Читать книгу Feuersturm der Drachenseele - Oliver Seidenstücker - Страница 12
Flecus – Die Stadt in der Nacht
ОглавлениеIch stand vor der modrig riechenden Tür und lauschte traurig. Von dem komischen Raum her drangen die Schmerzensschreie von Vila. Es war, als wenn mein Körper ihre Qualen durchleben würde. Ich wollte nicht, dass sie litt. Das hatte ich nie gewollt. Meine menschlichen Hände ballten sich. Raco begann von drinnen her seltsam zu sprechen. Zwar hörte ich ihn kaum, ich bezweifelte sogar, dass ein anderer Mensch ihn hören konnte, doch was ich vernahm, klang sonderbar. Wie ein voller Raum, dessen Menschen in ihm zuerst munter durcheinander plapperten, aber dann nach und nach begannen als eine Einheit miteinander seltsame Worte aussprachen, die ich nicht zu wiederholen vermochte. Plötzlich war alles still. Kein Geschrei, keine unheimlichen Worte, nur die allgegenwärtigen Stimmen der betrunkenen Männer unten in der Schenke waren zu hören. Dann erhob Raco die Stimme:
»Du solltest dich nun ausruhen!«
»Ich hatte das Gefühl, alle in diesem Hause, wenn nicht sogar die Soldaten draußen, hätten deine Zauber gehört.«, hörte ich Vila zittrig sagen und erleichtert öffnete ich die Fäuste. Ihr ging es also wieder gut.
»Meine Zauber haben nur du und ich gehört, niemand sonst. Na ja , vielleicht noch Athema.«, hörte ich wieder Raco und ein kleiner Schauer lief mir über den Rücken. Wusste er, dass ich noch vor der Tür stand und lauschte? Nein! Er hatte sicherlich nur auf meine guten Ohren als Drache hingedeutet. Ich lauschte weiter:
»Raco, wird mich wieder ein Anfall heimsuchen?«
»Nein. Die Wunde ist nun vollkommen geheilt, doch es wird eine Narbe bleiben. Das Gift verhindert die vollkommende Heilung. Du hast Glück gehabt, dass ich die hochmagische Sprache, Salinguae beherrsche. Schlaf nun!«
Ich atmete erleichtert auf. Also würde Vila nie wieder einen Anfall bekommen und das schreckliche Schauspiel von heute Mittag würde bleiben, was es ist. Eine grausame Erinnerung. Ich ging die verzerrte Treppe hinunter, denn ich hatte keine
Lust, mich in dem kleinen Raum einsperren zu lassen, während die Nacht ungenutzt vorbeizog. Nein! Ich wollte die Gelegenheit bei der Schuppe packen und meinem kleinen Freizeitspaß nachgehen und Menschen aus nächster Nähe beobachten. Im Morgengrauen würde ich dann noch kurz auf die Jagd gehen, denn das Fleisch hier war einfach widerwärtig. Gerade ging ich aus dem Haus in die düstere, gewundene Gasse. Niemand, noch nicht einmal der fette Wirt, hatte mich bemerkt, wie ich durch den Raum gegangen war und schließlich das komische Haus verlassen hatte. Als ich durch die Straßen ging, machte ich mal hier mal dort eine kurze Pause, um die Gebräuche der Menschen zu beobachten. Wie gesagt, ich war ein sehr neugieriger Drache. Und jetzt, da ich mich gut getarnt hatte, konnte ich noch dichter den Ereignissen folgen. Doch ich wusste, wann meine unbemerkten Blicke unerwünscht waren und in diesem Falle zog ich leise wie ein Schatten zum nächsten Fenster. Die Menschen verfolgten sehr komische Bräuche. Beispielsweise hatten sie eine vollkommen andere Essgewohnheit wie wir Drachen. Während wir unsere Mahlzeit drei- bis viermal kauten und sie dann unkompliziert herunterschluckten, brauchten die Menschen mindestens eine Stunde, bis Fleisch, Brot und das komische Grünzeug, anders als auch Viehfutter, zubereitet