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Politik in Zeiten des Hungers und davor
ОглавлениеEs gibt verschiedene Prinzipien, auf die sich eine Politik gegen den Hunger gründen ließe. Einige davon möchte ich hier aufführen mit dem Ziel, das Spektrum möglicher Entscheidungen aufzuzeigen, also in der Absicht, eine Rechtfertigung dafür zu geben, dass man bestimmte Menschen auswählt, die man überleben lässt. Ganz allgemein könnte man dafür eintreten, jene Maßnahmen zu realisieren, die zu den wenigsten Todesfällen führen würden. Man könnte zum Beispiel den Gesichtspunkt der natürlichen Selektion heranziehen, vergleichbar mit der Gewährung medizinischer Hilfe in Situationen hohen Bedarfs. Dann wäre das Kriterium, ob jemand Hilfe erhält, eine hohe Überlebenschance, während bei niedrigen Überlebenschancen Hilfe versagt wird – das hieße, dass man die schlechtesten Risiken sich selbst überlässt. (Diese Entscheidung würde unserem Fall 2A entsprechen, bei dem man den kranken Mann als Opfer auswählt.) Doch die Strategie der wenigsten Todesfälle ist unbestimmt, wenn man keinen Zeitrahmen festlegt. Denn Maßnahmen, die kurzfristig das Überleben von mehr Menschen sichern – wie vorbeugende medizinische Maßnahmen und Sicherung des Existenzminimums –, könnten das Bevölkerungswachstum vergrößern und daher zu einer noch schlimmeren Katastrophe führen.17
Eine andere allgemeine Strategie wäre, Gründe zu finden, die es rechtfertigen, das Recht eines Menschen, nicht getötet zu werden, aufzuheben. Solche Maßnahmen würden beispielsweise erlauben, Menschen zu töten, die auf ihr Recht, nicht getötet zu werden, verzichten (freiwillige Euthanasie, wozu auch vernünftige potenzielle Selbstmorde zählen). Oder solche Menschen zu töten, die als nicht selbstständig lebensfähig und sehr belastend empfunden werden wie unerwünschte Kranke, Alte, Ungeborene oder Neugeborene (unfreiwillige Euthanasie, Abtreibung und Kindsmord). Solche Strategien werden gewöhnlich gerechtfertigt durch den Verweis, dass das Recht, nicht getötet zu werden, in Zeiten des Hungers außer Kraft gesetzt wird, wenn der Rechteinhaber zustimmt oder das Zugeständnis dieses Rechts besonders belastend wäre. Jede Entscheidung für die eine oder andere dieser Strategien bedeutet, dass einige Menschen getötet werden, andere geschützt. Den Getöteten wird ihr Recht, nicht getötet zu werden, möglicherweise mit gutem Grund entzogen. Jene, die die Politik des Hungers vor und während der Hungersnot bestimmen oder unterstützen, können sich dennoch nicht darauf berufen, dass sie nicht getötet haben. Wenn sie aber umsichtig argumentieren, können sie vielleicht beanspruchen, dies nicht ohne Rechtfertigung getan zu haben.
Dieser Vorteil macht deutlich, warum es hier nicht sachdienlich ist, das Recht auf Selbstverteidigung auf das Recht zu beschränken, sich selbst gegen Menschen zu verteidigen, die unser Leben auf nicht „unschuldige“ Art bedrohen. Eine derartige Einschränkung macht einen großen Unterschied, wenn es um Abtreibung in Fällen geht, in denen das Leben der Mutter bedroht ist. Wo es aber um Hunger geht, hat sie keinen Sinn. Wer durch eine politische Strategie gegen den Hunger zum Opfer bestimmt wird, ist vielleicht völlig unschuldig an der Hungersnot oder zumindest nicht schuldiger als jemand anderer. Daher bietet die Unschuld der Opfer keinen hinreichenden Grund für die Ablehnung einer Strategie. Denn wo Hunger herrscht, ist es schwer, mit dem Finger auf die Verantwortlichen zu zeigen. Sind es jene, die Getreide horten? Oder Eltern, die viele Kinder haben? Ineffiziente Landwirte? Unsere eigene Generation?
