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Begrenzungen und Grenzen
ОглавлениеWir leben in einer Welt mit unzähligen Strukturen, die „ein- und ausmauern“, in einer Welt mit unzähligen Grenzen und ebenso unzähligen Grenzüberschreitungen. Die Linienziehungen, die wir als Grenzen bezeichnen, trennen gewöhnlich zwischen Staaten oder anderen Hoheitsbereichen. Meist handelt es sich dabei um eindeutig markierte Grenzverläufe. Andere Grenzen sind weniger greifbar. Dazu gehören die Grenzen innerhalb von Gesellschaften, Kulturen, Öko- und Wirtschaftssystemen.
Wer diese wohldefinierten Grenzverläufe kontrolliert, versucht möglicherweise, deren Überschreitung zu regulieren: Betroffen sind davon Menschen (vor allem Fremde), Güter, Handel und Dienstleistungen, Geld und Waffen, ja selbst Ideen und Information. Üblicherweise besteht die Kontrolle in einer Überprüfung, wer und was über die Grenze darf bzw. wer und was festgehalten und am Überschreiten gehindert wird (mitunter mit durchwachsenem Erfolg). Daher ist es eine ganz wesentliche Aufgabe der politischen Philosophie, Überlegungen anzustellen, ob und wie die verschiedenen Formen von Grenzen und die Ein-bzw. Ausgrenzungen, die sie konkretisieren, gerechtfertigt werden können. Und ob bzw. wie der Rückgriff auf weniger scharf definierte Begrenzungen – nationaler und kultureller, religiöser und ideologischer Natur – zur Rechtfertigung von Staatsgrenzen herangezogen werden kann. Viele Gerechtigkeitstheorien gehen davon aus, dass ihre Prinzipien universell sind, doch damit bleibt die Reichweite der Gerechtigkeit unberücksichtigt: Prinzipien können durchaus universell sein und doch einen genau begrenzten Zweck verfolgen.
Es ist daher nicht überraschend, dass die Frage der Staatsgrenzen wie auch anderer Grenzen für die Diskussionen über Gerechtigkeit tiefgehende und interessante Probleme aufwirft. Grenzen können dazu benutzt werden, um Gerechtigkeit – in je unterschiedlicher Auffassung – sicherzustellen, zu ändern, auszuhöhlen oder gar gänzlich zu beseitigen. Und das hat gewöhnlich nichts damit zu tun, dass ihr Verlauf strittig ist. Die tieferen Probleme haben weniger mit dem Verlauf von Grenzen zu tun als mit ihrer Konfiguration, also damit, welche Art von Handlungen sie erlauben oder unterbinden, und mit der Rechtfertigung des Ein- und Ausschlusssystems, das sie etablieren. Jede Rechtfertigung wirft Fragen auf, doch die Rechtfertigung von Ein- und Ausschlussverfahren zieht besonders schwierige Fragen nach sich: Müssen Argumente, die die Reichweite der Gerechtigkeit untermauern sollen, sowohl für die Inkludierten als auch für Exkludierten gelten? Ist es von Bedeutung, wenn Grenzziehungen für „Außenseiter“2 nicht plausibel sind?
Ambitionierte Versionen eines moralischen Kosmopolitentums fordern, dass Staatsgrenzen durchlässiger sein sollten, offen für mehr Menschen und auch für mehr Aktivitäten. Manche malen das Bild einer stärker institutionalisierten kosmopolitischen Zukunft, in der Unterschiede nicht mehr als Rechtfertigung für Ein- oder Ausgrenzung gelten, also einer Welt weitreichender kosmopolitischer Institutionen. Doch die meisten dieser enthusiastischen Weltbürger sind gleich weniger begeistert, wenn plötzlich die Rede von einem monolithischen Weltstaat ist. Und auch sie sind sich wohl nicht sicher, ob durchlässigere Grenzen mehr oder weniger Stabilität, mehr oder weniger Sicherheit und Gerechtigkeit schaffen würden.
Weniger ehrgeizige und scheinbar bescheidenere, realistischere Theorien globaler Gerechtigkeit gehen ganz im Gegenteil davon aus, dass zumindest einige der Grenzlinien, die durch Staatsgrenzen vorgezeichnet sind, sowie der Ein- und Ausschlussmechanismen, die sie ins Werk setzen, der Gerechtigkeit dienlich sind. Das alte Sprichwort von den guten Zäunen, die gute Nachbarschaft bedeuten, steht für ein vorsichtiges Anti-Kosmopolitentum, das manche Ausgrenzungen als hilfreich, ja notwendig erachtet, wenn Gerechtigkeit verwirklicht und bewahrt werden soll. Dabei geht es um moralischen Kosmopolitismus und um institutionellen Anti-Kosmopolitismus, die für die philosophischen und praxisorientierten Debatten über Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt Bedeutung erlangt haben. In diesem Buch will ich diesen Ansätzen nachgehen mit der Hoffnung, etwas zu den vorgebrachten Argumenten beizutragen, das diese Debatte entscheidend bereichern kann.3