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Ausläufer der Drachenberge – Vertrauter Fremder
ОглавлениеIch saß stocksteif da, während ich den Fremden anstarrte. Wer war dieser Fremde? Hatte mich Raco verraten und einen Soldaten hierher geordert, um mich gefangen zu nehmen? Aber dieser halbnackte junge Mann sah nicht ansatzweise aus wie ein Krieger. Gesehen hatte ich ihn auch noch nie, oder doch? Als ich so erschrocken in seine hellbraunen Augen schaute, deren Farbe sich schon fast ins Goldene verlor, schien es, als hätte ich diese Augen schon immer vor mir gehabt. Wie ein guter Freund, welchen ich aus der Kindheit kannte, dann Jahrzehnte nicht gesehen hatte, und plötzlich wiedertraf. Auch sein Gesicht: Es war rundlich geformt und hatte bräunlich-rote und vollkommen reine Haut. Nicht die kleinste Unebenheit war zu sehen, nicht eine Pustel, von denen in seinem Pubertätsalter eigentlich reichlich vorhanden sein müssten. Seine Frisur war ganz kurz und stoppelig, als hätte ihm vor kurzem jemand die Haare gründlich geschnitten. Und auf der muskulösen Brust wuchsen ihm überhaupt keine Haare. Und noch weiter unten…
Ich schämte mich für den Gedanken und lief auch sicherlich dementsprechend rot an, doch konnte ich die Antwort nicht erblicken. Eine kurze Stoffhose verbarg sie. Alles an diesem Jungen wirkte, als sei er gerade eben geboren. Raco, der etwas größer war als der mir Unbekannte, trat vor.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten. Er ist ein Freund. «, hörte ich ihn beruhigend sagen.
»Okay. «, entgegnete ich unsicher, wobei ich wie ein Chamäleon Raco und den Unbekannten im Auge behielt. Raco kniete sich mit sorgenvollem Gesicht neben mich hin.
»Ich war bei deinem Haus, um ein wenig Nahrung und Kleidung zu holen, aber… es war heruntergebrannt. «
»Sie haben es abgebrannt? «, fragte ich, wieder den Tränen nahe.
»So habe ich in dem Wirtshaus ein wenig Nahrung und Kleidung
besorgt. Allerdings…«
Raco brach ab.
»Was? «, wollte ich wissen.
»Es ist so, dass dich die Soldaten verfolgen und du hier in Drachenbrück nicht mehr sicher bist. Wir müssen fort von hier. Hast du Verwandte oder Freunde, bei denen du wohnen kannst? Sonst müssen wir nach Norden zu einem Kloster wandern. Die Mönche dort werden dich sicherlich aufnehmen und dir Schutz gewähren. Der König hat jenseits der Drachenberge keine Macht.
»Ich möchte nicht ins Exil gehen. «, antwortete ich rasch. Es kam gar nicht in Frage, mich für den Rest meines Lebens hinter dicken Mauern zu verstecken und mit alten Männern Schach zu spielen.
»Ich habe einen Onkel und eine Tante, die ich als Kind zusammen mit meinem Vater besucht habe. Sie wohnen ganz in der Nähe von Smallbarn . «
»Mmm… Smallbarn. «, grummelte Raco. »Es ist ein weiter Weg und wenn mich nicht alles täuscht, liegt auch in gleicher Richtung der Wohnsitz des Königs. «
»Aber Smallbarn ist ein sehr kleines Dorf und wird von den Soldaten sowie vom König kaum beachtet! «, wandte ich rasch ein.
»Bedenke, dass ich keine Landkarte besitze, die die Gegend bis dorthin zeigt. Meine Aufzeichnungen und die meines Meisters galten nur den Drachenbergen und den nördlich gelegenen Landstrichen. Auch bin ich nicht im Besitz eines Finders . «
»Eines was?«, fragte ich neugierig, aber Raco ignorierte mich.