In gewisser Weise sind wir in Zeiten der Knappheit alle unschuldige Bedrohungen für die anderen, denn das Brot, das der eine isst, könnte das Leben des anderen retten. Würden weniger Menschen um Ressourcen konkurrieren, würden die Rohstoffpreise fallen und Hungertode könnten vermieden werden. Denn Hungertode in Zeiten der Knappheit ließen sich rechtfertigen unter Berufung auf das Recht auf Selbstverteidigung mit der geringstmöglichen Wirkung ebenso wie auf die Unvermeidbarkeit von Todesfällen überhaupt oder darauf, dass es sinnvoll ist, unter den möglichen Opfern einige auszuwählen. Denn jeder Hungertod hinterlässt weniger Überlebende, die um die knappen Ressourcen konkurrieren, und die am stärksten Gefährdeten unter den Überlebenden wären vielleicht sowieso gestorben – hätten das nicht andere getan. Eine Politik, die auf den Tod einiger abzielt, mag also gerechtfertigt sein, wenn man annimmt, dass die am stärksten gefährdeten Überlebenden anderweitig nicht hätten gerettet werden können.
Die globale Knappheit ist heute noch nicht da. Aber dass sie unmittelbar bevorzustehen scheint, hat Auswirkungen auf unser Handeln heute. Wenn alle Menschen das Recht haben, nicht getötet zu werden, und in der Folge die Pflicht, andere nicht zu töten, dann müssen wir vor dem Ausbrechen einer Hungersnot Maßnahmen ergreifen, die sicherstellen, dass der Hunger so lange wie möglich hinausgezögert und so weit wie möglich reduziert wird. Und die Pflicht, das Auftreten einer Hungersnot hinauszuzögern und das Ausmaß derselben zu verringern, umfasst auf der einen Seite die Pflicht, die künftige Erdbevölkerung zu verringern und die Mittel zum Überleben zu steigern.18 Denn wenn wir solche Maßnahmen nicht vor dem Eintreten einer Hungersnot ergreifen, könnten wir gezwungen sein, in Zeiten des Hungers zu drastischeren Mitteln zu greifen.
Wenn wir also das Recht, nicht getötet zu werden, ernst nehmen, müssen wir uns nicht nur strategische Maßnahmen gegen künftige Hungersnöte überlegen, sondern auch bevölkerungs- und ressourcentechnische Vorkehrungen für die Gegenwart. Zum Thema „Bevölkerungspolitik“ gibt es ja lebhafte philosophische Debatten.19 Was die hier angesprochene Problematik angeht, weisen diese folgende Mängel auf: Erstens werden sie meist im utilitaristischen Rahmen diskutiert und konzentrieren sich größtenteils auf Probleme wie: Welche Art von Bevölkerungspolitik ist nötig, um die gesamte und durchschnittliche Nützlichkeit einer Population zu steigern? Zweitens beschäftigen sich diese Ansätze meist mit einer Form von Ressourcenknappheit, die die Lebensqualität beeinträchtigt, nicht aber mit einer, die das Leben an sich unmöglich macht. Sie drehen sich eher um die Frage „Wie viele Menschen dürfen wir noch dazubekommen?“ als um „Wie könnten wir möglichst wenig verlieren?“. Natürlich gibt es bevölkerungspolitisch gesehen viele interessante Fragen, die nichts mit Hunger zu tun haben. Hier aber werde ich mich nur mit jenen bevölkerungs- und ressourcenpolitischen Maßnahmen beschäftigen, die darauf abzielen, Hunger möglichst weit hinauszuschieben und zu reduzieren. Denn nur solche Maßnahmen gründen sich vermutlich auf den Anspruch, dass Menschen ein Recht haben, nicht getötet zu werden, und auf die daraus hervorgehende Pflicht, dafür zu sorgen, dass Situationen, in denen wir dieses Recht außer Kraft setzen müssen, möglichst vermieden oder zumindest hinausgeschoben werden können.
