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Teil IV: Grenzüberschreitende Gesundheit
ОглавлениеDie Aufsätze im letzten Teil präsentieren Überlegungen zu bestimmten Fragen im Zusammenhang mit Gesundheit und Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt. Gesundheit ist einer von mehreren Bereichen (das Klima und der technologische Wandel sind die anderen), in denen die Rolle von Staatsgrenzen bei der Festlegung der Reichweite der Gerechtigkeit besonders problematisch sein kann. Meiner Ansicht nach hat ein großer Teil der Arbeiten über Bioethik diese Realität zu wenig berücksichtigt. Gewöhnlich liegt das gerade nicht daran, dass diese sich offen nur an staatliche Akteure wenden würden (diese Prämisse bleibt häufig implizit), sondern an der Tatsache, dass sie auf einen individualistischen Ansatz setzen, der zwar für die klinische Ethik angemessen sein mag, für die Ethik der globalen Gesundheit aber keine Anwendung finden kann, weil diese von gravierender Ungleichheit in den Staaten der Welt geprägt ist.
Kapitel 13, „Gesundheitswesen oder Medizinethik: über Grenzen hinaus gedacht“, untersucht, was es uns kostet, dass die zeitgenössische Medizinethik sich ausschließlich auf die Arzt-Patient-Beziehung konzentriert, auf Aufklärungsgespräche und Einwilligungserklärungen und auf die gerechte Verteilung von gesundheitlichen Leistungen auf Einzelpersonen. Diese Perspektive verdrängt Themen, die die öffentliche Gesundheit betreffen bzw. die Gesundheit ärmerer Gesellschaften und andere wichtige globale Gesundheitsfragen, vollkommen aus dem Blickfeld. Eine angemessene Bioethik des Gesundheitswesens muss in der politischen Philosophie verankert sein, nicht nur in der Ethik. Und sie muss einen realistischen Blick dafür entwickeln, wie staatliche und nicht-staatliche Akteure die öffentliche Gesundheit stärken können. Dementsprechend kann weder die individuelle Autonomie noch eine Patienteneinwilligung nach Aufklärung ein sicheres Fundament für die Ethik der Gesundheit bieten.
Kapitel 14, „Erweiterung der Bioethik: Medizinethik, öffentliche Gesundheit und globale Gesundheit“, untersucht, ob Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens wirklich „globale öffentliche Güter“ sind, an denen jeder ein Interesse hat. Dort wird argumentiert, dass viele Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens, auch solche, die auf bestimmte Gruppen abzielen, positive externe Effekte haben können. Trotzdem sind sie keine genuin globalen Güter.
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Die hier vorgelegten Aufsätze kritisieren bestimmte Auffassungen von den Menschenrechten, doch sie gehen davon aus, dass diese Rechte für die Gerechtigkeit von entscheidender Bedeutung sind. Dabei kritisiere ich vor allem jene Konzeptionen von Menschenrechten, die sich über die Akteure, denen die Gerechtigkeit überantwortet wird, nicht weiter auslassen bzw. über deren spezifische Pflichten. Konzeptionen, die all diese Pflichten ungeprüft den Staaten anlasten. In meinen Augen nehmen wir die Rechteperspektive nicht ernst genug, wenn wir nicht zeigen, wer genau was für wen tun soll. Und die Pflichten, die wir ausschließlich dem Staat zuweisen, sind typischerweise solche zweiter Ordnung, zu deren Umsetzung es andere personelle oder institutionelle Akteure braucht. Mir ist nur zu klar, dass die vielen Kollegen, Studenten und Zuhörer, denen ich diese Gedanken vorgetragen habe, meines Refrains mittlerweile vielleicht überdrüssig sind, aber ich bleibe in dieser Hinsicht unbußfertig.