»Wenn du wirklich nach Smallbarn gehen willst, müssen wir zuerst nach Flecus , um neuen Proviant zu besorgen. Wir sollten am besten gleich aufbrechen, damit wir noch vor Einbruch der Dämmerung vor den Stadtmauern sind. Flecus ist gut bewacht.«
Gesagt, getan. Wir nahmen nur noch schnell eine gemeinsame Mahlzeit ein, bevor wir uns auf den Weg über den südlich gelegenen Arm des Drachenberges machten. Raco bestand darauf, dass ich sein Pferd reite, da ich ja noch so geschwächt war. Ich widersprach nicht, da ich durch seine betäubenden Heilkräuter noch nicht einmal meine Beine spürte und Angst hatte, über eine Wurzel oder einen herausstehenden Felsblock zu stolpern. Während wir unterwegs waren, konnte ich meine Augen nicht von den Unbekannten lassen, der aus irgendeinem seltsamen Grund weit hinter uns lief, als hätte er keine Kraft mehr, den steilen und gewundenen Pfad empor zu steigen. Doch ich ahnte, dass es noch viele Tagesmärsche bergauf gehen müsste, um dem seltsamen Jungen die Kräfte zu rauben. Wie er da so hinter uns her ging und mich beobachtete, als hätte er Angst, dass ich vom Pferd fallen könnte (was ich beinahe auch wäre, da ich ihn so intensiv angestarrt hatte), wirkte er ganz anders als die anderen Menschen. Zäher, gewaltiger, als wenn es keinen Berg auf der Welt gäbe, welcher ihn außer Atem bringen könnte. Selbst als Raco neben mir während der Mittagszeit anfing laut zu schnaufen, schwitzte er noch nicht einmal. Doch als wir die Spitze des Berges erreichten, wurde unsere Wanderung unterbrochen. Als wenn eine Barrikade durchstoßen worden wäre, ließ die betäubende Wirkung der Heilkräuter nach und der bisher unterdrückte Schmerz kehrte mit voller Wucht zurück. Ich schrie laut auf, rutschte unkontrolliert aus dem Sattel. Doch ich schlug nicht wie erwartet auf den harten Boden auf, sondern wurde beinahe zärtlich zu Boden gelegt. Neben mir konnte ich Racos Gaul laut und panisch wiehern hören und dann galoppierte er laut schnaubend davon.
»Dreh sie um und drück sie auf den Boden! Aber sacht, nicht das du ihr die Schultern brichst.«, hörte ich Raco keuchend zu dem Fremden sagen. Schon spürte ich einen heftigen Druck an meinen Schultern, den man sich nicht zu widersetzen brauchte und ich drehte mich auf den Bauch. Kurz sah ich das rundliche Gesicht des fremden Jungen nahe an meinem und ich konnte seinen Atem riechen. Mir stockte der meine. Nicht aus Schmerz, sondern da ich diesen scharfen Duft schon einmal gerochen hatte. In der Todesschlucht, als mir zum ersten Male der orangefarbene Drachen gegenüber stand. Aber derjenige, der mich gerade auf den Boden presste, war kein Drache! Nicht mal ansatzweise! Als Raco mir etwas Kaltes auf meine Wunde legte und dazu magische Worte formulierte, wurde mir leicht schummrig. ›Aber wie konnte mich der Junge überhaupt auffangen?‹, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Er war doch mindestens zehn Schritt hinter uns. Der Schmerz ließ nach und ich spürte, wie mein ganzer Körper unterhalb der Mitte meines Brustkorbes wieder taub wurde. Ich
blieb erschöpft, hastig atmend und mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegen.
»Vila? Ist alles in Ordnung mit dir?«, hörte ich den Fremden panisch rufen.
»Lass sie einen kleinen Moment.«, sagte Raco ruhig. »Sie braucht
einen kleinen Augenblick. Geh lieber ein wenig auf Abstand, So dass ich Donnerhall zurückrufen kann.«
Den Namen Donnerhall hatte ich bisher noch nie gehört. Doch bildete sich in meinem betäubten Kopf die verschwommene Vermutung, dass wohl Racos schwarzer Hengst so heißen musste. Ich hörte kurz das Grummeln des Fremden und dann einen magischen Ruf, der scheinbar über den ganzen Berg hallte. Doch nach kurzem Warten geschah nichts.
»Klasse Kunststück, Magier!«, hörte ich den Jungen einige Schritte entfernt spöttisch rufen. »Ich kann auch so laut in den Wald rufen, wenn nicht sogar um noch einiges lauter!«
»Donnerhall wird meinen Ruf vernommen haben und kommt sicherlich gleich.«
Und tatsächlich. Nach wenigen Augenblicken tappte das edle Ross vorsichtig zwischen zwei Büschen hervor. Ich sah, wie es sich vorsichtig umschaute, als würde es sich vergewissern, dass sein Feind verschwunden war. Sein Blick fiel auf den weiter weg stehenden fremden jungen Mann.
»Ich verspreche, dir nichts zu tun.«, hörte ich ihn sagen.