waren. Dann musste penible und immer gleich komische Werkzeuge und flache Schalen auf das erhobene Holzbrett gelegt werden. Anschließend wurde die Nahrung in die Mitte gelegt und alle Mitglieder der Familie setzten sich schließlich drum herum. Aber dann wurde immer noch nicht gespießt. Alle Bewohner scheinen plötzlich eine Art Zwang zu erliegen, so dass sie die Hände ineinander legen mussten, die Köpfe leicht senken und zu der mittlerweile toten und wieder erkaltenden Nahrung zu sprechen. Dann erst durften sie essen. Doch wenn eines der Kinder den Zwang bezwungen und die Hand sich bereits zu einer Keule oder einem anderen Stückchen Fleisch genähert hatte, schlug die futterneidische Mutter mit dem Gegenstand – Löffel – auf die Pfote des eigenen Kindes. Ich rümpfte die Nase. Seltsamer Ritus, den die Menschen da verfolgten. Erhitzten mühsam die Speisen und ließen sie dann wieder kalt werden. Unsers Gleichen hätten gesagt : »Friss, solange es noch warm ist!«. Oder wenn das Opfer noch lebendig war: »Friss, solange du es noch halten kannst.« Und in eher seltenen Fällen:
»Friss oder es frisst dich!«
Während in den meisten Straßen nächtliche Ruhe eingekehrt war, herrschte in einem ganz bestimmten, ziemlich düsteren Weg noch eifriges Treiben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn an den Straßenrändern standen viele Frauen und dazwischen einige Männer, die scheinbar auf jemand warteten. Dabei trugen alle Gestalten kaum Kleidung, räkelten sich und stöhnten, wenn jemand durch die Straße ging. Viele der Vorbeikommenden suchten sich einen Partner aus und verzogen sich in eine kleine Gasse, in der sich bereits Dutzende Paare amüsierten. Aus ihr drang massenhaft lautes Gestöhne und der penetrante Geruch von Schweiß und anderen Flüssigkeiten. Fleisch rieb sich an Fleisch, juchzend und stöhnend vor Erregung. Meistens zu zweit, aber auch zu dritt und zu fünft. Eigentlich bestand der ganze Ort aus Menschen, die sich alle wild durcheinander bewegten. An diesem sündhaften Ort verweilte ich nicht lange, sondern suchte rasch das Weite. Gerade war ich in einer Seitengasse nahe des Hauptweges, da hörte ich einen Angstschrei einer Frau. Ich jagte die Straße entlang und bog um die Ecke. Als ich die Stimmen eines Mannes und der besagten Frau von der Nähe hörte, schlich ich bis in eine kleine Weggabelung und lugte um die Ecke.
»Komm mein hübsches Mädchen, komm!«
Ich sah den Rücken eines Menschen und dahinter an die Wand gepresst eine Frau mit angstverzerrtem Gesicht. Ihr graues Kleid schien einen Riss zu haben, denn die Frau hielt sich das Kleidungsstück an der Brust zusammen. Der Weg endete einfach an einer Hauswand ohne eine Tür, so dass die Frau in der Falle saß.
»Wenn du noch einmal schreist, schlitze ich dir die Kehle auf!«, hörte ich den Mann mit erregter Stimme sagen, während er sich langsam seinem Opfer näherte. Die Lampe über der Frau erzeugte einen langen, bedrohlichen Schatten des Mannes, der sich sehr lang über den steinernen Boden bis zur gegenüberliegenden Wand hinter mir erstreckte. Dann hörte ich, wie die Frau noch mehr bettelte und sah, wie der Mann gleichzeitig den rechten Arm hob. Über seiner Hand reflektierte plötzlich ein langer, flacher Gegenstand das Licht. Er hielt einen sich krümmenden Dolch in der Hand und während er weiter auf das Mädchen zuging, hob er die Waffe immer höher.
