Читать книгу Der gefesselte Dionysos - Patrik Knothe - Страница 9
II
ОглавлениеCirca sechs Monate später verbreitete sich die Nachricht, dass Xenia einen Jungen bekommen hatte. Er hieß Dionysos und schien ihr wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein. Nur die rabenschwarzen Haare hatte er von seinem Vater.
Wenn man diese Zeilen gelesen hat und gleichzeitig an die Geschichten denkt, die über Dionysos kursieren, fällt es einem schwer zu glauben, dass er aus solch einem friedlichen und ruhigen Dorf kam. Aber was sind das auch für Geschichten!? Eine ganze Zeit lang schien er an allem schuld zu sein: Eine Tankstelle wurde ausgeraubt – das kann nur Dionysos gewesen sein; ein Telefonmast zerstört – bestimmt der randalierende Dionysos; Hühner gestohlen – Dionysos; Wahlen manipuliert – vielleicht … Dionysos?
Die Liste kann unendlich fortgesetzt werden.
Seine ersten Lebensjahre ließen auch gar nicht darauf schließen was einmal aus ihm werden sollte.
Er war ein kleines Kind wie alle anderen, weder zurückgeblieben noch außerordentlich talentiert. Die einzige Besonderheit die damals auffiel war seine extreme Ruhe, die Dionysos wahrscheinlich von seiner Mutter hatte. Dennoch machte sich Xenia des öfteren Sorgen, wenn sie in der Nacht manchmal stundenlang nichts von ihm hörte. Sie eilte oft wie von einem stummen Ruf geweckt an seine Wiege, nur um sich zu vergewissern, dass er noch atmete. Abgesehen davon war Dionysos ein unkompliziertes, liebenswürdiges Kind, das den ganzen Tag mit seiner Mutter im Freien zubrachte und dabei mit seinen Spielzeugautos die Wiesen, Straßen und Gehwege rauf und runter rannte.
Er hatte auch schon einen Freund gefunden. Den ein paar Straßen weiter wohnenden und nur einige wenige Monate älteren Apollon. Jeden Morgen gingen die beiden mit Xenia und Leto, Apollons Mutter, zusammen auf den Spielplatz oder in den kleinen, aber dennoch sehr hübsch hergerichteten Park. Abends trafen sich die Familien zum Grillen und die Kinder spielten in ihrem Sandkasten.
Diese Idylle in Dionysos Leben hielt an bis er in die Schule kam. Während der ersten Wochen war er noch durchaus begeistert was ihn dort erwarten würde. Er freute sich darauf zu lernen, wenn er auch bereits durch seine Mutter sehr gut lesen und schreiben konnte. Doch kurze Zeit nach der Einschulung begann er sich zu langweilen und fing an den Unterricht zu stören. Sein Sitznachbar Apollon dagegen war bei allen Lehrern beliebt und wurde mit Lob überhäuft, vor allem weil er ein so ausgezeichnetes Talent für die Mathematik zu haben schien. Dionysos verstand nicht, wenn er es auch nicht in Worte verpacken konnte, was er in dieser Schule eigentlich tun sollte. War er nur dort um den Lehrern zu gefallen? Xenia arbeitete von nun an wieder sporadisch beim Film was den kleinen Jungen noch mehr verbitterte.
„Warum gehst du immer weg, Mama?“, fragte er sie einmal. Xenia nahm ihn daraufhin in den Arm und sagte: „Auch ich muss arbeiten gehen, mein Lieber. Meine Arbeit macht mir Spaß und du bist jetzt schon ein so großer Junge, dass du es ja bestimmt auch mal ein paar Stunden ohne mich aushältst, oder?“ Sie gab ihm einen Kuss. „Außerdem bin ich ja nur ganz selten weg … und Papa und Oma und Opa sind ja auch noch da.“ –
„Aber wieso muss ich in die Schule gehen? Ich mag es dort nicht … die Lehrer mögen mich nicht …“ Er fing an zu weinen und seine Mutter drückte ihn sanft an ihre Brust.
„Jedes Kind muss in die Schule gehen. Es ist wichtig, dass du viel lernst … denn wenn du viel lernst wirst du es später, wenn du ganz groß bist, einmal sehr schön haben. Und zu den Lehrern musst du nett sein … dann sind sie auch nett zu dir. Sollen wir nach unten gehen und Papa zuhören wie er spielt?“ Das Gesicht des Jungen hellte sich auf. „JA!!“ – „Na, also komm mein Schatz.“
Xenia war von einem entzweienden Schmerz ergriffen. Einerseits wollte sie weiter voll für ihren Jungen da sein und ihm all die Liebe und Sicherheit schenken die er brauchte und andererseits wieder gerne als Set-Dekorateurin arbeiten. Sie und Petros waren damals nicht, wie so viele andere Familien, in der Notlage, dass beide Elternteile Geld verdienen mussten.
Als sie einige Wochen später von der Arbeit nach Hause kam und Dionysos sah, der verträumt neben dem Klavier ihres Mannes saß und seine kleinen Händchen über den weichen Teppich gleiten ließ, beschloss sie, vorerst nicht mehr beim Film zu arbeiten.