»Komm, Donnerhall, komm.«, sagte Raco ruhig und schnalzte mit der Zunge. Donnerhall wartete noch einen Moment. Langsam schien er sich in Sicherheit zu wissen und nährte sich uns. Raco griff nach den herunterhängenden Zügeln, trat nahe an den großen Kopf seines Pferdes heran und sprach leise zu ihm. Dann wandte Raco sich mir zu und nickte. Er half mir in den Sattel. Als ich sicheren Halt gefunden hatte, bedankte ich mich. Dann machten wir uns wieder auf den Weg in Richtung Flecus. Während das Pferd mir meine Schritte abnahm und dem gewundenen Pfad bergab folgte, wandte ich mich zu dem Fremdling um. Da er mich im Fall aufgefangen hatte, überkam mich langsam das Gefühl, dass ich ihm vertrauen konnte. Auch wenn ich mir immer noch nicht erklären konnte, wie er so schnell zu mir gelangen konnte, wo er doch gute zehn Fuß hinter mir ging.
»Wie ist dein Name?«, fragte ich ihn mit einem Lächeln. Seine braun-goldenen Augen flogen von den um uns stehenden Bäumen in meine Richtung.
»Ich habe keinen Namen.«, antwortete er.
»Was? Keinen Namen?«, wiederholte ich zum Teil ungläubig.
»Jedenfalls keinen, welchen du auszusprechen vermagst.«
Zuerst grübelte ich über seine seltsame Antwort, doch dann wurde es mir klar.
»Ach so, du kommst aus einem anderen Land und dein Name ist so kompliziert, dass die Einwohner dieser Länder ihn nicht auszusprechen vermögen.«
»Jaaa…«, hörte ich ihn langgezogen sagen. Ich vermutete, dass ihm das Thema vielleicht unangenehm sein könnte, also fragte ich ihn nicht weiter aus. Ich wandte mich nach vorn und tauchte nach einiger Zeit wieder ein in düstere Erinnerungen der Vergangenheit. Dunkle Wolken zogen im Laufe des Nachmittags auf und verdeckten mit ihren düsteren Bergen den Sonnenuntergang. Während wir auf einem Felsvorsprung standen, lag vor uns das Dorf Flecus. Es besaß ungefähr doppelt so viel Land wie Drachenbrück und war wehrhaft, wie Raco bereits gesagt hatte. Um die dicht gebauten Häuser aus Stein zog sich ein fester Wall, nur von den beiden Toren im Norden und Süden unterbrochen. Da ich seit langer Zeit nur das Dorf meiner Heimat gesehen hatte, empfand ich dieses Dorf als ziemlich groß gebaut und übertrieben befestigt. Es ähnelte weniger einem Dorf sondern eher einer Festung. Als ob Raco meine unausgesprochenen Gedankengänge bestätigen wollte, sagte er:
»Das ist das Dorf Flecus, die Grenze des Reiches der Menschen zu dem Reich der Drachen. «
Als er das sagte, schaute er den Fremden eindringlich an. Ich beachtete die Blicke der beiden nicht weiter, sondern schaute auf die Ortschaft, die sich vor uns auf der kargen Landschaft erstreckte und zusammen mit den schweren Wolken für mich noch düsterer erschien. Dies war gewiss kein Ort für ein kleines Mädchen, das frei sein wollte. Es war ein Gefängnis! Ein Wachposten, welcher die Drachenberge immer im Auge behielt und die dort lebenden Wesen auf ihren trostlosen Bergen gefangen hielt. Von der Ferne her konnte ich leise Musik und heiteres Gelächter von Männern hören.
»Wir sollten uns auf den Weg hinunter machen. Die Wachen verbarrikadieren die Tore in der Nacht. «
Der Weg hinunter von dem letzten Stückchen Berg erwies sich als schwierig, als wollten die Ausläufe der Drachenberge uns nicht gehen lassen. Der Pfad war so eng und steil, dass Donnerhall sogar ausrutschen konnte. Also stieg ich ab und da ich den ganzen Tag auf seinem Rücken gesessen hatte, hieß ich den mit Kieselsteinen überhäuften Erdboden willkommen. Endlich hatte ich Gelegenheit, meine schmerzenden Muskeln einmal zu bewegen. Aber erst nachdem ich vom Rücken des Pferdes gestiegen war, spürte ich sie.
