Читать книгу Wirtschaft im Kontext - Oliver Schlaudt - Страница 6
Philosophie der Ökonomie und Wissenschaftstheorie
ОглавлениеDiese philosophische Auseinandersetzung mit den Wirtschaftswissenschaften stellt – formal betrachtet – einen Spezialfall der Wissenschaftstheorie dar, die sich allgemein mit den Grundlagen, Methoden und Grenzen der empirischen Wissenschaften auseinandersetzt. Im Fall der Ökonomie erhält die philosophische Analyse mitunter eine neue, unvorhergesehene Relevanz, da sich auch Kritiker der herrschenden Lehre der Wirtschaftswissenschaften von der Philosophie Schützenhilfe und Orientierung erhoffen. Dabei ist fraglich, ob ihnen die bestehende Literatur der vergangenen Jahrzehnte wirklich weiterhelfen kann. Die philosophischen Theorien der Sozialwissenschaften im Allgemeinen und der Ökonomie im Besonderen krankten im 20. Jahrhundert nämlich an einer einseitigen Orientierung an der Physik, die als Königin der Wissenschaften galt. Dies war einerseits sicherlich auch ihrem frühen Erfolg geschuldet, der die Physik zum Vorbild für die anderen Wissenschaften prädestinierte. Andererseits hat dies aber auch einen systematischen Grund darin, dass die Physik die grundlegendste der Wissenschaften zu sein scheint: Jeder soziale, aber auch schon jeder chemische oder biologische Prozess ist auch ein physischer Prozess, aber nicht umgekehrt.
Die Wirtschaftswissenschaften haben diese Sichtweise nur befördern können, indem sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewusst die Physik zum Vorbild nahmen und ökonomische Prozesse so fassen und erklären wollten, wie die Physik dies mit den ihrigen tut. Die Sozialwissenschaften mussten so fast zwangsläufig als ›schmutzige‹ Physik betrachtet werden – und sogar auch sich selbst so betrachten.
Die ›schmutzige‹ Seite besteht dabei in der merkwürdigen Stellung des Menschen zu den ökonomischen Gesetzen, die zwar einerseits als Zwangsgesetze auf die Menschen wirken, aber andererseits nur durch sie und ihre Handlungen wirken. Während die Naturgesetze ausnahmslos und unerbittlich über die Materie im Großen wie im Kleinen gebieten, brechen sich die sozialen Gesetze auf nicht leicht zu erfassende Weise an Individuum und Gesellschaft. Betrachten wir zwei Texte aus der klassischen Literatur, in welchen dieser Sachverhalt problematisiert wird.
Kant beobachtet eingangs seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784, dass beispielsweise Eheschließungen und Geburten, »da der freie Wille der Menschen auf sie so großen Einfluß hat, keiner Regel unterworfen zu sein [scheinen], nach welcher man die Zahl derselben zum voraus durch Rechnung bestimmen könne,« aber die statistische Erfassung in großen Ländern gleichwohl einen Verlauf dieser kollektiven Größen »nach beständigen Naturgesetzen« enthüllt.1 Hier realisieren sich die sozialen Gesetze im statistischen Schnitt mit derselben Unerbittlichkeit, während sie dem Einzelnen alle Narrenfreiheit lassen.
Ganz anders erscheint dies bei Karl Marx. An einem Beispiel, auf welches wir noch zurückkommen werden, diskutiert er, dass sich der einzelne Unternehmer in seiner Lohnpolitik nicht gegen den Markt stemmen kann, sondern dazu verurteilt ist, sich den Konkurrenten anzupassen. Hier erscheint es so, dass die sozialen Gesetze gerade dem einzelnen gegenüber unbarmherzig durchgesetzt werden, während eine Gesellschaft als Ganze sich durchaus über sie hinwegsetzen kann. Denn ob es überhaupt einen Markt für Arbeitskraft geben soll, steht der Gesellschaft frei, und Marx optierte bekanntlich für eine andere Lösung.