»Lass ab von diesem Mädchen!«, rief ich laut. Der Mann drehte sich um und schaute mich mit seinem langgezogenen, hässlichen, krummnäsigen Gesicht an. Dann ging er auf mich los, obwohl ich ihm eigentlich nichts getan hatte. Musste wieder so eine komische Verhaltensart der Zweibeiner sein, dachte ich bei mir, duckte mich ein wenig und hielt meinen Arm zum Verteidigen in die Höhe. Sein rechter Unterarm krachte mit voller Wucht auf den meinen, was ich nur mit einer weichen Berührung wahrnahm, während der Mann scheinbar vor Schmerz aufheulte und den Dolch fallen ließ. Sein Arm war sicherlich nicht gebrochen, das hätte ich gehört, aber immerhin schien sein Knochen gestaucht und seine Muskeln leicht gequetscht zu sein. Ich richtete mich wieder auf und stupste den Mann mit meiner Faust in den Magen. Er klappte sofort zusammen und blieb winselnd auf dem Boden liegen, unfähig mir oder der fremden Frau auch nur ein Haar zu krümmen. Ich schaute zu ihr und sie schaute ungläubig zurück. Sie schien so verblüfft durch mein unerwarteten Auftritt, dass sie ganz vergaß, ihr zerschlitztes Kleid festzuhalten, also blätterte es auseinander. Aus Höflichkeit, die ich bereits von den Zweibeinern erfahren hatte, ließ ich den Kopf zur Seite wandern, als interessierte mich ein besonders schöner Stein an der Wand. Dabei spürte ich jedoch ihre neugierigen Blicke, die sie über meinen halbnackten Körper schweifen ließ. Mich störte das nicht, selbst wenn ich keine Hose getragen hätte. Wir Drachen besaßen schließlich keine Privatsphäre und auch keine Kleidung.
»Wer seid ihr, junger Herr?«, fragte sie mich.
»Nur ein Freund, der wie der Zufall es wollte, zur richtigen Zeit anwesend war.«, antwortete ich. Dann wandte ich mich um und verschwand in der Seitengasse.
»Wartet!«, rief die Frau mir noch nach und trat in die erleuchtete Gasse, wo ihre Augen mich vergebens suchten. Ich hing während dessen fünf Meter in der Höhe an einem, wie die Menschen es nannten: Fenstersims. Springen konnte ich also noch. Nach wenigen Augenblicken gab die Unbekannte auf, mit ihren Augen nach mir zu suchen und sie ging einen anderen Weg entlang, bevor sie allerdings noch einmal dem Mann einen Tritt in die Niere versetzte. »Schuft!«
Es war nun tief in der Nacht und ich schlenderte allein durch die vollkommen ausgestorbenen Gassen. Alle Räumlichkeiten lagen nun im Dunkeln und somit konnte ich heute nichts mehr über die Menschen lernen. Schnell wurde mir langweilig. Jagen wollte ich noch nicht, da es so tief in der Nacht war, wo Pflanzenfresser und Fleischfresser (außer Drachen natürlich) fest schliefen. Erst am frühen Morgen würde ich wieder jagen können. Also trottete ich ziellos durch die dunklen Gassen. Nach und nach kannte ich mich in der kleinen engen Ortschaft aus, doch viel Aufregendes gab es hier für einen hungrigen Drachen nicht. Keine Schafe, keine Ziegen und auch keine Kühe gab es innerhalb der Stadtmauern. Nur einen kleinen Fluss, der unter der Mauer hinein- und nach einigen Metern wieder hinausfloss. Dabei hielten dicke Eisengitter unter der Wasseroberfläche Eindringlinge außerhalb der Grenzen. Hätte ich in der Flussmitte gestanden, würde mir das Wasser sicherlich bis zum Hals reichen, so tief vermutete ich ihn. Flache Stufen reichten von einem kleinen Platz zum Gewässer, so dass die Menschen Wasser schöpfen, Kleidung waschen und ihre Körper reinigen konnten. Clever, wirklich clever, das musste ich den Zweibeinern lassen. Sie brauchten keinen tiefen Schacht für einen Brunnen ausheben und mussten auch den Schutz der Mauern nicht verlassen, um an Wasser zu gelangen, sondern das Wasser kam zu den Bewohnern. Doch dieser Vorteil konnte sicherlich auch rasch zu einem Nachteil werden. Denn wenn diese Festung eines Tages durch feindliche Truppen belagert würde, konnten die Feinde einfach Gift in das Wasser geben und die Bewohner würden dadurch oder durch Wassermangel zu Haufen sterben. Aber wer weiß? Vielleicht versteckte sich in einem der vielen Häuser doch irgendwo ein geheimer Brunnen, der in solchem Falle die Bewohner retten könnte. Ich stillte rasch meinen Durst und verschwand wieder in den engen und verwinkelten Gassen. Da hörte ich ein paar Gassen weiter leises Gelächter. Ich beschloss, den vielen Stimmen zu folgen. Je näher ich den vielen Stimmen kam, konnte ich immer mehr von den gesprochenen Worten verstehen.
