Читать книгу Der gefesselte Dionysos - Patrik Knothe - Страница 13

VI

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Als Dionysos am Tag darauf erwachte, regnete es in Strömen. Am Baumhaus würden sie heute nicht weiterbauen können und so würde er auch Sophia wahrscheinlich nicht zu sehen bekommen. Den ganzen Morgen lag er im Bett und dachte an den süßen Blumenduft, der ihn noch ein paar Stunden zuvor umwitterte. Nie gesehene Bilder und nie gehörte Melodien machten sich in seiner Seele breit; begleitet von einem seltsamen Gefühl in der Magengegend, dass er nicht einordnen konnte. Er wusste nur, dass es auf seltsame Weise mit diesem Duft zusammenhing. Mit seiner Gitarre konnte er sich nicht ablenken. Nach ein paar müden Akkorden stellte er sie in den Ständer zurück, doch dabei sprang eine merkwürdige Begebenheit aus seinem Gedächtnis hervor, die sich einige Jahre früher ereignet hatte.

Es war ein grauer, nasser Morgen wie dieser. Xenia rief ihn zum Frühstück und offenbarte ihm, dass sie heute mit allen zusammen einkaufen gehen würde.

Dionysos stöhnte während er gleichzeitig versuchte, das Brüllen seiner beiden Schwestern zu ignorieren. Die Familie war damals gerade auf fünf Mitglieder angewachsen. Eirene, die jüngste, noch fast ein Säugling, schrie nach frischen Windeln und Thalia nach mehr Kakao.

Dionysos konnte es nicht ausstehen einkaufen zu gehen. Es hätte ihm nicht so viel ausgemacht, wenn alles in einem kleinen Laden um die Ecke innerhalb von 20 – 30 Minuten hätte erledigt werden können. Aber solch einen Laden gab es in Delphi nicht und sie mussten ins zwölf Kilometer entfernte Tartaros fahren.

Die Hektik der Stadt machte ihm am meisten zu schaffen. Alles war voll mit Menschen, von denen ein jeder den Anschein machte, er würde gerade etwas verpassen. Man lief, rannte und eilte wild durcheinander während man andere anstieß und wieder andere einen anrempelten. Es musste alles schnell gehen: Beim Parken, Bezahlen, Preise vergleichen usw., usf.

Für Dionysos war dieses ganze Schauspiel ein großes, apokalyptisches Rennen ohne Ziel. Etwas, dem man sich eben anpassen musste wenn man in den Straßen sein Glück finden wollte. Oder etwa nicht?

Er nahm nicht einmal die neuen Hosen und die Schuhe wahr, die Xenia für ihn kaufte. „Ist gut“, war seine Antwort auf alle Kleidungsstücke die sie ihm zeigte. Bis zum späten Nachmittag stand er teilnahmslos neben seiner Mutter und Thalia, die scheinbar gar nicht genug Klamotten anprobieren konnten.

Nachdem die drei – Eirene blieb derweil bei ihrer Großmutter in Delphi – jedoch vor einem Musikgeschäft Halt gemacht hatten in dem gerade ein erfahrener Schlagzeuger sein Können zum Besten gab, änderte sich Dionysos’ Laune schlagartig.

Eine kleine Menschenmenge von vielleicht 15 Leuten hatte sich um das Schaufenster des Geschäfts versammelt und alle lauschten den schnellen Samba-Rhythmen.

Es war ein älterer Mann, vielleicht Anfang 60, der hinter den Trommeln saß und aussah, als hätte er nie im Leben etwas anderes getan als Schlagzeug gespielt. Seine Augen waren geschlossen. Der Mund zu einer seltsamen Grimasse verzogen die so gar nicht in den hektischen Stadtbetrieb passte. Sein Spiel schien ohne Überlegung direkt aus ihm heraus zu fließen.

Dionysos war perplex vor Ehrfurcht und Faszination. Er sah die anderen Menschen um ihn herum an. Alle hatten ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht, schienen aber seltsam peinlich berührt von den Grimassen des Schlagzeugers, die im Sekundentakt wechselten. Der Rhythmus ging auf Dionysos Beine über. Er hatte das Gefühl nur er verstünde wirklich, was im Moment in diesem Musiker vor sich ging. Alle anderen waren nur unbeteiligte Zuschauer, die niemals das Geheimnis entschlüsseln, niemals das Band verstehen würden, dass zwischen ihm und dem Mann geknüpft war. Ganz intuitiv begann er mit Kopf und rechtem Fuß mit zu wippen.

