Читать книгу Der gefesselte Dionysos - Patrik Knothe - Страница 12
V
ОглавлениеDer nächste Tag begann beinahe so schön wie der vorige. Die wenigen Wolkenschleier die morgens durch den Himmel zogen waren bereits gegen zehn Uhr verschwunden und machten Platz für eine kräftige Frühlingssonne, die die Natur nach dem langen Winterschlaf wieder zur ihrer vollen Blüte bringen wollte.
Als Dionysos mit seinem Freund gegen neun Uhr Richtung Wald lief, sah er von weitem einen Mann auf sie zukommen. Die Gestalt kam ihm bekannt vor.
„Nicht schon wieder …“, sagte Apollon und sah sich bereits nach einem Versteck um. Dionysos jedoch strahlte. „Das ist nur Diogenes. Wir brauchen uns nicht zu verstecken!“
Apollon schien verdutzt. „Was? Der Penner aus der Tonne, der immer mit seiner Frau streitet?“
„Das ist kein Penner. Er ist sehr weise und ein durch und durch guter Mensch. Meine Mutter sagt das auch.“
„Wenn er so weise ist, warum lebt er dann die Hälfte des Jahres in einer Holztonne? Und was deine Mutter sagt, …“ Um ein Haar hätte sich Apollon verplappert.
Es war kein Geheimnis, dass ein Großteil der Einwohner von Delphi nach wie vor davon überzeugt war, dass Xenia ein sehr seltsamer Mensch war vor dem man sich zu hüten hatte.
Dionysos sah ihn böse an. „Was hast du gegen meine Mutter? Wenn du …“
„Ja, Entschuldigung“, fiel ihm Apollon ins Wort.
„Na ihr zwei … heute das Dach und die Wände?“, rief ihnen Diogenes entgegen, der gerade dabei war sich eine Zigarette anzuzünden. Er blieb stehen, inhalierte tief und sah die Jungs an.
Die beiden Freunde waren verdutzt.
„Jaja, mir entgeht hier nix“, sagte Diogenes. „Habt ihr sehr schön gemacht. Aber passt auf! Ich hab vorhin jemand im Wald rumschleichen sehen. Konnt nich erkennen wer das war … könnt das gemeine Ekel sein, ihr wisst schon wer … also gebt Obacht. Und du Kleiner, sag deiner Mutter n lieben Gruß von mir. Heute erfreuen sich die Himmel an uns!!“, rief er und lief weiter. Eine paar Schritte und einen tiefen Zug von der Zigarette später drehte er sich plötzlich nochmals um. Ihm schien etwas eingefallen zu sein und er kratzte sich an der Schläfe.
„Ach, Dionysos“, er dachte angestrengt nach „… ich hab noch … oder nich? Hä? Egal … HAHAA … wir sehen uns …“
Als Diogenes außer Hörweite war begann Apollon zu lachen: „Ich sag dir, der hat sie nicht mehr alle am Sender! Wie kann man so einen Stuss labern? Und der soll weise sein, sagst du?“
„Lass ihn in Ruhe“, sagte Dionysos leise. Es war eine Eigenart Apollons, jeden zu verurteilen der seine Gedanken nicht klar in Worte fassen konnte. Mitschüler und mitunter sogar manch ein Lehrer hatten dies schon zu spüren bekommen.
Nachdem die beiden sich am Waldrand gegenseitig mit faulem Gras beworfen hatten war ihr Streit jedoch schon wieder vergessen. Als Dionysos sich den letzten Rest Erde aus den Haaren gezogen hatte und wieder Richtung Werkzeug ging, vernahm er deutlich Schritte ganz in ihrer Nähe zwischen den Bäumen.
„Hörst du das auch?“, zischte er Apollon entgegen und sah sich um.
„Was?“
„Da ist jemand!“
„Ich hör nichts!“
Die beiden sahen sich um. Es war nichts zu erkennen und auch die Schritte waren verstummt.
Mit einem Male riss Apollon die Augen weit auf. „Meinst du Orthos verfolgt uns?“, fragte er den ebenso verängstigten Dionysos.