»Wer seid ihr? Was wollt ihr? «
Lächelnd traten wir in den hellen Schein der Fackeln. Augenblicklich standen wir vor einem der verschlossenen Tore und einer missgelaunten, königlichen Wache, die uns scharf beäugte.
»Mein Name ist Raco und ich bin Magier aus Drachensbrück. «, sagte Raco und machte einen Schritt auf den Wachmann zu, der verängstigt seinen Speer noch fester umklammerte.
»Schön, und wer ist die junge Dame und die Gestalt dort hinten? Gehört der auch zu euch? «
»Mein Name ist Vila«, antwortete ich rasch. »Und dort hinten steht… steht… mein Bruder. Er ist ein wenig scheu, hat Angst vor so großen, starken und stattlichen Wachen wie ihr es seid. «, log ich mir rasch zusammen.
»Und wie lautet sein Name?«, fuhr er mich ungerührt an.
»Sein Name ist... ist Athema .«, überlegte ich rasch.
»Und ihr kommt aus Drachensbrück?! Soso, ihr habt also den Weg über den südlich gelegenen Arm der Drachenberge genommen, statt wie normale Bürger es tun würden, den Schwingenpass zu nehmen. Und jetzt erbittet ihr bei mir mitten in der Nacht Einlass in unser Dorf! «
›Mitten in der Nacht? ‹, fragte ich mich und schaute gen Westen, wo ich noch zwischen einem Loch in den Wolken, den rotleuchtenden Zipfel der untergehenden Sonne sehen konnte.
»Ja, ich bitte euch als freundlicher Wächter der Ortschaft. «,
schmeichelte Raco.
»Ihr könnt euch bei mir einkratzen, so viel ihr wollt! Ich werde euch dennoch keinen Zutritt gewähren! Schließlich kann ich nicht jeden dahergelaufenen Strolch, der mir vor die Füße kommt, herein bitten! Wo würde ich da hinkommen?«
Raco antwortete nicht, sondern zog aus dem Inneren seines Umhangs einen Beutel hervor. Er öffnete ihn, holte eine Münze heraus und gab sie dem misstrauischen Wachmann. Der nahm die Münze entgegen und biss darauf, um die Echtheit zu prüfen. Dann schaute er mich an.
»Die Dame an eurer Seite kann ich kaum mehr erkennen. Doch noch reichen eure Zauberkünste nicht aus, um euch ganz verschwinden zu lassen. «
Ich sah, wie der Wächter sich wieder schielend dem Lederbeutel in Racos Hand zuwandte. Raco ließ drei weitere Münzen in die gierigen Hände des Mannes fallen. Der unternahm allerdings nichts, sondern kniff nur die Augen zusammen, als würde er uns schlecht sehen können und ließ die Münzen fröhlich in seiner immer noch ausgestreckten Hand klirren. Raco verstand und legte treuherzig fünf weitere Münzen in seine Hand. Ich starrte auf das viele Geld, welches einfach mal so den Besitzer wechselte. Allein diese neun unnötigen Münzen hätten das Leben meines Vaters und meines um ein Vielfaches verbessert.
»Nun gut.«, räusperte sich der Wachposten. »Wie es mir scheint, sind die Straßen heute besonders stickig. Ich denke, einmal kurz lüften sollte nicht schaden. «
Und mit diesen Worten hieb er mit seiner gepanzerten Faust gegen das Holz und rief zu einem seiner Wachleute hinauf: »Öffnet das Tor!«
Die beiden Torflügel schwangen knarrend auf und ließen uns ein. Als wir einige Schritte weit von der Wache entfernt waren, wandte ich mich ungläubig an Raco.
»Warum hast du dich so ausnutzen lassen? Das Geld hättest du anderweitig investieren können! «
»Es ist besser, wir suchen uns einen geeigneteren Unterschlupf, als ständig auf der Straße zu schlafen. Zudem bist du immer noch verletzt und geschwächt, vergiss das nicht! «
»Ja.«, antwortete ich kleinlaut. »Aber dennoch hättest du diesen Betrüger einfach verzaubern können, anstatt ihm deine ganzen Ersparnisse zu überlassen. «
»Ärgere dich nicht, Vila. Schließlich begegnet man sich immer zweimal im Leben. «
Ein Junge mit einer Stute ging an uns vorbei und Raco nutzte seine Chance.
»He Junge!«, rief er und der Knabe blieb erschrocken stehen und drehte sich verwundert um. Raco nahm noch rasch den großen Sack mit den Decken und anderen Gegenständen vom Rücken seines Pferdes, dann reichte er ihm die Zügel.