»...Mindestens zwanzig Drachen.«, hörte ich da und es folgte erstauntes Raunen. Ein wilder Strom von Wut erfasste meinen Körper und drohte ihn wegzuspülen, doch ich musste mich über Wasser halten. Egal was auch passierte, ich konnte mich jetzt nicht einfach so verwandeln. Mein Drachenkörper würde sie sicherlich darauf bringen, dass sich Vila hier irgendwo aufhalten könnte. Nein! Ich schloss kurz die Augen und senkte durch meiner Konzentration und meiner bewussten, ruhigen Atmung mein Herzrasen. ›Denk an etwas Schönes.‹, sagte ich mir, ›Denk an Vila‹. Tatsächlich beruhigte ich mich ein wenig, als ich an ihre zärtlichen Züge dachte. Erst als ich mich wieder im Griff hatte, traute ich mich, mein Herz zu beruhigen und meine Ohren wieder zu öffnen. Die tiefe Stimme, die gerade so angeberisch gesprochen hatte, sagte nun:
»Letztlich habe ich gegen einen riesigen Drachen gekämpft. Er war so riesig, dass allein seine Zähne, die alle samt so scharf wie eure Dolche waren, die Größe eines stattlichen Mannes hatten. Er hat mir diese Narben zu gefügt. Es wäre mir ein Leichtes sie zu heilen, aber ich finde, sie schmücken mein Gesicht und lassen mich unheimlicher aussehen.«
Gigantisch großer Drache, ja ja. So ein Angeber. Ich bin nicht mal ein Bruchteil so groß, wie der erzählt. Gerade war ich an dem Weg angelangt, auf dem die Männer standen. Ich spähte im Schutze der Dunkelheit um die Ecke und erkannte im matten Schein einer Lampe fünf bis acht Soldaten des Königs in einem Kreis, teils stehend, teils sitzend.
»Wie hast du denn den Kampf überlebt?«, hörte ich einen Anderen fragen.
»Gut, dass du fragst Friedrich. Ich habe einen Fesselzauber gewirkt, so dass sich die Bestie nicht mehr bewegen konnte. Es war ein äußerst komplizierter Zauber, der zudem die Stärke von uns auf die Probe stellt. Dann, als er wehrlos auf dem Boden lag, gefesselt, von meinem Zauber, hob ich geschwächt meinen vergifteten Dolch und senkte die Klinge direkt in sein Herz.«
Pa! Mit einem Dolch direkt ins Herz! Ts! dass ich nicht lache! Mit so einem Spielzeug könnte der mich vielleicht nur an der Schuppe kratzen. Zudem hatte er mich nicht getötet, sondern ich beinahe ihn. Da kam mir die Idee, mir ein kleines Spiel zu erlauben. Wie reagierten sie wohl, wenn ich sie ein wenig ärgern würde? Vila und Raco würden dabei nicht in Gefahr geraten, da ich mich von dem Gasthof weit entfernt befand. Vielleicht konnte ich das fiese Narbengesicht sogar von ihrer Spur ablenken? Ich trat vor, darauf bedacht, dass mein Gesicht weiterhin im Dunkeln lag. Nach wenigen Augenblicken bemerkten mich die schwatzenden und lachenden Menschen und schauten mich ungläubig an, als wäre ich ein Geist oder so etwas.
»Junge?«, rief das Narbengesicht und trat unsicher vor. Doch ich drehte mich um und verschwand wieder in der Dunkelheit.
