Читать книгу Gerechtigkeit über Grenzen - Onora O'Neill - Страница 18
Situationen der Knappheit
ОглавлениеDer letzte Abschnitt zeigte, dass, selbst wenn ausreichend Mittel vorhanden sind, Menschen manchmal dadurch getötet werden, dass andere die Mittel zum Überleben ungleichmäßig verteilen. Auf lange Sicht aber sind jene Situationen wichtiger, die sich wirklich mit dem Rettungsboot-Szenario vergleichen lassen: Situationen, in denen die Ressourcen knapp werden. Wir stehen vor Umständen, in denen nicht jeder Mensch, der geboren wird, auch mit einer normalen Lebenserwartung rechnen kann. Und wir können davon ausgehen, dass sich diese Spanne verkürzen wird. Wann solch eine ernsthafte Verknappung eintreten könnte, ist Gegenstand von Debatten, aber selbst die optimistischen Propheten sehen sie nur wenige Jahrzehnte entfernt.16 Wie schnell diese Situation eintritt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, zum Beispiel der technologischen Innovation, dem menschlichen Erfindergeist, vor allem im Bereich Landwirtschaft und Bevölkerungskontrolle, und dem Erfolg von Programmen zur Geburtenkontrolle.
Solche Vorhersagen scheinen uns von der Mittäterschaft am Hungertod zu entlasten. Wenn der Hunger unvermeidlich ist, dann müssen wir uns vielleicht entscheiden, wer gerettet werden soll, doch der Tod jener, die wir weder retten werden noch retten können, stellt keine Tötung dar, für die wir Verantwortung tragen. Diese Todesfälle wären auch eingetreten, wenn wir keinerlei ursächliche Einflüsse ausgeübt hätten. Die Entscheidungen, die hier zu treffen sind, mögen entsetzlich schwierig sein, doch wir können uns zumindest damit trösten, dass wir den Hunger weder verursacht noch dazu beigetragen haben.
Doch diese tröstliche Sicht auf den Hunger vernachlässigt die Tatsache, dass solche Vorhersagen von bestimmten Annahmen darüber abhängen, was die Menschen in der Zeit vor dem Auftreten einer Hungersnot tun. Der Hunger nämlich ist nur dann unvermeidlich, falls die Menschen ihre Fortpflanzung nicht kontrollieren, ihr Konsumverhalten nicht ändern und Umweltverschmutzung und die daraus folgende ökologische Katastrophe nicht verhindern. Es ist die Politik der Gegenwart, die die Hungersnöte verursacht, verzögert oder ganz vermeidet. Wenn es also zu einer Hungersnot kommt, sind die damit zusammenhängenden Todesfälle Konsequenz von früher getroffenen Entscheidungen. Nur wenn wir keinen Anteil an Systemen oder Aktivitäten haben, die zu Hungersnöten führen, können wir davon ausgehen, dass wir entscheiden, wen wir retten, und nicht, wen wir töten, sobald sich eine Hungersnot eintritt. In einer wirtschaftlich eng vernetzten Welt gibt es nur wenige Menschen, die Hunger als Naturkatastrophe verstehen dürfen, vor der sie gnädigerweise einige Menschen bewahren, für deren Eintreten sie jedoch keinerlei Verantwortung tragen. Wir können nicht stoisch bestimmte Hungertode als unvermeidlich betrachten, wenn wir zum Eintreten und zum Ausmaß der Hungersnot beigetragen haben.
Tragen wir Verantwortung für das Auftreten des Hungers, dann ist jede Entscheidung über die Verteilung des Hungersnot-Risikos eine Entscheidung darüber, wen wir töten. Selbst die Entscheidung, die Selektion der Natur zu überlassen, ist als Strategie in der Hungersnot eine Entscheidung darüber, wen wir töten – denn mit einer anderen Strategie hätten vielleicht andere Menschen überlebt, mit einer anderen Strategie vor dem Auftreten des Hungers hätte es vielleicht gar keine Hungersnot gegeben oder sie wäre weniger gravierend ausgefallen. Die Entscheidung für eine bestimmte Politik während der Hungersnot mag sich rechtfertigen lassen durch Verweis darauf, dass sich ohnehin nicht mehr viel machen lässt, weil die Situation ist, wie sie eben ist, und dass es nun mal Tote geben wird. So ähnlich wie auf einem schlecht ausgestatteten Rettungsboot. Aber selbst in diesem Fall ist die Entscheidung für eine bestimmte Verfahrensweise während der Hungersnot keine Entscheidung für die Rettung bestimmter, aber nicht aller Personen vor einer unvermeidlichen Katastrophe.
Natürlich können Einzelpersonen keine individuellen Strategien gegen den Hunger entwickeln. Maßnahmen in Zeiten des Hungers und davor werden von Regierungen und möglicherweise auch von Nichtregierungs-Organisationen individuell und kollektiv entschieden. Es kann sich sogar als politisch unmöglich herausstellen, weltweit eine kohärente Strategie für Zeiten des Hungers und davor festzulegen. Wenn dem so ist, müssen wir uns für kleinteilige und bruchstückhafte Lösungen entscheiden. Aber jeder Mensch, der in der Position ist, solche Maßnahmen, sei es nun global oder lokal, zu unterstützen oder abzulehnen, muss entscheiden, welche Maßnahme er für gut befindet und welche nicht. Selbst bei Einzelpersonen kommen Tatenlosigkeit und Gleichgültigkeit häufig Entscheidungen gleich – Entscheidungen, die Maßnahmen gegen den Hunger während und vor der Hungersnot zu unterstützen oder den Status quo fortzuschreiben, ob dies nun durch aktive Teilhabe oder passives Geschehenlassen passiert. Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten für den Bürger, solche politischen Maßnahmen zu beeinflussen. Zum Beispiel, indem sie sich für oder gegen Entwicklungshilfe und Auslandsinvestitionen einsetzen, indem sie sich Organisationen oder Gruppierungen wie Zero Population Growth anschließen oder nicht, indem sie Technologien nutzen, die die Umwelt bewahren, und einen entsprechenden Lebensstil pflegen. Wir haben also ganz individuell jeder die Pflicht, das Töten zu verhindern. Denn selbst wenn wir
a) die Hungertoten nicht im Alleingang getötet haben,
b) die Hungertoten nicht unmittelbar getötet haben,
c) nicht wissen, welche Menschen in der Folge der von uns unterstützten Maßnahmen gegen den Hunger und zur Vorbeugung einer Hungersnot sterben werden (außer natürlich, wir vertreten eine Art Völkermord durch Hunger),
d) nicht beabsichtigen, dass jemand vor Hunger stirbt,
töten wir und lassen die anderen nicht einfach nur sterben. Denn als Resultat unseres Handelns im Einklang mit anderen werden Menschen sterben, die hätten überleben können, hätten wir anders gehandelt und nicht ursächlich Einfluss genommen.