»Bringe ihn sicher zu den Stallungen, sorge gut für ihn, gib ihm anständig Futter und Wasser, striegle ihn und du wirst belohnt werden. Doch falls er in schlechtem Zustand oder nicht mehr da sein sollte, wenn ich komme, werde ich dich in eine Maus verwandeln.
Marsch jetzt!«
Der Junge nahm verängstigt die Zügel von Donnerhall und eilte davon. Ich starrte Raco fassungslos an, als sei er verrückt geworden einem fremden Menschen sein wertvolles Pferd zu hinterlassen.
»Wenn ich es wünsche, kann ich Donnerhall von überall her wahrnehmen und ihn finden.«, erklärte er, als er meine entsetzten Gesichtszüge deutete.
›Magie hat doch was für sich.‹, dachte ich mir und ich ertappte mich dabei, wie ich Raco um die Kraft der Magie beneidete. Der fremde Junge, der die ganze Zeit Abstand gehalten hatte,kam an meine Seite und schaute mich mit einer hochgezogenen Augenbraue fragend an.
»Athema? «, fragte er mich.
»Ich dachte mir, es würde irgendwie passen. Zumal du keinen Namen hast, wie du uns gesagt hast. Wenn er dir nicht gefällt, können wir gern über einen anderen nachdenken.«, sagte ich entschuldigend, da ich aus seiner Miene nicht schließen konnte, ob er sich nun über den Namen freute oder verärgert war.
»Nein, nein. Ich finde der Name passt ganz gut zu mir.«, sagte er schließlich. Ich war erleichtert. Wir gingen die gewundenen, engen Pflasterstraßen entlang, auf der Suche nach einer passenden Unterkunft. In den engen Gassen stank es stark nach Urin und Kot und ich kniff angewidert die Augen zusammen. An dem schrägen Gemäuer der eng gebauten Häuser schwebten über unseren Köpfen Öllampen, die ein wenig die Dunkelheit aus den engen, gewundenen Gassen und Straßen vertrieben. Dennoch schien alles an dieser Ortschaft etwas unheimlich. Nirgendwo schien es einen geraden Weg zu geben, genauso fehlte ein Ort, der nicht nach den Fäkalien der Menschen und Ratten stank. Flecus würde ganz sicherlich nicht zu meinen Lieblingsorten zählen. Zu eng, zu bewacht und viel zu dreckig war es hier. Ich wunderte mich sowieso, wie hier Menschen freiwillig leben konnten. Die große Anzahl von Wachen sollte ein kleines Mädchen, wie ich es war, eigentlich beruhigen. Da ich aber überall von den Schergen des Königs gesucht wurde, fühlte ich mich in ihrer Gegenwart sehr unwohl und am liebsten hätte ich die Flucht ergriffen. Dann erblickte ich etwas aus dem Augenwinkel, was mich noch mehr in Furcht versetzte. Gerade gingen wir an einem schwarzen Brett vorbei, an dem normalerweise Neuigkeiten und manchmal auch Phantombilder von gesuchten Straftätern ausgehängt wurden. Und dort, neben einigen Informationsblättern konnte ich eindeutig Racos Gesicht und mein eigenes erkennen. Nackte Panik ergriff meinen Körper. Sich in einer Ortschaft aufzuhalten, in der überall Truppen des Königs auf uns lauerten, um uns unserer Freiheit zu berauben, grenzte an Lebensmüdigkeit. Irgendwie musste Athema meine Angst gespürt haben, denn er ergriff meine Hand und drückte sie aufmunternd. Ich schaute ihn an. Auf seinem Gesicht lagen Sorgenfalten, als ob er mir stumm die Frage nach meinem Wohlbefinden stellen wollte, aber vielmehr wusste er genau, was in mir vorging. Sofort als ich seine braun-goldenen Augen sah, verschwand die Angst, als hätte ich soeben bei mir zu Hause einen heißen Tee getrunken. Dennoch musste ich Raco auf die Handzettel am schwarzen Brett hinweisen.
