Читать книгу Der gefesselte Dionysos - Patrik Knothe - Страница 20

XIII

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Mit stechenden Schmerzen im Kopf kam Orthos langsam wieder zu Bewusstsein. Instinktiv wollte er sich an die pochende Stelle greifen doch er konnte sich nicht rühren. Auch sehen konnte er nichts. Irgendetwas war auf seinen Augen. Laub knisterte unter seinem Gewicht und mit seinen gefesselten Händen konnte er den Baum fühlen an den man ihn gebunden hatte. Auch der Geruch kam ihm bekannt vor. Er musste im Wald sein.

„HEEEEE! HALLO!?“, schrie er in die Stille hinein doch es kam keine Antwort. Nur das leise Rascheln der Bäume im Wind war zu hören. Er bekam Angst. Was ging hier vor? Wer hatte ihn hierher verschleppt. Waren es vielleicht gar nicht die Kinder die ihn aufs Kreuz gelegt hatten, sondern jemand anderes der ihm etwas schlimmes antun würde?

„HALLO???“, rief er erneut mit verzweifelt krächzender Stimme. Eine gute halbe Stunde lag er so da; gefesselt an einen Baum, allein im Wald. Seine Rufe wurden immer lauter. Er wandte sich in alle Richtungen; bäumte sich auf, doch die Seile waren zu stark.

Plötzlich vernahm er Schritte auf dem Waldboden; langsame Schritte von vielen Füßen.

Panik kroch seinen Rücken hinauf und ließ ihn zittern.

„Wer ist da? WER IST DA? Lasst mich frei … Was wollt ihr?“ Er wimmerte beinahe schon. Alle Ereignisse der letzten Tage kamen ihm wieder wie ein harter Schlag ins Gedächtnis. Auch die grausamen Fangarme der Dämonen und ihre finsteren, rot glühenden Pupillen erschienen vor seinem geistigen Auge.

„Hört auf! Bitte hört auf!“, schrie er.

Es trat wieder Stille ein. Doch auf einmal war jemand ganz nah bei ihm. „Hör auf!! LASS MICH IN RUHE! BITTE! HÖR AUF!“

Orthos spürte Hände auf seinem Gesicht. „LASS MICH LOS!“

Man nahm ihm Augenbinde ab und vor ihm eröffnete sich ein Bild wie er es Zeit seines Lebens nie mehr vergessen würde: zehn bis zwölf Gestalten standen zwischen den dichten Bäumen, in weiten, schwarzen Kutten, die Kapuzen weit ins Gesicht gezogen und alle mit lodernden Fackeln in den Händen. Es war ziemlich dunkel obwohl es erst Mittag war. Man musste ihn tief in den Wald geschleift haben. Um ihn herum war ein hoher Haufen aus Ästen und Heu gelegt worden. Seine Augen weiteten sich erneut vor Schreck.

„Was habt ihr vor? Bitte lasst mich frei! Lasst mich frei!“ Tränen der Angst liefen an seinen Wangen herab. Er sah zu der Gestalt neben ihm, die ihm die Binde abgenommen hatte und sein Herz blieb beinahe stehen: Das Gesicht unter der Kapuze war pechschwarz, doch das war noch nicht das Schlimmste. Es waren die Augen: schwarze, ausdruckslose Löcher.

Orthos schrie. Hatten sich seine Albträume bewahrheitet? Würden ihn die Dämonen heute kriegen?

„RUHE!“, rief plötzlich eine der Gestalten. Orthos erkannte nun, dass auch die anderen alle schwarze Gesichter hatten. Als die Stimme fortfuhr zu sprechen, wimmerte er nur noch leise vor sich hin.

„Der hier anwesende Orthos wird folgender Verbrechen für schuldig befunden: Er hat ohne ersichtlichen Grund, nur aus Lust an der Grausamkeit die Kinder von Delphi geschlagen, getreten, ihnen Angst gemacht, sie angebrüllt, eingeschüchtert und gedemütigt. Dazu kommt noch, dass er seine Familie, insbesondere seine Schwester wie den letzten Dreck behandelt und auch gegen sie die Hand erhoben hat. Das Gericht von Delphi hat entschieden, dass es auf der ganzen Welt keine erbärmlichere, schlimmere und bösere Kreatur als diese gibt.

Deswegen verurteilen wir ihn zum Tode durch den Scheiterhaufen. Möge Gott seiner armen Seele gnädig sein. VOLLSTRECKEN!“

Fünf der in den Kutten Vermummten traten hervor. Langsam gingen sie im Gleichschritt auf Orthos zu der wie am Spieß zu schreien begann.

„NEIN! HÖRT AUF! HÖRT AUF!“ Als die Fünf sich im Kreis um ihn verteilt hatten bewegten sich ihre Fackeln auf den Holzhaufen zu.