Solche bevölkerungspolitischen Strategien können, je nach Ausmaß der Knappheit, milde oder drakonisch ausfallen. Ein paar Beispiele: Zu milden Maßnahmen könnte man Familienplanung rechnen, vielleicht mit finanziellen Anreizen oder Maßnahmen, die die Rechte der Menschen nicht beeinträchtigen, aber auf ihre Pflicht abzielen, ihren Körper zu kontrollieren. Selbst milde Maßnahmen würden einiges an Erfindungsreichtum (z. B. die Entwicklung von Verhütungsmitteln, die man auch in armen Ländern einsetzen kann) und Innovationen (z. B. eine Sozialpolitik, die den Anreiz und den Druck, eine große Familie zu haben, reduziert) erfordern.20 Drakonische Maßnahmen wären der Zwang zur Bevölkerungsbegrenzung – zum Beispiel durch verpflichtende Sterilisation nach der Geburt einer gewissen Anzahl von Kindern oder durch Wegfall von Gesundheitsvorsorge an Orten, die hohe Reproduktionsraten aufweisen, damit die Anzahl der Todesfälle nicht sinkt, solange die Geburtenrate hoch ist. Selbst eine Politik der vollkommenen Unterdrückung künftiger Geburten (durch z. B. allgemeine Sterilisation) würde die Voraussetzung erfüllen, den Hunger hinauszuschieben, denn ausgestorbene Rassen verhungern nicht. Ich setze hier auf keinerlei Prämissen, die zeigen würden, dass eine vollkommene Unterdrückung aller Geburten falsch wäre. Andere Prämissen hingegen könnten durchaus Gründe liefern, dass es falsch wäre, Menschen zur Sterilisation zu zwingen, oder genauer gesagt, dass eine bestimmte Anzahl Menschen besser wäre als gar keine Menschen. In jedem Fall machen die politischen Aspekte einer Anti-Hunger-Politik es wahrscheinlich, dass diese drastischste aller bevölkerungspolitischen Maßnahmen wohl kaum ergriffen wird. Außerdem gibt es ja noch eine ganze Reihe von Strategien, um die Ressourcen zu steigern. Zu den milderen Formen gehören die verschiedenen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und zur Kontrolle der Umweltverschmutzung, die heute diskutiert oder bereits umgesetzt werden. Am brachialen Ende dieses Spektrums stünde die Rationierung des Energie- und Materialkonsums. Ist das Ziel der Ressourcenpolitik, die bereits Geborenen nicht zu töten, dann setzt eine angemessene Strategie sowohl Erfindungen (z. B. Sonnenenergie und bessere Müllverwertungstechniken) als auch Innovationen voraus (z. B. die Einführung neuer Technologien auf eine Weise, dass die Vorzüge nicht sofort von der angewachsenen Bevölkerung wieder aufgefressen werden, wie es an einigen Orten im Zusammenhang mit der Revolution in der Landwirtschaft geschah).
Wie auch immer: Wenn wir glauben, dass Menschen das Recht haben, nicht getötet zu werden, müssen wir uns mit den weitreichenden Implikationen dieses Rechts auseinandersetzen. Dieses eine Recht allein liefert schon mehr als genug Gründe dafür, an vielen Fronten aktiv zu werden. In Situationen der Knappheit, die wir selbst hervorrufen, ist die Realisierbarkeit des Rechts, nicht getötet zu werden, wichtig. Denn es kann keine absolute Pflicht geben, in solchen Situationen Menschen nicht zu töten, sondern nur eine Verpflichtung, nur mit gutem Grund zu töten. Solch eine Verpflichtung erfordert gründliche Überlegungen zu den Bedingungen und der Qualität des Lebens jener, die zu den Überlebenden gehören sollen. Die Moralphilosophie setzt sich mit diesem Problem nicht gerne auseinander. Dabei werden wir es bald vor Augen haben.