»Raco!«, sagte ich und er drehte sich zu uns um. Ich deutete verstohlen zum Brett. Er warf der gezeigten Stelle kurz einen Blick zu und nickte dann zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Dann beschleunigte er seine Schritte auf der Suche nach einer sicheren Unterkunft. Plötzlich kam ein Trupp von ungefähr zwanzig bis fünfzig Soldaten im Gleichschritt um die Ecke. Prompt wandte sich Raco um, breitete einladend die Arme aus wie eine freundliche Geste, um Athema und mich in die nächste Tür einzuladen. Somit verdeckte er auch mit seinem ausgebreiteten Körper eventuelle neugierige Blicke der Soldaten auf mich. Auch Athema reagierte blitzschnell. In einem Bruchteil eines Momentes legte er seinen Arm um meine Schulter und führte mich nach links zu einer dicken Holztür. Kurz konnte ich einen Blick auf das Holz über der Tür werfen, auf dem standen die folgenden alten Lettern:
Gasthaus zum tanzenden Eber
Ich vergewisserte mich, dass Raco nicht den Anschluss verlor. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte und ich mich somit nicht mehr auf ihn zu konzentrieren brauchte, bemerkte ich erst, wo wir uns befanden. Die Gaststube war überfüllt von Menschen. Während sich die Männer mit Bier voll laufen ließen und haufenweise altes Bot und abgehangenes Fleisch in sich hinein schaufelten, bediente und vor allem kassierte ein breitschultriger Mann an der Theke. Einige Männer tranken nicht nur, sondern rauchten auch starken Tabak, der der stickigen Luft noch eine beißende, stinkende Note beifügte. Raco drängte uns weiter in den engen Raum hinein.
»Barmann!«, rief er. Der ganze Boden erzitterte, während der dicke und sicherlich auch starke Barmann an das Ende der Theke schritt, welches sich gleich neben der Eingangstür befand. Er ließ ein lautes Knurren ertönen zum Zeichen, dass er ihn gehört hatte.
»Wir hätten gern einen Tisch, hinten an der Wand, wenn es euch nichts ausmacht. Und ein Zimmer für drei.«
Er knallte seine drei Münzen auf den Tisch.
»Die Waffen müsst ihr aber hier lassen!«, erwiderte der korpulente Mann und warf dabei einen vielsagenden Blick auf den Langbogen. Raco nahm rasch den Bogen und den Köcher ab und überreichte alles dem Mann. In den massigen Händen des Mannes sahen die Waffen wie Spielzeuge aus, so klein wirkten sie. Er nickte. Schon schupste Raco uns weiter in Richtung eines runden Tisches in der hinteren Ecke, die sehr schräg wirkte. Gerade als wir uns setzten, flog die Tür auf und drei sehr dünne Wachen traten auf die Schwelle. Raco flüsterte etwas, während mir das Kinn vor Anspannung kribbelte und ich mich steif wie eine Statue hinsetzte. Athema schien keinesfalls angespannt, denn gerade schnappte er sich den Spitzhut eines älteren Mannes und sagte freudig erregt:
»Ich wollte schon immer einen solchen Hut tragen. Danke.«
Der Mann wirkte so betrunken, dass er überhaupt nicht bemerkte, wie seine Kopfbedeckung verschwand. Die Wachen sahen sich im Raum um, gerade als wollten sie jedes einzelne Gesicht nach den Gesuchten prüfen. Plötzlich trafen die Augen des Einen auf mich und er starrte mich entgeistert an. ›Das war es‹, dachte ich ›Aus und vorbei!‹
»Ei!«, donnerte der breitschultrige Barmann. »Tretet ein oder hinaus mit euch, aber macht gefälligst die Tür zu! «
Die Wachen wandten erschrocken die Köpfe.
»Habt ihr zufällig ein junges Mädchen gesehen?«, fragte einer von ihnen. Der Mann hinter der Bar warf die drei Münzen von Raco in die Luft und fing sie sicher wieder auf.
»Leider nein.«, antwortete er mit leichtem Bedauern. Dann fügte er mit seiner ursprünglichen Kraft hinzu: »Und nun hinaus!«
Die Wachen verschwanden auf der Stelle. Erleichtert atmete ich aus und strich über meinen langen Silberbart. Aber Halt! Irritiert schaute ich hinab und erblickte Hunderte lange Haare, die rund um meinen Mund sprossen und bis hinab zu meinem Schoß reichten. Vorher hatte ich noch keinen Bart, da war ich mir absolut sicher. Irritiert wandte ich meinen Blick zu Raco, der mich durch seinen gräulichen Bart zufrieden anlächelte. Sein Gesicht sah sehr alt und faltig aus und überall entstellten ihn Altersflecken. Ich streckte vollkommen gefangen durch den irritierenden Anblick die Finger und berührte seine faltige Haut. Dann zog ich sie zurück und berührte meine Haut, die sich anfühlte, wie ein sehr altes aufgedunsenes, warmes Stück Leder. Ich erschrak, als mir bewusst wurde, dass ich ein alter Mann war. Natürlich nur im Gesicht, aber immerhin! Dann verwandelte sich mein Schreck jäh in Belustigung.