„Wer soll es sonst sein? Aber warum versteckt er sich vor uns? Vielleicht will er uns auf frischer Tat ertappen und wartet bis wir angefangen haben zu bauen.“
Sie setzten sich ins Gras, hielten noch einen Augenblick inne und horchten. Nichts. Nur der Singsang der Vögel und das leichte Rauschen des Windes.
Apollon schien langsam sein Selbstbewusstsein wieder zu erlangen.
„Vielleicht war es auch nur ein Tier … könnte ja sein. Die gibt’s ja hier zu genüge.“
„Ich weiß nicht“, sagte Dionysos „das hat sich für mich nicht nach einem Tier angehört und vergiss nicht was Diogenes gesagt hat.“
„Ach, hör doch endlich auf mit dem … lass uns weitergehen. Ich habe keine Angst vor Orthos“, sagte er stolz und stand auf. „Komm schon! Wir haben heute noch viel zu tun.“
Die Arbeit ließ sie Orthos vergessen. Noch emsiger als am Tag davor nagelten und hämmerten die beiden bis in den Mittag hinein. Als das Dach stand beschlossen sie eine Pause zu machen und ihren Imbiss zu verzehren, der aus belegten Broten und etwas Schokolade bestand.
Die Klarheit des Morgens war vorüber und am Horizont zogen langsam dunkle Wolken auf.
„Eventuell regnet es nachher. Stand auch in der Zeitung“, sagte Apollon mit einem besorgten Blick nach oben.
„Seit wann liest du denn die Zeitung?“, fragte Dionysos. „Ist doch langweilig.“
„Man muss wissen, was in der Welt vor sich geht. Nur der gut informierte Mann kann erfolgreich sein. Ich will mal erfolgreich sein.“
Dionysos musste lachen. „Wie? Erfolgreich? Meinst du reich sein?“
„Das ist dasselbe.“
Ihre Blicke begegneten sich. „Nein, ich glaube nicht, dass das dasselbe ist“, sagte Dionysos.
Sie schwiegen und ließen sich von den restlichen Sonnenstrahlen wärmen als plötzlich wieder ganz in ihrer Nähe laut ein Ast knackte. Dieses Mal hörten beide die Schritte, die sich ziemlich deutlich nach Menschenfüßen anhörten.
Dionysos hatte eine Idee: „Los! Schnell auf den Hochstand.“
In gebückter Haltung liefen sie die zwanzig Meter bis zu ihrem Versteck. Das Werkzeug und den Rest ihres Vespers ließen sie zurück. Auf der Leiter nach oben mussten sie sich durch viele Spinnweben und verirrte Äste kämpfen, die ihnen in den Haaren hängen blieben und ihre Gesichter zerkratzten.
Keuchend oben angekommen blieben sie äußerst unbequem in der Hocke sitzen und lauschten. Wieder nichts. Sie begannen schon über sich selbst zu lachen und wollten gerade wieder den Abstieg wagen als die Schritte wieder begannen. Apollon schloss die Augen. „Oh nein“, flüsterte er verzweifelt. „Er findet uns bestimmt hier oben.“
„Pssst! Sei still!“, zischte Dionysos, doch Apollon schien recht zu haben. Die Geräusche wurden allmählich lauter und kurze Zeit später schien jemand direkt unter ihnen zu sein.
Beiden Jungen pochte das Herz bis zum Hals während sie versuchten keinen Mucks von sich zu geben. Es war wieder still geworden. Dionysos versuchte die große, schwarze Spinne zu ignorieren die nur ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht saß. Die Leiter des Jägerstands begann zu knarzen. Jemand stieg nach oben. „Jetzt hat er uns!“, dachte Dionysos. Er erwartete das Schlimmste. Jeden Moment würde das rot angelaufene, wutentbrannte Gesicht von Orthos vor ihnen erscheinen.
Er schloss die Augen und hob die Arme schützend über seinen Kopf …
„Warum versteckt ihr euch vor mir?“
Es war aber nicht die zornige Stimme eines alten Mannes die diese Worte sagte, sondern eine lustige, weibliche. Dionysos öffnete die Augen und sah zum Eingang des Hochstands. Ein brünettes Mädchen stand auf der obersten Sprosse der Leiter; ein Bein frei in der Luft, wippte sie hin und her und sah die Jungen mit großen Augen an. Dionysos schätzte, dass sie etwa in ihrem Alter war …
„Ach, Sophia!!“, rief schließlich Apollon. „Bist du uns die ganze Zeit hinterher geschlichen? Mein Gott …“
Sophia lächelte. „Hab ich euch Angst eingejagt?“, fragte sie und lachte.
