Читать книгу Der gefesselte Dionysos - Patrik Knothe - Страница 11
IV
ОглавлениеAn einem schönen Aprilnachmittag, an dem die Pflanzen gerade anfingen richtig aufzublühen, der Himmel klar und der Singsang der Vögel wieder zu vernehmen war, liefen Dionysos und Apollon nebeneinander Richtung Wald, mit Hammer, Säge und Nägeln ausgerüstet. Petros wollte zuerst beim Bauen helfen, doch die beiden bestanden darauf es selbst zu tun.
Die Schulferien hatten gerade begonnen und die Jungen waren voller Tatendrang und Lebensfreude.
Apollon war inzwischen um einiges größer und auch breiter als Dionysos. Man konnte bereits an seinen Gesichtszügen und seinem Gang erahnen, dass er einmal ein prächtiger Mann werden würde. Er hatte hohe Wangenknochen, einen markanten Kiefer und hellbraune Augen. In der Schule begannen sich die Mädchen für ihn zu interessieren, flüsterten hinter vorgehaltener Hand wenn er an ihnen vorbei lief und fingen dann plötzlich an zu kichern. Anscheinend hatte er schon einmal ein Mädchen nackt gesehen und sie sogar überall berühren dürfen. Dionysos dagegen wurde für still und wunderlich befunden. Seine tiefschwarzen Haare, die blauen Augen und ein leicht blasser Teint ließen ihn zusammen mit seiner träumerischen Art wie aus einer anderen Welt erscheinen. Jeder der ihn das erste Mal erblickte, sah ihn länger und eindringlicher an als das normalerweise der Fall ist. Und während Apollon stets der Mittelpunkt allen Treibens in ihrer Schulklasse war, der jeden mit seinem Scharfsinn und Wissen faszinierte, gehörte Dionysos das Gespräch unter vier Augen. Mit ihm konnte man über die Dinge sprechen, die tief in der eigenen Seele rührten. Er hatte etwas sanftes und Vertrauen erweckendes das jede gesellschaftliche Barriere brechen ließ.
Trotz oder gerade wegen dieser Gegensätzlichkeit waren die beiden seit Jahren beste Freunde.
Auf dem Weg in den Wald machte Dionysos auf einmal an einer Weggabelung halt. Geradeaus waren es noch etwa 100 Meter bis zu den großen Bäumen, in denen ihr Haus entstehen sollte. Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein riesiges Weizenfeld während links ein mehr oder weniger verwahrlostes Stück Land zu sehen war auf dem sich seit Jahren der Wildwuchs breit gemacht hatte. Vor Letzterem ging Dionysos in die Knie und starrte gebannt nach unten.
Vor ihm im Gras saß ein wunderschöner rot-schwarzer Schmetterling. Er streckte die Hand vor dem Tier aus und es setzte sich darauf. Ganz langsam bewegte es seine Flügel auf und ab; wie ein lebendiges, mobiles Kunstwerk das nur da ist um bestaunt zu werden.
„Sag mal Dionysos … sind wir nicht zu alt um ein Baumhaus zu bauen?“, fragte Apollon.
„Ich glaube man ist nie zu alt um ein Baumhaus zu bauen“, sagte Dionysos während er fasziniert den Schmetterling betrachtete.
Apollon drehte sich plötzlich um. „Vorsicht! Da kommt jemand! Ab ins Gebüsch!“ Dionysos, traurig darüber, dass er den Schmetterling nicht beim Wegfliegen beobachten konnte, packte Hammer und Nägel und spurtete in geduckter Haltung zu seinem Freund, der bereits zwischen den hohen Gräsern und Sträuchern wartete. Viele Menschen haben nichts dagegen wenn Kinder im Wald ein Baumhaus bauen während andere strikt auf die Einhaltung der geschriebenen Gesetze pochen. Eine nochmals andere Gruppe sind die, die auf jeden Funken Glück und Freude mit Grimm reagieren und alle Ansätze dessen im Keim ersticken wollen.
Dionysos und Apollon flüchteten gerade noch rechtzeitig, denn solch ein Jemand kam einen Augenblick später in Gestalt eines 54-Jährigen Mannes um die Ecke.
„Oh nein, nicht der!“, flüsterte Apollon.
Der Name dieses Mannes, den alle Kinder von Delphi immer nur mit Abscheu oder Angst in der Stimme aussprachen, war Orthos. Unter seinem blass-grünen, viel zu kleinen Anglerhut konnte man zusammengezogene, gemeine Augen erkennen, die just gerade auf jene Stelle blickten an der sich vor wenigen Augenblicken noch Dionysos und Apollon befunden hatten.