»Genial!«, hauchte ich und lächelte. Raco murmelte wieder etwas und schon spürte ich, wie sich mein Bart zwischen den Fingern wieder in meine Haut zog und mit einem leichten Kribbeln wieder verschwand. Auch sein Gesicht wandelte sich von alt in jung, so dass er nach dieser kurzen Verwandlung aussah wie immer. Mit meinen Händen prüfte ich nach, dass Raco ja nichts von meinem Gesicht übersehen hatte. Dann schaute ich mich kurz im kleinen Raum um. Sicherlich musste irgendjemand mitbekommen haben, wie zwei Menschen rasch alterten und dann ganz plötzlich wieder jung wurden. Doch alle Männer hier schienen zu betrunken und zu abgelenkt, so dass sie nichts mitbekommen hatten. Nur der Barmann zwinkerte mir freundlich zu, als ich ihn kurz mit meinem Blick traf. Athema neben mir schien sich jedoch überhaupt nicht verändert zu haben. Munter setzte er den Spitzhut wieder dem betrunkenen Alten auf den Kopf, der kurz grunzte und dann steif wie ein Brett von seinem Platz auf den Boden kippte.
»Ups!«, sagte Athema und hielt sich lächelnd die Hand vor den Mund.
»Ich hole Speisen und Getränke!«, sagte Raco und ging vor zum Tresen. Wir aßen altes Brot und etwas komisch schmeckendes Fleisch. Während Raco sich einen Krug Bier genehmigte, bestand ich jedoch auf einfachem Wasser. Auch Athema probierte sich an der goldenen Köstlichkeit, aber nach dem ersten kleinen Schluck spuckte er die Flüssigkeit wieder aus und schob den Krug als Entschuldigung dem nassen und mies dreinblickenden Raco entgegen.
»Verzeihung.«
»Schon gut!«, sagte Raco mit steifer Miene. Dann wirkte er einen kleinen Zauber, so dass die klebenden Spritzer auf dem Tisch und in seinem Gesicht einfach verschwanden. Nach der Mahlzeit gingen wir auf unser Zimmer.
»Wir haben einen harten Tag vor uns und deine Wunde muss gepflegt werden.«, erklärte Raco begründend. Doch schon als wir die gewundene Treppe zum zweiten Stockwerk erreichten, wurde mir ganz mulmig bei dem Anblick. Die Treppe samt Wand und Decke waren so schräg und schief, dass schnell der Verdacht aufkam, dieses Gebäude würde noch heute Nacht in sich zusammenfallen. Teilweise war die Treppe so schief, dass wir Stufe um Stufe überhaupt nicht an Höhe gewannen und dann als Ausgleich drei weite Stufen hatten, wo eigentlich fünf hingehört hätten, um vernünftig die Höhe zu bezwingen. Ich keuchte, als ich die oberste Stufe erreicht hatte, und wir uns auf einem dunklen, kurzen Korridor wiederfanden. Fünf Türen verliefen in unbekannte Zimmer, zwei links, zwei rechts und eine am Ende des kurzen Ganges. An den Türen befanden sich kaum mehr sichtbare Zahlen von eins bis fünf. Wir gingen ganz nach hinten und nahmen das Zimmer ganz am Ende des Ganges. Raco öffnete die morsche Holztür, die laut knarrend aufging.
»Das Zimmer hat keinen Schlüssel.«, sagte Raco ernst. »Ich werde einen Zauber wirken, damit sich kein ungebetener Gast in der Nacht hineinschleicht und uns im Schlaf die Kehle durchschneidet.«
Angst stieg wieder in mir bei diesen Worten hoch und ich fragte zitternd:
»Kann das passieren?«
Raco wandte sich in der Türschwelle um und schaute in mein ängstliches Gesicht, welches sicherlich auch erbleicht war. Raco lächelte.