Apollon hatte sofort seine Fassung wieder gewonnen: „Ach was, wieso sollten wir denn vor dir Angst haben. HAA!“ Lässig ließ er sich auf den Sitz des Hochstands fallen und schlug die Beine übereinander. „Was schleichst du überhaupt ständig allein im Wald herum?“
„Ich bin nicht allein. Nur heute ausnahmsweise. Ich geh immer mit Anatole spazieren.“
„Wer ist Anatole?“
„Unser Hund, den kennst du doch! Vor dem du immer wegrennst, wenn du ihn siehst …“ Sie lachte erneut. Dionysos starrte sie immer noch wie gebannt an. Erst jetzt hatte er sie erkannt. Sie war Apollon’s Nachbarin und eine Klasse unter ihnen. Schon häufiger hatte er sie gesehen doch noch nie war ihm aufgefallen wie hübsch sie war.
„Kann ich euch mit der Hütte helfen?“ Sophia sprach in vollem Bewusstsein davon, dass die beiden Jungen ihr diesen Gefallen – aus einem Grund den sie noch nicht wirklich verstand – auf keinen Fall verwehren würden. Apollon war sofort Feuer und Flamme: „Aber klar, natürlich! Ist doch kein Thema, oder Dionysos?“ Er blickte zum ersten Mal wieder hinüber zu seinem Freund, der immer noch wie unter einem Bann zu stehen schien. „Hallo? Dionysos? Bist du noch da?“
„Sie? … uns helfen? Mmhh … wieso nicht!?“
„Alles okay bei dir?“, fragte sein Freund. „Du siehst irgendwie seltsam aus.“
„Ja, ja … war gerade nur … egal!“ Dionysos wurde rot. Er spürte, dass Sophia ihn eindringlich ansah und er versuchte ihrem Blick aus dem Weg zu gehen.
„Du bist Dionysos. Ich kenne dich“, sagte sie leise. „Ich hab dich schon ein paar Mal vor Apollon’s Haus gesehen. Unseres ist direkt daneben.“
„Ah … ok.“ Immer noch vermied er es sie anzusehen.
Apollon stand auf. „Also, dann lass uns nach unten gehen und weiter machen. Wenn du uns hilfst schaffen wir es vielleicht sogar noch heute fertig zu werden.“
„Au ja!“, rief sie freudig heraus und sprang galant von dem morschen Hochstand hinunter.
Dionysos sah den Bewegungen ihrer Glieder und dem Wehen ihrer Haare zu. Völlig hingerissen von ihrer neuen Begleiterin wäre er fast von der Leiter gefallen.
Doch mit Sophias Eintreffen schien sich der Bauprozess eher zu verlangsamen. Apollon begann ihr zuerst den kompletten Plan in all seinen Einzelheiten zu erklären und war danach mehr daran interessiert, ihr für jeden noch bevorstehenden Arbeitsschritt das nötige Know-How mitzugeben als selbst weiterzuarbeiten.
Dionysos verbrachte ebenfalls mehr Zeit damit Sophia zu beäugen. Er versuchte zwar den Rest des Dachs zu befestigen, doch irgendwie schien ihm nichts mehr zu gelingen. Seine Bewegungen kamen ihm ungelenk und tölpelhaft vor; ständig ließ er den Hammer fallen und sah zu ihr und Apollon, ob sie seine Dummheit bemerkt hatten.
Gegen vier Uhr begann es zu regnen und die drei packten ihre Sachen zusammen. Das Dach stand, doch klafften noch große Lücken in den Außenwänden. Sie würden noch mindestens einen weiteren Tag brauchen.
Dionysos stand nur ein paar Zentimeter hinter Sophia als sie von ihrer Hütte hinabstiegen. In seine Nase stieg ein angenehmer, noch nie zuvor wahrgenommener Duft. „Waren es frische Blumen, die sie in ihrem Haar versteckt hatte?“, fragte er sich später.