»Junge, bleib stehen!«, riefen die Wachen und jagten mir nach. Ich hörte ihre lauten Schritte, als ich um eine weitere Ecke bog und dann elegant an einer schrägen Hauswand emporkletterte. Ich konnte gut klettern, besser als die Zweibeiner. Mein Griff war fest genug, um mich an den kleinsten Vorsprüngen und Unebenheiten fest zu halten. Auch wenn keine Vorsprünge und Unebenheiten vorhanden waren, hätte ich mit Leichtigkeit mit meiner bloßen Faust Löcher in das marode Gemäuer schlagen können, an denen ich mich dann festhalten könnte. Doch die etwas windschiefen Wände waren meist schlecht verbaut, so dass hier und dort ein Stein oder ein Holzbalken hervorlugte, an denen ich mich gut festhalten konnte. Gerade schritten die Wachen mit ihrem festen Schuhwerk lautstark unter mir hinweg, wobei sie mich nicht bemerkten. Sie stießen kurz danach auf eine weitere Weggabelung und einen weiteren Wachtrupp. Verwirrt schauten sie sich um und befragen die andere Einheit, ob sie einen kleinen Jungen gesehen hätten. Ich ließ mich fallen und landete lautlos dank meiner nackten Füße auf dem Boden. Wieder trat ich in einen Lichtkegel, doch die Wachen bemerkten mich nicht sofort. Um auf mich aufmerksam zu machen, ließ ich ein lautes Knurren ertönen. Seitdem ich mich wieder verwandelt hatte,
konnte ich mein angsterfüllendes Knurren ertönen lassen, ohne mich zu verschlucken. Alle Wachen wandten sich wie ein Mann zu mir um und liefen auf mich zu. Ich lief wieder davon und hangelte mich einige Schritte wieder im Dunkeln die Wand empor. Wieder liefen die Wachen unter mir entlang und blieben nach einigen Schritten stehen und blicken sich suchend um. Ich unterdrückte ein Kichern, denn diese Männer schienen nicht besonders hell zu sein. Dann ließ ich mich herabfallen und machte auf mich aufmerksam. Nachdem ich wieder in der Dunkelheit verschwunden war, hörte ich den Narbenmagier laut rufen:
»Halt! Ihr lauft dort herum und wir hier.«
Im Laufen musste ich wieder ein Lachen unterdrücken. Scheinbar dachten diese komischen Zweibeiner, dass ich schnell um einen Häuserblock herum laufen würde. Und nun versuchten sie mich also einzukesseln wie eine dumme Maus. Diesmal befand ich mich an einer Weggabelung, von der fünf Gassen abgingen, als ich mich in höhere Lüfte bewegte. Nun dauerte es einen kurzen Moment, als ich schnelle Schritte hörte, und von allen fünf Wegen erschienen Soldaten. Die Zahl der Männer hatte sich beträchtlich erhöht. Aus wenigen zehn sind schließlich mehrere fünfzig geworden. Selbst einige Bogenschützen verweilten unter ihnen. Sie schauten sich um und fluchten. Ich hangelte mich ein wenig weiter zur Seite und ließ mich dann abermals auf die Erde sinken, direkt vor einen Soldaten. Geschwind wich ich dem Schlag seines Schwertes aus und flitzte davon. Die Wachmänner jagten mir lauthals nach. Ich flitzte geschwind durch die verzweigten Gassen, während ich ab und zu abgeschossenen Pfeilen auswich. Einmal trat ich sogar auf einen Splitter aus Glas, doch es zerbrach durch mein Körpergewicht in weitere hundert Stücke, ohne meine dicke Haut zu durchbohren. Dann hatte ich mein Ziel erreicht. Ich drehte mich zu der wütenden Meute um und ließ ein lautes Knurren ertönen, während ich meine Zähne aggressiv bleckte.
»Schießt! Schießt!«, rief der Magier mit den Narben. Schon surrten Pfeile durch die Luft an mir vorbei, ohne dass ich ihnen überhaupt ausgewichen war. ›Diese komischen Pfeilwerfer sollten lieber zu einer anderen Waffe greifen.‹, dachte ich bei mir, während hinter mir die Pfeile an der Stadtmauer zersplitterten. In der großen Menge sah ich, wie Narbengesicht den neben ihm stehenden Soldaten Bogen und Pfeile wütend aus der Hand riss, anlegte und ein Wort murmelte. Schon als er den Pfeil losließ, wusste ich, dass er magisch verzaubert war, so dass er durch meine Haut gleiten würde, als bestände ich aus Wasser. Doch ich wich leicht nach links aus, pflückte mir den magischen Pfeil aus der Luft wie einen reifen Apfel und steckte ihn mir geschwind unter die Achselhöhle. Dann schrie ich laut auf, als hätte mich die metallene Spitze durchbohrt, taumelte nach hinten und fiel dann tot in den Fluss hinter mir. Die Männer stellten sich an die Stufen des Flusses und schauten nach, ob ich nun wieder schreiend auftauchen würde oder ob ein toter Körper an der Oberfläche trieb.