»Keine Sorge, Vila. Ich bin ein Zauberkundiger und werde dich zu schützen wissen. Ignaerae.«, fügte Raco hinzu und sofort erhellte eine Lichtsphäre den kleinen Raum. Wir traten alle hinein und Raco schloss leise murmelnd die Tür. Wir standen in einem kleinen Raum, der wie schon die Treppe draußen ziemlich schräg wirkte. Vier einfache Feldbetten standen an den schiefen Wänden und über ihnen lagen alte, teils löchrige Decken. Bei zwei dieser Betten waren die Decken umgeschlagen worden, als hätten sich heute Morgen erst zwei Unbekannte aus den Liegen erhoben und seit dem hatte sich scheinbar keiner dazu erbarmt, die Decken wieder gerade zu rücken oder gar gegen neue einzutauschen. Die Luft war verbraucht und muffelte stark nach schlechtem Atem und altem Schweiß von ungewaschenen Körpern. Das Fenster an der krummen Wand schien so klein, das man sicherlich tagelang lüften musste, um halbwegs den Gestank aus dem Zimmer zu vertreiben.
»Wää!«, sagte ich angeekelt. »Ihr könnt alles mit mir anstellen, doch in diesen Betten werde ich nicht schlafen! Wenn wir morgen aufwachen, haben uns die Läuse und Milben sicherlich schon bis auf die Knochen abgenagt.«
Raco grummelte. Zuerst leicht gereizt, dann wie immer, wenn er einen Zauber aussprach. Ganz plötzlich verschwand der beißende Gestank und an seiner Stelle trat ein frischer Duft nach… Ich schnüffelte aufmerksam.
»Mmm… Rosenblätter.«, sagte ich genussvoll und genauso gedehnt.
»Genau!«, sagte Raco, griff die Lumpen von zwei der Betten und warf sie aus dem kleinen Fenster, welches sich kurz öffnete und sogleich wieder schloss, als hätte ein freundlicher Geist Raco das Entsorgen der alten Stoffe erleichtert. Dann holte er aus seinem Sack seine Decken und legte sie auf die Feldbetten.
»So.«, sagte er, wobei er leicht erschöpft klang. »Nun sollten wir uns mal deine Verletzung anschauen.«
Als wenn dies ein Kommando gewesen wäre, zuckte ein Blitz in meinen Rücken und ich keuchte auf. Der Schmerz war zwar nicht annähernd so intensiv wie heute Mittag gewesen, doch war er immer noch stark genug, um nicht einfach ignoriert zu werden.
»Leg dich hin.«, sagte Raco ganz ruhig und wies mit der ausgestreckten Hand auf eine frischbezogene Liege. Ich gehorchte stöhnend und legte mich auf den Bauch.
»Und du gehst am besten hinaus! Du kannst immer noch hineinkommen, wenn sie wieder geheilt ist.«, sagte Raco zu Athema, der stumm nahe der Tür stand. Ich hörte, wie seine nackten Füße auf den Absatz kehrtmachten und anschließend, wie die Tür aufschwang und dann wieder geschlossen wurde. Dann knöpfte Raco meine Kleider auf, so dass mein ganzer Rücken für ihn frei lag. Ich spürte seine kühle Hand angenehm auf meiner brennenden Narbe. Dann begann Raco Worte zu sagen, nun nicht mehr leise in den Bart gebrabbelt, sondern laut und unheilvoll. Sogleich ertönten andere Stimmen, die sich mit seinen Worten vereinigten und kraftvoll durch den Raum schwangen, wobei sie den Boden erzittern ließen. Schon nach drei Herzschlägen verebbte der Schmerz und erstarb dann vollkommen. Allerlei Stimmen im Raume wurden langsam leiser und verschwanden genauso wie meine Schmerzen.
»Du solltest dich nun ausruhen.«, hörte ich ihn jetzt wieder in seinem üblichen, leisen Tonfall sagen.
»Ich hatte das Gefühl, alle in diesem Haus, wenn nicht sogar die Soldaten draußen, hätten deine Zauber gehört.«, sagte ich hastig atmend.
»Meine Zauber haben nur du und ich gehört, niemand sonst. Naja vielleicht noch Athema.«, antwortete Raco. Ich spürte, wie er meine Kleidung wieder zuknüpfte. Als er fertig war, erhob ich mich und schaute ihm tief in die Augen.
»Raco, wird mich wieder ein Anfall heimsuchen?« , fragte ich ihn und achtete dann auf eine eventuelle Lüge in den Tiefen seiner Augen.
»Nein.«, sagte er. »Die Wunde ist nun vollkommen geheilt, doch es wird eine Narbe bleiben. Das Gift verhindert die vollkommene Heilung. Du hast Glück gehabt, dass ich die hochmagische Sprache, Salinguae, beherrsche. Schlaf nun!«