Xenia lächelte ihn an. „Wir wollen noch schnell rüber auf die andere Straßenseite in den Supermarkt und Milch holen. Wenn du magst, darfst du hier bleiben und zuhören bis wir wieder da sind.“

„… will ich!“

„Also gut. Aber sei brav lauf nicht weg.“

Sie gab ihrem Sohn noch einen Kuss auf die Wange den Dionysos jedoch gar nicht mehr wirklich spürte. Er hielt sich noch im Zaum bis seine Mutter außer Sichtweite war, dann begannen seine Bewegungen heftiger zu werden und sein ganzer Körper folgte den Trommeln.

Wie der Schlagzeuger schloss er die Augen. Er bewegte sich schnell nach vorne und nach hinten, nach rechts und links. Langsam entwickelte sich eine Art Tanz. Die anderen Zuschauer, die nun schon mehr auf Dionysos als auf den Schlagzeuger starrten, hatte er verdrängt und vergessen. Er nahm nicht einmal war, dass man ihn bereits auslachte. Wild sprang er im Takt umher, vergessend dass er in Tartaros war, dass seine Mutter ihn gleich sehen würde, dass es „sich nicht gehörte“, was er gerade tat, ja überhaupt, dass es einen Dionysos gab.

„Wo sind denn seine Eltern?“, fragte einer der Passanten.

„So wie der ausrastet liegen sie wahrscheinlich aufm Sofa und saufen. Hehe … trinken einen auf ihren Geldgeber … den Steuerzahler … hehe …“, antwortete ein anderer.

Eine füllige Frau mit kurzen blonden Haaren ging schließlich auf den Jungen zu.

„Hör mal du … wo ist denn deine Mama?“ Dionysos schien sie nicht zu bemerken. Ebenso wenig hatte der Schlagzeuger Notiz von dem Schauspiel genommen das sich vor dem Laden abspielte. Gnadenlos donnerten seine Schläge weiter. Inzwischen war Dionysos dazu übergegangen im Kreis zu tanzen, als sähe er ein Feuer, dessen Flammen er mit seinen Bewegungen in den Himmel schicken wollte.

Die blonde Frau packte schließlich seinen Arm um ihn zur Besinnung zu bringen. Das war es jedoch nicht was ihn aus seiner Trance erwachen ließ, sondern nur einen Augenblick davor der laute Schrei von Xenia. Sie kam gerade mit Tüten vollbeladen aus dem Supermarkt und hätte sie beinahe wieder fallen lassen als sie sah was ihr Sohn mitten in der Fußgängerzone veranstaltete.

Eben jener Schrei ließ auch zum ersten Mal den Schlagzeuger aufhorchen, der daraufhin einen Blick aus dem Schaufenster warf und abrupt aus dem Takt fiel.

„Warum hast du mich vorhin so angeschrien, Mama? Ich hab doch nichts Verbotenes gemacht“, fragte Dionysos später im Auto nachdem er lange geschwiegen hatte.

„Nein, es ist nicht verboten. Aber manche Dinge soll man einfach nicht tun. Und das gehört dazu! Man darf sich vor anderen Leuten nicht so aufführen, sonst respektieren sie einen nicht mehr.“ Xenia war sich durchaus bewusst, dass ihr Sohn nichts schlimmes getan hatte und doch wollte sie ihn davor bewahren, sich nochmal öffentlich so aufzuführen. Sie dachte an sich selbst. Sie kannte die Menschen …

„Wieso nicht?“

„Du hast doch gesehen wie sie dich ausgelacht haben; das willst du doch nicht, oder?“

Er schwieg den Rest der Fahrt. Zu Hause angekommen warf er seine neuen Sachen aufs Bett und spielte bis zum Abendessen Gitarre …

Mit einem Lächeln auf den Lippen strich er über die Saiten. „Aus welchem Grund klappte es heute nicht sich mit der Musik abzulenken, so wie damals vor dem Geschäft; ja einfach so in die Musik hinein zu gleiten und sich zu verlieren?“, fragte er sich schließlich immer noch auf dem Bett liegend. Etwas noch kraftvolleres hatte sich seiner bemächtigt …

Der gefesselte Dionysos

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