»Lasst mich durch!«, sagte der Magier und drängelte sich grob vor, um das gesamte Gewässer im Auge zu haben. Er versuchte bis auf den Grund zu schauen, doch es war viel zu dunkel. Nach einem Zeitraum, in dem ein lebender Mann sicherlich luftringend aufgetaucht wäre, gaben sie schließlich die Wache um den Fluss auf. Der Magier schlug einem Bogenschützen seine Waffe gegen den Bauch.
»Nehmt wieder eure Stellungen ein!«, befahl er schließlich. Aber während die Anderen zu ihren Posten gingen, verharrte der Magier und sprach einen Zauber. Sicherlich sollte er mich verraten. Doch es geschah nichts, außer dass eine Forelle neben mir ein Dreckkrümelchen ausspuckte. Ich lächelte zufrieden, während ich mich unter der Stadtmauer vor den rostigen Gitterstäben zusammengerollt hatte. Ohne aufzutauchen umgriff ich zwei algenbehaftete Gitterstäbe und zog sie auseinander. Dann schlüpfte ich geschmeidig hindurch und schwamm noch einige Meter, um nicht von den Wachen auf der Mauer gesehen zu werden. Erst in sicherem Abstand sprang ich aus dem Wasser und schüttelte mir die Tropfen von der klammen Haut wie ein Hund. Auf den halbverdorrten Feldern der Bauern von Felcus fing ich zwei Hasen, die zwischen den hohen Gräsern kauerten. Doch mit diesem Gebiss konnte ich nicht so gut speisen wie vorher. Meine Menschenzähne schienen einfach nicht scharf genug ,um das frische Fleisch zu reißen. Deshalb brauchte ich mehr Zeit um meinen Hunger zu stillen. Wie Raco ein Feuer zu entfachen und das Fleisch darauf golden und knusprig zu braten, war ich nicht in der Lage. Ich wusste nicht, welche Materialien ich neben Holz noch benötigte. Also musste ich das Fleisch, wie sonst auch immer, roh essen. Ich schien schon nach anderthalb Hasen satt, obwohl ich sonst mindestens fünf ausgewachsene Feldhasen verdauen konnte. Scheinbar musste ich als Mensch nun mehrere kleinere Mahlzeiten zu mir nehmen als einmal in der Woche eine große. Als ich aufgefressen hatte, saß ich noch ein Weilchen da und beobachtete die Welt um mich herum, die langsam wieder erwachte. Als sich die dunklen Wolken allmählich wieder von dem Himmel abhoben und die entfernten Bäume langsam als schwarze Schatten sichtbar wurden, beschloss ich, den Rückweg anzutreten. Bevor mich die Wachen sehen konnten, tauchte ich in den Fluss und unter der Stadtmauer hindurch. Als ich wieder im matten Schein auftauchte, starrte mich eine Wache an.
»Nur ein bisschen waschen, um den Gestank los zu werden, nicht?!«, stammelte ich. Der Wachmann beäugte mich zwar kurz, gab sich dann aber mit meiner Antwort zufrieden. Obwohl er mich nicht wieder erkannte, erinnerte ich mich an ihn. Er hatte mich in der heutigen Nacht erst gejagt. Als ich aus dem Wasser stieg und dem Mann meinen Rücken zudrehte, lächelte ich. Scheinbar hatte ich meine Sache gut gemacht und mich genug im Schatten aufgehalten. Wieder kletterte ich eine Wand hinauf und befand mich auf dem schrägen Dach, unmittelbar vor einem Fenster des tanzenden Ebers. Ich hockte mich auf die Zinnen und blickte in das kleine Zimmer. In dem Zimmer standen – wie gestern – vier Liegen. Raco und Vila lagen getrennt und schliefen noch. Ich senkte den Kopf, während Kummer mich heimsuchte. Vila schien sich in Racos Gegenwart wohl zu fühlen. Sehr wohl sogar. Es könnte auch sein, dass sie sich seit längerer Zeit kannten. Und vielleicht waren sie mehr als Freunde. Ich atmete tief ein und wieder aus, während ich mein Herz schmerzvoll spürte, das gegen meine Rippen schlug. Was war das für ein Schmerz, der mich da heimsuchte? War das... Konnte das tatsächlich Liebe sein? Liebe zu einem Menschen? Liebe zu ihr? Dann lehnte ich mich mit dem Rücken an das aus dem Dach aufragende Fenster und beobachtete traurig den für mich farbschwachen Sonnenaufgang zwischen dem dicken Wolkenschleier.