Orthos hatte früher auch einmal ein Feld gehört, doch seine komplette Inkompetenz was Finanzen anbelangte führte schließlich zur Zwangsversteigerung seines Guts. Nun lebte er mit seiner jüngeren Schwester und deren Mann im Haus seiner verstorbenen Eltern oder besser gesagt: Er wurde von ihnen ausgehalten (vom Haus gehörte ihm nämlich auch nichts mehr). Einzig das ständige Flehen seiner Schwester an ihren Mann bewahrte Orthos davor auf die Straße geworfen zu werden.
Nach seinem Bankrott versuchte man zuerst ihn weiterhin in den Familienbetrieb mit einzubinden, aber die andauernden Streitigkeiten zwischen Orthos und seinem Schwager Minos führten dazu, dass Ersterer von jeglicher Verantwortung entbunden wurde und nun ein gelangweiltes Dasein fristete das neben dem ständigen Biertrinken nur daraus bestand, die Einwohner von Delphi, insbesondere die Kinder, zu schikanieren. Jeder im Dorf kannte ihn. Früher verkauften seine Eltern in ihrer Scheune Brot, Eier und Äpfel. Orthos Schwester und Minos übernahmen den Laden und eine ganze Zeit lang brachte er ihnen einen guten Nebenverdienst ein; bis sie Orthos bei sich aufnahmen. Ständig lungerte er vor der Scheune herum, belästigte und beleidigte die Kunden wenn sie ihm nicht in den Kram passten und schließlich kam irgendwann niemand mehr.
Unsere Hüttenbauer jedoch wurden dieses Mal verschont, denn Orthos blieb nur kurz stehen und ging dann weiter in die entgegengesetzte Richtung, die ins Dorf zurück führte.
Apollon wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Puh … nochmal Glück gehabt. Hast du schon gehört, dass er Jorgo einen Tritt in den Hintern verpasst hat?“
„Nein, warum das?“
„Nur weil er einen Apfel von einem Baum gepflückt hat. Natürlich hats mal wieder kein Erwachsener gesehen und wieder kann ihm keiner was anhaben. Aber irgendwann … komm, gehen wir weiter. Ich glaube er ist weg.“
Da die beiden bereits ein paar Stunden zuvor die Holzlatten an den Baum ihrer Wahl gebracht hatten, konnten sie sich direkt an die Arbeit machen. Es war eine große Eiche die in vielerlei Hinsicht von Vorteil war: Erstens konnte man leicht an ihr hochklettern; zweitens war sie vom Waldrand aus fast nicht zu erkennen, was einen optimalen Schutz gewährleistete und schließlich, was das Wichtigste war: Zwei starke, massive Äste die auf annähernd gleicher Höhe ziemlich waagrecht verliefen und auf denen man leicht ein Gerüst bauen konnte.
Das war es auch, was sie sich für den heutigen Tag vorgenommen hatten. Das Baumhaus sollte eineinhalb Meter breit, zwei Meter lang und zwei Meter hoch werden. Der einzige Wermutstropfen war der Hochstand der sich in unmittelbarer Nähe erhob. Doch der sah so heruntergekommen aus, dass es nicht den Anschein machte als ob dort regelmäßig ein Jäger rastete.
Sie arbeiteten mit einem vorgezeichneten Plan von Petros und von einigen kleinen Patzern abgesehen machten es die beiden wirklich gut (Dionysos schlug mehr Nägel krumm als ins Holz und Apollon hämmerte sich zwei Mal doll auf den Finger). Schneller als erwartet stand das Gerüst und sie begannen damit die Holzlatten zu befestigen.
Als die Dämmerung einsetzte, sagte ein sehr geschlauchter und verschwitzter Apollon: „Es wird dunkel und mir fallen gleich die Hände ab. Ich würde sagen wir gehen zurück und machen morgen weiter.“ In Dionysos’ Augen, die vom Rausch der Arbeit glühten, machte sich leichte Enttäuschung breit.
„Oh, man … ich könnte die ganze Nacht bauen!“, rief er fröhlich aus und hob dabei seine Hand in die Luft. „Aber du hast recht. Wir haben keine Lampe dabei. Gehen wir!“
Sie stiegen hinunter und betrachteten ihr Werk. Apollon sah leicht kritisch aus.
„Mmhhh, dieser eine Ast dort … den da … der macht mir immer noch Sorgen. Der könnte brechen. Und an der einen oberen Ecke müssen wir auch dringend was zum Abdichten besorgen. Und …“
Dionysos hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war nur völlig verblüfft von seiner Leistung und der Tatsache, dass dieser Baum heute morgen noch ein ganz normaler Baum gewesen war und jetzt eine Hütte, ihre Hütte, darauf war. Es fehlte zwar noch ein großer Teil der Wände sowie das komplette Dach, doch es war definitiv für jeden erkennbar, dass es sich um etwas handelte was zwei Jungen mit all ihrer Liebe und Energie gefertigt hatten.
In ihrer Müdigkeit nahmen sie natürlich keine Notiz von dem Beobachter, der schon seit geraumer Zeit jeden ihrer Schritte beäugte.