Kant fasste die sozialen Gesetze mithin grosso modo als deterministische Makrogesetze, die den Individuen auf der Mikroebene ihre Freiheit lassen, sich aber in der Summe ihrer Handlungen gleichwohl verwirklichen. Marx verstand sie hingegen als Gleichförmigkeiten, die gerade durch selbstregulierende Sanktionsmechanismen auf Mikroebene durchgesetzt werden, während sie auf der Makroebene doch eher als Regeln denn als Gesetze erscheinen, nämlich einen konventionellen, historischen und veränderbaren Charakter offenbaren. In jedem Fall zeigt sich der Unterschied zu den Naturgesetzen, dass die sozialen Gesetze zwar einerseits als Zwangsgesetze auf die Menschen wirken, aber andererseits nur durch sie wirken, wodurch sich ihr Korsett auf der einen oder anderen Ebene zu lockern scheint.
Da sie diesen Unterschied nur als einen Makel auffassten und am Leitbild der Physik festhielten, schien es den Wissenschaftsphilosophen nicht geboten, eine eigene Theorie der Sozialwissenschaften zu entwickeln. Es reichte, die an der Physik gewonnenen Erkenntnisse einfach auf die Sozialwissenschaften zu übertragen, und insbesondere auch die gewohnten Fragestellungen wieder ins Zentrum zu rücken: Was ist eine Erklärung, was ein Modell, was sind Gesetze und welches ist ihre induktive Basis, welche Rolle spielt die Kausalität dabei usw. usf. (zur Fortführung schlage man das Inhaltsverzeichnis einer beliebigen Einführung in die Wissenschaftstheorie auf). Jede Abweichung der Sozialwissenschaften konnte einfach der mangelnden Perfektion dieser schmutzigen Disziplinen zugeschrieben werden. Dies entspricht in der Tat ziemlich genau der Haltung und dem Selbstbewusstsein, welche die einflussreichen Wissenschaftsphilosophen der Nachkriegszeit gegenüber den Sozialwissenschaften an den Tag legten.
Ausgerechnet bei diesen Philosophen suchen Kritiker der herrschenden ökonomischen Lehre heute Rat. Dabei stellt die Übertragung von der Physik auf die Sozialwissenschaften eine schwere Hypothek dar. Man kann nämlich erstens schon Zweifel daran hegen, ob die Klassiker der Wissenschaftstheorie an der Physik überhaupt einen adäquaten Begriff von Wissenschaft gewonnen haben. Sie tendierten in der Tat dazu, Wissenschaft auf Theorie zu reduzieren, und in ihren Konzeptionen nahmen dementsprechend die Begriffe von Hypothese und Gesetz eine zentrale Stellung ein. Dieses Bild wurde in den letzten Jahrzehnten ziemlich durcheinander geschüttelt und wich einer Auffassung, welche den praktischen, lokalen und historischen Zügen der Forschung viel mehr Raum gibt, zugleich aber auch in der Abgrenzung von Wissenschaft gegen Nicht-Wissenschaft vorsichtiger ist. Dies ist ein ziemlich triftiger Aspekt, insofern die Kritiker der Wirtschaftswissenschaften diese oft an einem starken normativen Wissenschaftsideal messen, welches seinerseits einem unrealistischen und bisweilen etwas kitschigen Bild von der Physik entstammt. Demgegenüber ist es ein Anliegen dieses Buchs, mit realistischeren und behutsameren wissenschaftstheoretischen Annahmen zu arbeiten.
Im gleichen Zuge, wie sich das Bild der physikalischen Forschung wandelte, wurde aber auch zweitens deutlich, dass die Physik mitnichten die Fundamentalwissenschaft sein muss, für die sie gehalten wurde. Dass jeder soziale oder biologische Prozess auch immer ein physischer ist, verbürgt nicht logisch, dass er in letzter Instanz auch allein durch seine physischen Eigenschaften erklärt werden kann. Es war dies lediglich ein Versprechen. Im bis heute einflussreichen Wiener Kreis beispielsweise ist es in der Behauptung verkörpert, die physikalische Sprache sei die Universalsprache. Dieses Versprechen wurde allerdings niemals eingelöst.