„ICH MACH NIE MEHR WAS!“, schrie er weiter. „ICH LASS DIE KINDER IN RUH’! AUCH MEINE SCHWESTER. HÖRT AUF! NIE MEHR TU ICH JEMANDEM WAS!“

An einigen Stellen flammte das Heu auf und Rauchschwaden stiegen nach oben. Orthos fühlte bereits die Hitze des Feuers. Immer lauter und flehender wurden seine Schreie doch die fünf Gestalten schürten weiter das Feuer bis beinahe der komplette Kreis um ihn herum in Flammen stand.

„ICH SCHWÖRS! NIE MEHR! ICH SCHWÖRS!“ Orthos schloss die Augen und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Sie schienen es tatsächlich ernst zu meinen … die Dämonen hatten ihn erwischt.

„GENUG!“, rief wieder die Stimme von vorhin.

Als nächstes hörte er Zisch- und Dampfgeräusche. Das Feuer wurde gelöscht und die fünf die es angezündet hatten wichen vor ihm zurück. Es herrschte wieder Stille.

Orthos war von oben bis unten durchgeschwitzt und wäre beinahe wieder ohnmächtig geworden.

Die bekannte Stimme meldete sich wieder: „Das nächste Mal nehmen wir kein Wasser mit.“

Wieder ging einer der Vermummten auf Orthos zu, doch dieses Mal wurden seine Fesseln an den Händen durchgeschnitten. Er war nur noch mit dem Bauch an den Baum gebunden. Man warf ihm ein Messer vor die Füße und danach rannten die Gestalten in den Kapuzen in die Tiefen des Waldes hinein.

Es war schon später Nachmittag als Orthos wieder die Kraft hatte seine Fesseln durchzuschneiden. Lange hatte er dagelegen und nachgedacht. Beim Aufstehen versagten jedoch seine Beine ihren Dienst und er fiel wieder auf den Waldboden. Seine schweißnassen Klamotten ließen ihn inzwischen frieren und immer noch pochte sein Schädel unbarmherzig vor Schmerzen.

Er brauchte eine gefühlte Ewigkeit bis er wieder das heimische Grundstück erreichte und war glücklich auf dem Weg niemanden begegnet zu sein. Doch ihm graute davor durch die Haustür zu schreiten. Er wusste was er darin vorfinden würde und was er zu tun hatte: Seine Schwester um Verzeihung bitten! Die Garage war noch leer, also musste Minos immer noch auf dem Feld sein und somit hatte er vielleicht die Chance Galateia zu besänftigen, so dass ihr Mann nie etwas von seiner Ohrfeige erfahren würde. Denn dann hätte er mit Sicherheit alle Karten verspielt und müsste in einem Obdachlosenheim oder auf der Straße leben.

Er fand seine Schwester mit verquollenem Gesicht im Wohnzimmer sitzen, das dunkelblonde Haar komplett zerzaust. Erwartungsvoll und leicht ängstlich sah sie ihn an. Orthos öffnete den Mund, doch – nichts. Er schaffte es nicht seiner Stimme einen Laut zu entlocken. Wieder fingen seine Beine an zu zittern und plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen. Er senkte seinen Blick. Orthos konnte es nicht zulassen, dass man seine Tränen sah. Und er konnte auch nichts sagen; nur mit verkrampften Händen vor ihr stehen und auf den Boden schauen, unfähig einen Weg zu finden seiner Schwester das Vorgefallene zu vermitteln. Auf einmal kam ihm seine Idee sich zu entschuldigen endlos dumm vor. Er wusste, dass es seine endgültige Niederlage sein würde, wenn er jetzt hier vor ihr auf den Boden stürzte, in Tränen ausbrach und sie um Verzeihung bat. Hätte sein Großvater Kerberos jemals so etwas getan? Allein die Vorstellung war lächerlich. Ja, vielleicht hatten ihn die Kinder besiegt aber nicht auch noch seine Schwester; alle nur nicht sie. Lieber würde er auf der Straße leben als seine Würde auch noch vor ihr zu verlieren.

Ihr Schweigen irritierte ihn. Normalerweise hätte sie ihn schon mit Fragen bombardiert: Wo er denn gewesen war, wieso er so dreckig sei, woher er die Wunde am Kopf hatte usw., usf. – Doch die Fragen blieben aus. Sie saß immer noch da und sah ihn an; inzwischen nicht mehr ängstlich, sondern enttäuscht und – zum ersten Mal überhaupt – mit einem Hauch von Verachtung.

Orthos sagte nichts weiter. Er senkte den Blick und verließ das Wohnzimmer.

Der gefesselte Dionysos

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