offenbar noch immer nicht fassen können.4
Das Bild des weltabgewandten und etwas naiven Liebhabers mathematischer Modelle mag freilich selbst irreführend sein, da die Ökonomen sehr wohl eine sehr konkrete Rolle in der wirklichen Welt spielen. Wenn sie die Kurbel ihrer komplizierten formalen Modelle drehen, weiß man schon vorher mit vollkommener Sicherheit, welches das Ergebnis sein wird: dass nämlich allein der freie, unregulierte Markt zu einem optimalen Ergebnis führen wird. Jeder Eingriff wird relfexartig abgewehrt, sei dies nun der Mindestlohn, Umweltschutzauflagen oder das Wirken von Gewerkschaften. Joseph Stiglitz hält seinem Fach kurzum vor, als »cheerleader des laissez-faire-Kapitalismus« zu wirken.5